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Auf einem Tisch, in einem in Felsen gehauenen Raum, standen brennende Kerzen. Manche waren schon sehr weit herunter gebrannt, andere sahen aus, als wären sie gerade erst angezündet worden. Kein Luftzug bewegte die Flammen, die den Raum wärmer aussehen ließen, als er tatsächlich war. Auf kleinen Felsvorsprüngen standen die Kerzen dicht an dicht und auch auf dem Boden fanden sich Hunderte von ihnen. Der sich leicht kräuselnde Rauch hatte die Decke schwarz gefärbt. Das Grau des Felsens war mit einer dicken Schicht Ruß bedeckt.

Ein runder Raum, der immer größer zu werden schien, je länger man in die Mitte blickte. Und mitten drin dieser alte Tisch. Kaum konnte er sich auf seinen vier Beinen halten und kein Stuhl zierte seine Seiten. Das helle Wachs tropfte über die Tischränder und an den Wänden herunter auf den Boden. Wer genauer hinsah, konnte ganze Landschaften darin entdecken. Man hätte es fast schön nennen können, wenn es nicht auch ein wenig unheimlich gewesen wäre.

Fasziniert stand Sunny in dem dunklen Bogengang und blickte in den Raum. Sie konnte die Kerzen nicht zählen aber es schien ihr, als würden immer neue wie von selbst hinzugefügt werden. Manche brannten ab und verschwanden als wären sie nie da gewesen. So viele Flammen und doch war der Raum dunkel. Es roch nach Kerzenwachs und abgebrannten Dochten, nach Ruß und nach noch etwas, was Sunny nicht identifizieren konnte. Aber ihre Haare stellten sich automatisch im Nacken auf und ein Gefühl der Unruhe glitt ihr über die schmalen Schulterblätter den Rücken hinunter. Wie war sie hier her gekommen? Sie strengte ihren Kopf an aber ohne Erfolg. Fast wütend warf Sunny ihre schwarzen Haare nach hinten und ihre sonst so sanften braunen Augen blitzten als gewitterte es in ihnen. Sie hasste es die Kontrolle zu verlieren. Sie hasste Überraschungen und das hier war wohl eine der schlimmsten Kontrollverluste. Sie wusste nicht mal wer sie hier her gebracht hatte und vor allem warum!

Ein Schatten ließ sie in den hinteren Teil des Raumes blicken. Ein Schatten der mindestens doppelt so groß war wie sie selbst. Ein Schaudern durchfuhr Sunny. Wer oder was mochte das sein? Sie rief laut in die Dunkelheit:

„Hallo? Wer sind Sie?“

Stille dröhnte in ihren Ohren. Nicht mal das kleinste Geräusch war zu vernehmen. Selbst ihre eigene Stimme konnte sie nicht hören.

Ihre Augen wurden größer, sie versuchte die Gestalt besser zu sehen doch es gelang ihr nicht. Dafür hätte sie in den Raum gehen müssen. Sie versuchte noch einmal die Gestalt zu rufen:

„Hey Sie, hören sie mich?“

Und wieder war nichts zu hören. Sunny fing an zu zittern. Ihre Angst wuchs mit jedem Versuch den sie unternahm, sich bemerkbar zu machen.

Um ihre Furcht zu überspielen legte sie Wut in ihre Stimme. Ein verzweifelter Versuch so tonlos wie sie war.

„Hallo? Was ist los? Warum höre ich hier nichts und warum bin ich hier?“

Das leichte Quietschen und den zittrigen Unterton in ihrer Stimme nahm sie selbst nicht wahr. Um nicht völlig tatenlos rumzustehen, bewegte sie sich ganz langsam auf den Bogen zu, der den Raum von dem Gang trennte, in dem sie stand. Sie fühlte die Wärme, die von den Kerzen ausging, auf ihren Wangen. Das Licht der Flammen spiegelte sich in ihren samtenen Augen wieder. Sunny überschritt die Schwelle und näherte sich den ersten Kerzen. Es war ihr, als hätte sie mehr als nur eine einfache Türschwelle überschritten, es kam ihr vor als würde hier über ihre Zukunft bestimmt und sie könnte nicht zurück. Sie sah in die Flammen und erblickte überrascht ein leuchtendes Gesicht. Es war ihr völlig fremd und dennoch hatte sie das Gefühl es zu kennen. Irgendetwas kam ihr darin vertraut vor. Sie ging weiter und jede der Kerzen leuchtete ein Gesicht statt einer normalen Flamme. Manche lächelten und andere wieder sahen sehr traurig aus. Aber alle schienen etwas gemeinsam zu haben. Und alle sahen sie an. Es wurde immer schwieriger zwischen die Kerzen zu treten, so eng standen sie aneinander. Nun musste sie auch aufpassen, dass sie nicht ihre Kleidung ansengte. Sie blickte zwischendurch auf aber irgendwie kam sie dem Tisch nicht näher und damit nicht dem Schatten den sie weit dahinter ausgemacht hatte. Umringt von lichthellen Gesichtern trat sie unsicher zwischen die Wachshäufchen. Sie fühlte die Blicke in ihrem Rücken und wieder ließ die Angst sie erschauern. Merkwürdig war, dass sie zwar die Wärme fühlte, diese jedoch nicht stärker wurde, je näher sie den Kerzen kam. Keine wirkliche Hitze stieg auf. Neugierig streckte sie die Hand nach einer der Flammengesichter aus. Das Gesicht zuckte zurück und sah fast panisch auf den sich nähernden Finger. Sunny schaute auf den Mund, der aussah als würde er schreien. Die Augen starrten Sunny an und schienen zu sagen:

Tu mir nicht weh!

Sie zog die Hand wieder zurück aber eines hatte sie deutlich spüren können; die Flammen waren zwar warm aber die Finger konnte sie sich nicht an ihnen verbrennen. Sie rief noch einmal und fuchtelte wild mit ihren Armen um sich bemerkbar zu machen:

„Hallo, können Sie mich denn gar nicht hören oder sehen? Hier bin ich, so helfen sie mir doch!“

Eine Erinnerung flackerte in ihr auf. Sie sah sich selbst an einer Bushaltestelle sitzen, es war kalt und sie fror ganz fürchterlich. Geschäftiges Treiben war um sie herum. Menschen liefen über die Straße und hatten volle Einkaufstüten in den Händen. Autos fuhren Stoßstange an Stoßstange über vereiste Straßen.

Sie hielt in ihrem Schritt inne. War sie dem Tisch tatsächlich näher gekommen? Sie konnte die Maserung des Holzes erkennen. Bildete sie sich das nur ein? Sunny schaute sich um. Der Ausgang schien nicht weiter gerückt zu sein. Sie schüttelte diesen Gedanken ab. Was sollte der Unsinn? Sie träumte wohl mit offenen Augen. Sunny suchte den nächsten Platz wo sie ihren Fuß hinsetzen konnte ohne die Kerzen umzuwerfen. Wieder einen Schritt weiter dachte sie erleichtert. Bilder liefen in ihrem Kopf ab. Sie war immer noch an der Bushaltestelle. Im Gegensatz zu den Passanten, trug sie keine so dicke Jacke und nur dünne Stoffschuhe. Ihre Haare waren mit Schnee bedeckt und um ihre Wimpern hatte sich Eis gelegt. Niemand sah zu ihr hin und wenn es doch einer tat, schaute er schnell wieder weg. Traurigkeit lag in ihren Augen. Sie verstand diese Erinnerung nicht aber es waren eindeutig ihre. Die leuchtenden Gesichter um sie herum sahen sie nachdenklich an und sie konzentrierte sich wieder darauf zum Tisch vorzudringen. Sie wusste nicht warum aber irgendwie war ihr klar, dorthin musste sie, um mehr zu erfahren. Mehr über sich und über den Umstand, warum sie hier war. Sunny hatte zierliche Füße aber sie fand selbst mit diesen schmalen kleinen Füßen kaum noch einen Platz zum gehen. Als sie nach unten sah, bemerkte sie erst jetzt die Tropfen von Wachs auf ihren Zehen. Sie hatte sie nicht gespürt also waren sie auch nicht heiß.

Sunny bückte sich und berührte das Wachs mit ihren Fingern. Es fühlte sich samtig an, gar nicht kalt oder heiß. So wie der Schal, den ihr ein Fremder im Vorrübergehen geschenkt hatte. Sie erinnerte sich deutlich. Es war ein ihr völlig Fremder gewesen. Er sprach sie an und sie hatte ihn angelächelt. Sunny fühlte das Gefühl der Erinnerung und als sie sich wieder aufrichtete, sah sie vor sich den Tisch. Er war höchstens noch zwei Meter von ihr entfernt. Nun konnte sie schon die kleinen Wachstropfen erkennen, die an den Kerzen herunter flossen. Sie bildeten kleine Wachsseen und an der Kerze sahen sie aus, wie Gebirge oder Wolkenkratzer. Manche machten den Eindruck von Bauernhöfen und Tieren. Aber das bildete sie sich sicher auch ein. Vielleicht schlief sie ja wirklich. Ihr war nicht wohl bei der Sache und als sie hinter den Tisch blickte, sah sie die dunkle Gestalt. Der dunkle Schatten war näher gekommen. Sunny gab die Hoffnung nicht auf, dass derjenige sie vielleicht doch hören konnte und fing noch einmal an lautlos zu rufen. Sie fühlte sie rief, aber sie konnte sich selber immer noch nicht hören. Es war das Seltsamste was sie je erlebt hatte.

„Hallo Sie! Ja Sie da hinten im Schatten, wenn Sie mich hören winken Sie doch bitte.“

Sunny war verzweifelt. War sie vielleicht stumm? Konnte sie nicht mehr reden? Und war der Tisch nicht gerade noch höchstens zwei Meter von ihr entfernt gewesen? Nun waren es mindestens zehn! Sie konnte einfach nicht glauben was hier passierte. Und wieder überkam sie eine Erinnerung. Ein Mann stand vor ihr und ein Lächeln strahlte förmlich über ihr Gesicht. Er lud sie zu einem heißen Kakao ein und gab ihr eine Gulaschsuppe aus. Sunny löffelte sie tief befriedigt und fühlte wie sie wärmte. Von ihren Wimpern tropfte Tauwasser. Der Mann nahm ihre Hand und sah sie freundlich an. Doch sie stand abrupt auf und stieß dabei den Stuhl um. Sunny sah sich zur Tür laufen und der Mann schrie etwas hinter ihr her.

Ein kitzeliges Gefühl an ihren Beinen ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken. Als sie hinunter sah, war überall auf ihren Füßen und Waden Wachs. Es schien an ihr hinunter zu fließen. Aber das konnte doch nicht sein! Ihre Knie waren etwas steif, was sie auf das ungewohnte Staksen zwischen den Kerzen zurückführte. Sie versuchte das Wachs mit den Fingern abzustreifen, doch irgendwie wollte es ihr nicht gelingen. Es gab Wichtigeres was sie tun musste und sie sah wieder auf den Tisch, der nun genau vor ihr stand. Sie konnte ihn berühren! Sie fühlte das etwas raue Holz unter ihren Fingern. Es war sehr alt, das konnte sie sehen. Und er war unter den ganzen Kerzen blank poliert. Kein bisschen Staub lag darauf. Sie staunte nicht schlecht, als sie das sah. Sie hatte aus der Entfernung geglaubt, der Tisch wäre sicher seit langer Zeit nicht mehr geputzt worden, wegen der vielen Kerzen. Sie drückte sich am Tisch entlang um an ihm vorbei zu kommen.

Und wieder überfiel sie die Erinnerung. Sunny sah sich zur Tür hinaus rennen. Auf die völlig überfüllten Wege. Ein Schnürriemen riss und sie stolperte vor sich hin. Die Menschen um Sunny herum, sahen nur verständnislos auf sie herab. Sie fühlte sich so klein, so winzig klein und kauerte sich in eine Nische von dem Haus, in dem sie gerade noch so schön warm gesessen hatte. Es war, als könnte diese Hausmauer ihr Schutz bieten. Sunny sah die Menschen, ihre Gesichter, das Abgehetzte darin und die bösen Blicke, wenn jemand ihnen im Weg stand. Sie konnte nicht begreifen wie sie in dieser Jahreszeit so reagieren konnten. Es sollte doch die Jahreszeit der Liebe sein, der Besinnung und des Friedens! Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Sie wollte nach Hause, sie wollte zu ihrer Mutter und ihrer Schwester. Sie wollte sie einfach nur in den Arm nehmen und mit ihnen ein paar Stunden verbringen. Der Schmerz rollte über sie hinweg.

Sunny öffnete die Augen und sah, dass der Tisch schon hinter ihr war und der Schatten direkt vor ihr. Sie hätte nur die Hand ausstrecken brauchen. Er war groß und sehr dunkel und doch ging etwas wohltuend freundliches von ihm aus. Eine dunkle Hand streckte sich zu ihr hin und legte sich auf ihre Wange. Er wischte die Tränen fort und zeigte mit der andern neben sie. Ihre Blicke wandten sich um und sie sah das hell erleuchtete Gesicht ihrer Mutter und das ihrer Schwester. Beide sahen sie liebevoll an. Sie vernahm ihre Stimmen ohne dass sich ihre Lippen bewegten. In Sunny Herz wurde es durch die Flammen ihrer Gesichter so warm wie lange nicht. Sie schloss ihre Augen und genoss die Wärme, genoss das Gefühl geliebt zu werden. Sie sah den Schatten dankbar an und wollte ihm die Hand reichen. Sie konnte nicht!

Das Wachs hinderte sie daran. Verwundert nahm sie es zur Kenntnis, doch es war ihr egal. Sunny war klar, der Schatten wusste wie sie empfand und sie brauchte diese ganzen Gesten nicht mehr. So leuchtete sie mit aller Kraft und schaute friedlich in die ihr so vertrauten Gesichter.


Die Menschen liefen an dem Mädchen vorbei als würden sie es nicht sehen. Nur ein kleines Kind beugte sich zu der am Boden zusammen gekauerten Gestalt herab, sah ihr ins Gesicht und leise lief eine kleine heiße Träne über ihr Gesichtchen. Sie fühlte die Hand ihrer Mutter und sah wie diese einen Krankenwagen rief, wohlwissend dass es dafür längst zu spät war.

Das Lächeln auf dem Gesicht der Toten ging denen, die sie sahen, nie wieder aus dem Kopf und es wärmt auf ewig ihre Herzen.

Impressum

Texte: Alle Inhalte unterliegen dem Copyright von Sylvia Beyen.
Tag der Veröffentlichung: 07.09.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Eine Geschichte, gleichzeitig eine Theorie sowie ein Wunsch. Sie soll zum Nachdenken anregen.

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