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Erwachen

„Paul.“

Ein Rütteln an seiner Schulter.

„Paul, bist du wach?“

Wenn er ihn einfach ignorierte, würde er vielleicht verschwinden. Paul lag auf seiner Pritsche um einigermaßen Schlaf zu finden, und versuchte dabei krampfhaft die Augen geschlossen zu halten. Ben würde irgendwann schon aufgeben. Aber da kannte er seinen besten Freund offenbar schlecht!

„Paul, ich weiß, dass du wach bist“, hörte er Ben, und wieder rüttelte er an seiner Schulter. Dieses Mal stärker.

Eigentlich hatte es keinen Sinn, sich weiter schlafend zu stellen. Ergeben seufzte Paul und öffnete die Augen. „Benny, wieso schläfst du nicht einfach?“, murmelte er.

„Du kannst doch an deinem Ehrentag nicht einfach schlafen!“, meinte Ben vorwurfsvoll, und obwohl Paul ihm noch immer den Rücken zugedreht hatte, konnte er das Grinsen aus diesem Satz heraushören. So glücklich er zu Beginn auch war, mit seinem Freund in einer Einheit zu sein, so sehr verfluchte er diese Entscheidung jetzt.

„Ich habe nicht Geburtstag“, murrte Paul. Er drehte sich nun zu seinem besten Freund, der auf der gegenüberliegenden Pritsche saß und, wie zu erwarten war, triumphierend grinste.

„Aber in einer Stunde“, entgegnete Ben und tippte sich symbolisch auf die Stelle, an der eigentlich eine Armbanduhr sein sollte. „Du willst doch hoffentlich mit mir anstoßen?“ Es klang eher nach einer Aufforderung, als einer Frage.

„Äh, nein“, war Pauls knappe Antwort, ehe er sich wieder umdrehte.

Er hatte so gehofft, dass Ben es einfach vergessen würde, aber den Gefallen tat er ihm nicht. Es war Pauls erster Geburtstag während des Krieges, und er konnte nicht leugnen, dass es vielleicht auch der letzte sein könnte. Jeder Tag könnte der letzte sein, aber dies konnte und wollte er einfach nur verdrängen. Es war nun ein paar Monate her, seit Ben und Paul eingezogen worden waren, doch es kam dem jungen Landwirt bereits vor, als wären es Jahre. Anders als sein Kindheitsfreund Benjamin, war Paul widerwillig eingezogen worden. Ben hingegen war einer der ersten Männer gewesen, der sich freiwillig gemeldet hatte. Eigentlich war Paul nicht überrascht gewesen, so war der große blonde Benjamin auf dem Schulhof immer derjenige gewesen, der Pauls Nase vor der Faust eines Gegners beschützt hatte, wenn ein paar Halbstarke wieder an das Pausenbrot des kleinen Pauls wollten, und dieser es ihnen nicht gleich gegeben hatte. In diesen Momenten war Ben immer zur Stelle gewesen, egal, wo er sich gerade befunden hatte. Ben hatte immer einen Riecher dafür, wenn Paul in Schwierigkeiten gewesen war. In Pauls Augen war es auf merkwürdige Weise ziemlich heldenhaft, wie Ben ihn stets verteidigt und aufgemuntert hatte.

Er war froh, wenn der kräftige junge Mann an seiner Seite war, doch in diesem Augenblick wollte Paul einfach nur seine Ruhe haben.

„Du bist ein Spielverderber“, warf Ben ihm vor. Er mimte den Beleidigten. „Nur ein Schnaps, oder ein Bier – was auch immer du willst. Du kannst auch was Damenhaftes haben, wie einen Sekt zum Beispiel, aber es wird schwierig den aufzutreiben.“ Ben hielt in seinem Monolog inne und wartete ab, ob von Paul irgendetwas Passendes kommen würde. Außer einem tiefen Schnauben und einem Geräusch, das andeutete, dass er sich wieder umdrehte, kam nicht sonderlich viel – den darauffolgenden Vorwurf mal abgesehen.

„Benny, jedes Mal, wenn ich Geburtstag hatte, hast du mich aus meinem Zimmer gelockt und auf irgendein Fest geschleift. Und jedes Mal war ich derjenige, der dich wieder nach Hause tragen durfte“, erinnerte Paul ihn schelmisch.

Über Bens Gesicht zog sich ein breites Grinsen. „Das war doch toll, oder nicht? Mädels und Getränke bis zum Abwinken. Manch anderer würde es als wahrgewordenen Traum sehen“, erklärte er und schüttelte sogleich lachend den Kopf. „Paulchen, du bist undankbar.“

„Nein, ich bin müde, weswegen ich jetzt schlafen werde“, hielt Paul noch immer dagegen.

„Komm schon, Kumpel! Du warst noch nie ein Langschläfer der besonderen Sorte. Im Gegenteil. Früher, als wir unsere Spieleabende bei dir hatten, warst du immer der Letzte, der noch wach war. Ich weiß, wir sind nicht zu Hause im Wohnzimmer deiner Eltern, aber die Müdigkeit hat dich noch nicht heimgesucht. Du suchst nur nach einem Grund, damit du nicht Geburtstag feiern musst“, echauffierte sich Ben. „Ziemlich egoistisch wie ich finde. Immerhin hab ich schon mein hartverdientes Geld für ein paar Dosen Bier drauf gehen lassen.“ Augenblicklich zog er das besagte Getränk unter seinem Feldbett hervor. Woher er es hatte, wusste Paul nicht, aber im Grunde interessierte es ihn auch nicht.

Ben hatte es mal wieder geschafft – Paul war aus seiner Nostalgie erwacht. Wirklich bemerkenswert! Aber ein klitzekleiner Teil in ihm, dankte der Euphorie seines Freundes. Und wie würde es Pauls Mutter Frieda sagen? „Der Benny ist ein guter Kerl. Ein Held in der Tarnung deines Freundes. Vergiss das nicht, Paulchen.“ Ja, und irgendwie hatte Mama da Recht.

Paul schnellte nach oben und musterte ihn kritisch. „Du bist echt unbelehrbar. Also, schön“, sagte er und schwang die Beine aus dem Bett. „Ein Bier, mehr nicht.“

„Du bist ein guter Mann, Paul“, erkannte Ben an, musste jedoch ein diebisches Grinsen unterdrücken.

„Ja, schon gut.“ Wenig begeistert nahm Paul schließlich das Bier entgegen. „Wenigstens kannst du mich hier nicht auf irgendwelche Feste zerren.“ Er lachte humorlos.

Für einen kurzen Moment sah es so aus, als hätte Ben eine Maske auf, so sehr konzentrierte er sich darauf, nicht laut loszulachen.

„Stimmt“, kam die für Ben untypisch schnelle Antwort. „Aber wir können einen Spaziergang machen. Unter dem Sternenhimmel.“ Er lachte überdreht, obwohl er erst einen Schluck vom Bier genommen hatte. „Romantisch, oder?“

„Du wirst niemals erwachsen, oder?“ Nun musste auch Paul lachen. Er klopfte seinem besten Freund auf die Schulter. Vielleicht war es gar nicht so verkehrt, noch einmal die schönen Dinge zu genießen, bevor es wieder in den Einsatz ging. Auch wenn es nur in Form eines Dosenbieres in einem alten Zelt war. Die Hauptsache war, dass Ben an seiner Seite saß, genauso wie in ihrer Kindheit und Teenagerzeit.

Bevor die beiden Freunde das Zelt jedoch zügig verlassen konnten, hing bereits ein dunkelhaariger Mann, mit einer Mütze auf dem Kopf, am Eingang des Zeltes. Der dunkle Schnauzbart, der sich über der Lippe hinwegzog, war eines seiner Markenzeichen.

Es war Philipp, der Isaac Newton des Bataillon. Warum er Isaac Newton genannt wurde? Vielleicht, weil auch er an einem Tag zum Helden wurde, wenn auch mit einem schelmischen Zwinkern betrachtet. Laut eigenen Erzählungen war Philipp in seiner Klasse immer der stille Geselle gewesen, zumindest bis zu dem Tag, an dem in der Schule der Dreisatz in Mathematik durchgenommen wurde. Ein Thema, dem der kleine Philipp wohl nicht viel abgewinnen konnte, denn er wanderte seelenruhig ins Land der Träume. Lehrer Schmitt war jedoch nicht sonderlich begeistert davon und so versetzte er dem kleinen Träumer einen kurzen Schlag auf dem Holztisch, wobei der Junge so schreckhaft in die Höhe schnellte, dass er doch tatsächlich das Thema des Unterrichts vergessen hatte. In seinem Halbschlaf hielt er dann einen bemerkenswerten Vortrag über den Physiker Isaac Newton. Eigentlich sehr vorbildlich, wie Lehrer Schmitt fand, wäre der gute Herr Newton nur nicht das Thema der letzten Unterrichtsstunde gewesen. Jedoch fand Philipp mit dieser Aktion erheiternden Anklang in der Klasse. Seither war aus dem stillen, unscheinbaren Jungen, ein aufgeschlossener, witziger Mann geworden. Philipp war an diesem Tag zum Held geworden, auch wenn es nur seinem eigenen Selbstbewusstsein gedient hatte.

„Sehe ich da ein Dosenbier, Männer?“ Sein Gesichtsausdruck wurde ernst, wenn auch nur miserabel gespielt. „Ihr vergnügt euch hier, und ich bekomme nichts von dem edlen Gebräu?“

Ben lachte lauthals. „Du kannst gerne eins bekommen, Newton. Aber dafür musst du mit uns spazieren gehen. Immerhin wollen wir in Pauls Geburtstag reinlaufen.... äh, ich meinte.... reinfeiern.“ Er grinste schief.

Paul zog indessen eine Augenbraue nach oben, während Philipp einen belustigten Laut ausstieß. „Benjamin, mein Freund, wie viel hast du schon getrunken?“, amüsierte sich der kräftige Mann, was Paul auflachen ließ.

„Nicht viel, Daddy“, witzelte Ben daraufhin.

„Benny, wenn du weiter so viel trinkst, dann siehst du die Sterne auch ohne, dass wir draußen im Freien stehen“, entkam nun Paul ein belustigter Witz.

Ben winkte akribisch mit der Hand. „Nein, ich werde jetzt rausgehen und mit dir unter den Sternen wandern!“ Er hakte sich bei Paul unter, was bei diesem zu einem lauten Lachen führte.

„Bin dabei“, bemerkte Philipp ungefragt, wobei Paul und Ben ohnehin schon das Zelt verlassen hatten, und somit gar nicht erst auf ihn eingingen.

 

Gemeinsam liefen die drei Männer durch das Lager, das bei Nacht einem Jugendzeltlager ähnelte. Zwar waren sie mit den Gedanken des anhaltenden Krieges und der Sorge um ihre Kameraden beschäftigt, aber dies hielt die meisten Männer nicht davon ab, sich zusammenzusetzen, Geschichten auszutauschen oder einfach nur Witze zu reißen.

Paul mochte es, abends durch das Lager zu gehen und gelegentlich den leisen Geschichten zu lauschen. Vor allem bei Dunkelheit fielen die militärischen Ausrüstungen nicht groß auf. Es war, als bringe die Nacht ein wenig Normalität in das Lager zurück, wenn auch nur augenscheinlich. Von weit her konnten sie letztendlich doch das Feuer hören. Die Schüsse. Den Kampf. Den Krieg. Die Realität. Die Helden, die sich hinter dem Horizont verbargen.

Heute wollte Paul nicht daran denken, allein schon Ben zuliebe. Er hatte in den letzten Tagen schon zu viel erlebt und mitgemacht. Eine feindliche Granate war direkt neben ihnen explodiert und wieder war es Ben, der Paul in Sicherheit gezerrt hatte. Dabei war Ben von einem Splitter in Höhe seiner Rippen getroffen worden. Zwar konnte dies behandelt werden, doch er musste sich erst einmal schonen. Paul konnte sich noch gut an diesen Tag erinnern, immerhin war er derjenige gewesen, der an Bens Bett Wache gehalten und Geschichten erzählt hatte.

Es war eine kleine Geste gewesen, um sich für all die Dinge zu bedanken, die Ben stets für ihn getan hatte, auch wenn Ben niemals eine Gegenleistung dafür erwarten würde. Für Paul war es selbstverständlich gewesen in diesem Moment an seiner Seite gewesen zu sein. Dieser Tag hatte seine Spuren hinterlassen, doch Ben war ein Meister darin, dies mit seiner selbstbewussten Art zu überspielen.

„Hey, in der Unterkunft vom Max brennt auch noch Licht“, holte Philipp den Kollegen Paul aus dessen Melancholie zurück. „Wollen wir doch mal sehen, ob der Teufel nicht irgendwo was Hochprozentiges versteckt hat.“

„Ich denke nicht, dass....“ Doch Pauls Protest ging in einem lauten Freudenschrei seiner beiden gut gelaunten Freunde unter. Offenbar wollten sie nicht nur Pauls Jahrestag feiern, sondern auch den Lärmpegel auf eine neue Ebene zu befördern.

„Komm schon, Paul. Das wird lustig!“, war sich Ben sicher, während er seinen Freund wie einen nassen Sack hinter sich herzog.

Diesen Satz hatte Paul schon so oft von seinem Freund gehört! Und jedes Mal, wenn dieser gefallenwar, konnte Paul das Ende des Abends schon vorhersehen: Es würde ein einziges Chaos werden.

„Hey, Max, wir sind da!“, eröffnete Philipp gleich einmal, während er durch den Eingang von Maximilians Zelt schritt, als wäre er Baron von und zu. Paul und Ben folgten ihm auf dem Fuß. Allerdings war es dann doch Paul, der seinen Augen nicht trauen konnte. Im Zelt war nicht nur Kamerad Maximilian anwesend, sondern auch einige weitere Soldaten, und Krankenschwester Maria. Sie war auch die Erste, die Paul erblickte und ein Lächeln überzog ihr schönes Gesicht. Paul konnte nicht anders, als zurück zu lächeln.

„Paul, du alter Haudegen! Komm näher!“, rief Maximilian auch schon. Er hielt einen Becher in der Hand und eilte an die Seite des „Geburtstagskindes“. Maximilian war ein ganzes Stück kleiner als Paul, jedoch machte er dies mit seinem vorlauten Mundwerk wieder wett.

Maximilian stammte aus einem gutsituierten Haushalt und dies demonstrierte er auch allzu gerne, allerdings hatte auch er schnell eingesehen, dass in diesen Zeiten keine Güter galten, sondern alle Männer gleich waren. Aber Paul konnte ohnehin nichts Negatives über Maximilian sagen. Er war ihm immer freundlich gegenüber getreten.

Verwirrt runzelte Paul die Stirn, während ihm von einem seiner Kameraden die leere Dose Bier aus der Hand genommen und durch eine volle Dose ersetzt wurde.

„Max, was geht hier vor?“, fragte Paul misstrauisch.

Amüsiert wandte sich Maximilian daraufhin an Ben, der noch immer bei Paul untergehakt war. „Kollege Benjamin hat offenbar schon zu tief in die Dose gesehen“, merkte Maximilian an und ließ Pauls Frage damit unkommentiert. „Kein Wunder, immerhin hat der schon vier intus.“

„Vier Dosen?“, entkam es Paul, während er die bierselige Miene Bens musterte.

„Hab doch gesagt, dass es nicht viel war“, grinste dieser freudig.

Philipp, der sich inzwischen ebenfalls eine neue Dose geholt hatte, klopfte Paul auf die Schulter. „Wir müssen doch für unseren Ehrengast vortrinken.“

„Ihr“, er deutete einmal durch die Runde, „seid alle wegen mir hier?“

Ein einstimmiges Nicken ging durch die Reihen, woraufhin Maria vortrat. Sie trug zwar ihre Dienstkleidung mit einem grünen Pullover darüber, aber sie war einfach umwerfend schön. Selbst in einem Kartoffelsack würde Paul sie womöglich noch zum Tanzen ausführen. Ihre lockigen braunen Haare hatte sie zu einem schlichten Knoten zusammengebunden, was ihr herzförmiges Gesicht gut zur Geltung brachte.

Über Maria wusste Paul kaum etwas, und dies bedauerte er sehr. Nur eine Sache wusste er über die pflichtbewusste Frau: Sie war immer da, wenn jemand Sorgen hatte, egal, von welcher Natur diese waren. Nur einmal hatte er mit ihr gesprochen. Damals, als Ben verwundet wurde. Dort hatten sie sich kurz unterhalten, und Paul hatte erfahren, dass diese Heldin in Uniform gerne tanzte. Eine Musikliebhaberin. Dieser Umstand gefiel Paul. Maria hatte ihm auch gesagt, dass sie erst wieder tanzen wollte, wenn dieser Irrsinn hier vorbei wäre.

Paul unterdrückte einen Seufzer. Schon als Maria mit einer Gruppe Krankenschwestern zum ersten Mal in diesem Lager aufgetaucht war, konnte Paul die Blicke nicht von ihr abwenden. In ihrer süßen Schwesternuniform, welche ihrer zarten Figur schmeichelte, war sie bezaubernd gewesen. Wie gerne hätte Paul sie zu einer Verabredung eingeladen, aber hier, an diesem Ort, war dies nahezu unmöglich. Vielleicht würde er niemals die Chance dazu bekommen.

„Eigentlich wollte ich mich in ein Abendkleid werfen, aber meine Stiefel harmonierten nicht ganz mit dem edlen Bekleidungsstoff“, erklärte Maria belustigt, was Paul erneut zum Schmunzeln brachte.

Blaue Augen strahlten ihn aus diesem offenen und liebevollen Gesicht an. Genau diese Augen waren es, die ihn jedesmal verzauberten. Maria hatte zudem leicht gerötete Wangen und lächelte ihn amüsiert an.

„Den Anblick hätte ich gerne gesehen“, versuchte er sich locker zu geben, wurde jedoch etwas nervös und nestelte mit den Händen an seinem Jackenverschluss. Glücklicherweise blieb diese Unsicherheit den anderen Männern verborgen.

„Noch ein paar Minuten, dann darf Paulchen eine Runde ausgeben!“, ließ Philipp verlauten. Er leerte seine Dose in einem Zug und stieß einen Freudenlaut aus.

Paul seufzte ergeben und fand sich offenbar mit diesem Schicksal ab, doch Maria schaltete sich mit scharfem Ton wieder ein. „Maximilian hat das ganze Bier bezahlt, an dem ihr euch so reichlich bedient. Es ist Pauls Ehrentag, wir sollten ihm etwas geben.“ Irrte sich Paul, oder hörte er in ihrem letzten Satz etwas Neckisches heraus?

„Danke, Schwester! Ich merke mir das für’s nächste Jahr“, sagte Maximilian, während er inzwischen mit dem Oberkörper in einer alten Kiste hing.

Maria war jedoch Lady genug, um diese spitze Bemerkung gekonnt zu ignorieren. Sie stand nun direkt vor Paul und fixierte ihn mit ihren tiefblauen Augen. Wie sehr ihn diese Augen doch faszinierten! Ein Spiegel der Seele, der mehr Gefühle hergab, als es in einem Buch je beschrieben werden könnte. Am liebsten hätte Paul seinen Kameraden mehrere Kisten dieses ominösen Bieres indie Hand gedrückt, nur um mit Maria allein zu sein und ihr stundenlang in die Augen sehen zu können. Es beruhigte ihn auf eine gewisse Art und Weise. Natürlich war es absurd, aber er hatte stets das Gefühl, wann immer er sie sah, dann war der Krieg auf einmal ganz weit weg. Einfach unterbrochen, als hätte jemand die Zeit angehalten. Am liebsten hätte er seine Hand nach ihr ausgestreckt und über ihre zarte Gesichtshaut gestrichen. Allein bei der bloßen Vorstellung dieser Berührung, knisterten seine Fingerspitzen und er drückte seine Hand unauffällig zusammen.

„Paul?“, erklang Marias Stimme. Indessen hob sie fragend eine Augenbraue.

Augenblicklich lachte Paul peinlich berührt auf, sah kurz zu Boden und biss sich dann auf die Lippe. Er musste wohl zur Marmorsäule geworden sein, und sie mit offenem Mund angestarrt haben. Ziemlich dämlich! Ben hätte jetzt garantiert einen passenden Konter dafür gehabt, aber Paul blieb lieber bei der Wahrheit.

„Tut mir leid, aber irgendwie verschlägt es mir jedes Mal die Sprache, wenn ich vor dir stehe“, flüsterte er schüchtern. Fast zeitgleich grölte Ben im Hintergrund einen Trunkspruch, der allerdings ziemlich unterging, da er im nächsten Moment schon gegen einen Kameraden schwankte. Offenbar war die Stunde bereits vorbei und Pauls Geburtstag war angebrochen.

Paul und Maria lachten daraufhin kurz auf, widmeten sich jedoch schnell wieder einander. Marias Gesichtsausdruck war unschlüssig. Zwar lächelte sie, so wie sie es immer tat, aber gleichzeitig spiegelte sich etwas Trauriges darin. Paul konnte nicht erahnen, was es war, oder warum es so war.

„Happy Birthday, Paul“ , wisperte Maria nach einer kurzen Zeit des Schweigens. Ihre Hand hatte Paul dabei nur kurz an der Schulter berührt, doch es reichte aus, um seine Standhaftigkeit ins Wanken zu bringen.

Er schmunzelte verlegen, sein Blick glitt zu Boden. „Danke, Maria“, entkam es ihm heiser.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie anschließend.

„Wir leben. Also, ja, es ist alles in Ordnung“, antwortete Paul und er konnte erahnen, dass Maria klug genug war, dies nicht zu glauben.

„Nein, ist es nicht“, sagte sie daraufhin tatsächlich. Ihr entkam aber sogleich ein glockenhelles Lachen, als sie hinzufügte: „Warum bist du nur immer so dramatisch? Ich weiß, unsere Lage ist nicht die beste, und garantiert würden alle hier eine Feier in einem heruntergekommenem Pub vorziehen, aber wir können es nicht ändern, Paul. Wir können nur damit leben und das Beste daraus machen.“ Ihre Augen blitzten geheimnisvoll. „Genieße den Moment. Hier und jetzt.“

Paul schnaubte und sah sich noch einmal im Zelt um. All seine Kameraden und Freunde, die seinetwegen hier waren, die ihn und sein Leben feierten. Paul sollte es zu schätzen wissen.

„Deswegen bin ich so gerne bei dir“, sagte er nach einer Weile der Stille.

„Was?“ Maria blinzelte überrascht und kam ein Stück näher. „Wie meinst du das?“

Nun war es an Paul zu lächeln. „Jedes Mal, wenn ich mit dir spreche oder nur in deiner Nähe bin, verschwinden die dunklen Wolken. Ich habe das Gefühl, selbst wenn uns jetzt der Boden unter den Füßen wegbrechen würde, wäre ich glücklich. Weil du hier bist. Bei mir.“

Maria schluckte, strich sich gerührt eine lose Haarsträhne hinter ihr Ohr, während sie kurz auf den Boden blickte. Als sie wieder aufsah, konnte sie nicht anders als nach Pauls verschwitzten Händen zu greifen und sie zu drücken. Ein Schauer durchjagte ihn.

 

Mit einem Mal erklang laute Musik, und Paul wurde bewusst, was Maximilian in der alten Kiste gesucht hatte. Aus einem teuer aussehenden Grammophon tönte nun Tanzmusik, die die meisten Soldaten tatsächlich zum Tanzen brachte, wenn auch etwas wackelig. Woher der Max nur immer diese Sachen hatte, war Paul ein Rätsel. Aber es half dabei die Stimmung zu heben, und somit konnte es ihm egal sein.

„Du hast mal gesagt, du würdest erst tanzen gehen, wenn das alles hier vorbei ist“, begann Paul, während er Philipp und Ben dabei beobachtete, wie sie zusammen Pirouetten drehten. Seine eigentliche Aussage war allerdings an Maria gerichtet.

„Hab ich, ja“, bestätigte sie zögernd, da sie wusste worauf Paul hinaus wollte.

Er wandte sich nun zu ihr um. „Könntest du heute eine Ausnahme machen? Sozusagen, als Geburtstagsgeschenk?“, wagte Paul zu fragen.

Eine sichtliche Überraschung lag auf Marias Gesicht, obwohl sie mit so einer Frage gerechnet hatte. Dass der schüchterne Mann allerdings den Mut aufbrachte, sie zu stellen, verwunderte sie jedoch.

„Für dich würde ich das“, lächelte sie, woraufhin sie erwartungsvoll ihre Hand ausstreckte.

Paul ergriff diese mit einem erfreuten Seufzer und zog sie näher. Maria dreht sich einmal um die eigene Achse, ehe sie sich nun komplett in Pauls Armen befand. Dass die anderen Soldaten mittlerweile auf sie aufmerksam wurden und Pfiffe abgaben, ignorierte Paul. Maria blendete ohnehin die gesamte Lage aus. Als eine der wenigen Frauen im Team, war sie solche Marotten schließlich gewohnt. Sie ließ sich daher nicht von den Soldaten ablenken.Paul legte eine Hand auf ihre Taille und sofort erhitzte sich sein Innerstes. Maria bedeutete ihm einfach mehr, als er sich selbst eingestehen wollte. Als dann eine Hand von ihr an seinen Hals wanderte, war es mit der Konzentration gänzlich dahin. Paul konnte nur noch darauf hoffen, dass er wenigstens ein paar Schritte, die ihm seine Mutter vor Jahren beigebracht hatte, noch zusammen brachte.

Der Takt des Liedes hatte eingesetzt, und Paul drehte sich. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, während er zuerst Bens Grinsen, dann das von Philipp erkannte. Alle waren hier. Seine Freunde. Seine Helden der Vergangenheit und Gegenwart. Pauls Blick fiel wieder auf Maria, die diesen Tanz offenbar sehr genoss. Er war glücklich, und die Stimmung war einfach wundervoll, beinahe unbeschreiblich schön. Fast zu schön, um wahr zu sein.

 

Doch plötzlich brach die Hölle los und ein lauter Alarm schrillte quer durch das Camp. Sofort verstummte die ausgelassene Stimmung und Oberleutnant Richters Befehl durchschnitt die Luft, wie ein scharfes Skalpell einen Butterblock.

Ein Luftangriff!

Alle mussten sofort kampfbereit auf ihren Posten sein.

Paul spürte wie Maria langsam aus seinen Armen glitt. Es war, als griffen seine Hände nun ins Nichts. Das warme Gefühl wurde stetig kälter. Eine Leere erfüllte ihn, während seine Kameraden sich zum Kampf bereit machten und aus dem Zelt stürmten. Er selbst war der Letzte, der sich in Bewegung setzte, nachdem ihm die harte Realität wieder ins Gesicht geschlagen hatte. Ein Tag wie jeder andere, stellte Paul bitterlich fest. Selbst heute, an seinem Geburtstag.

 

~ ~ ~

 

Schweißnass erwachte Paul aus seinem Schlaf.

 

Sein Atem ging stoßweise. Er setzte sich in seinem Bett auf und griff zitternd nach dem Lichtschalter seiner Nachttischlampe. Keuchend sah er sich in seinem Schlafzimmer um, nachdem er die Brille aufgesetzt hatte.

Alles war in Ordnung, nur die Laken seines Bettes waren durcheinander und ein Kissen lag auf dem Boden. Er musste sich ziemlich gewehrt haben im Schlaf. Durch die leichten Vorhänge schimmerte das Mondlicht und er konnte erahnen, dass sich dahinter noch immer die Skyline seiner Heimatstadt befand. Nichts hatte sich verändert, seit er schlafen gegangen war. Nichts, außer seiner Gefühlslage.

Paul manövrierte ein Bein langsam aus dem Bett und stemmte eine Hand nachdenklich auf dem Knie ab. Einen Moment schloss er die Augen, um sich wieder zu sammeln, und versuchte diesen Alarm aus seinem Kopf zu bekommen. Ein Blick auf seinen Wecker verriet ihm, dass es bereits weit nach Mitternacht war und sein Geburtstag angebrochen war. Seufzend fuhr er sich durch die feuchten Haare.

 

Dieser seltsame Traum suchte ihn so oft heim. Egal zu welchem Anlass, er tauchte in den verschiedensten Größen und Formen auf. Und jedes Mal, wenn er seinem Ziel nahe war, mit Maria zu tanzen, die Musik erklang und er ihre vertraute Nähe spüren konnte, wurde die Brutalität des Krieges zum Hammer, der allem ein Ende setzte, und er erwachte. Jedes Mal.

Wie glücklich wäre Paul, wenn Ben ihn gerade heute einfach geweckt und ihm ein Dosenbier unter die Nase gehalten hätte; wenn Philipp sein immer lächelndes Gesicht durch den Türrahmen geschoben hätte; wenn Maria hier gewesen wäre, um ihm zuzuhören. Einfach nur hier bei ihm. Er wäre so froh darüber gewesen. Über jeden einzelnen seiner Helden. Jetzt hatte das genaue Gegenteil eingesetzt.

Paul war alleine. Alleine in einer Zeit, die ihm so fremd erschien. Allein unter Menschen, die den Grund seiner Nostalgie niemals verstehen würden.

Es war Pauls achtzigster Geburtstag, und diesen musste er alleine verbringen. Kein Ben, der ihn durch das Fenster nach draußen lotste, um ein Fest unsicher zu machen. Keine Kameraden, die mit Bier auf ihn anstießen. Kein Maximilian und kein Philipp, die ihre allgegenwärtigen Witze rissen. Keine Maria, die ihm stets das Gefühl von Sicherheit vermittelt hatte.

Keiner von ihnen war jetzt da. Doch wie konnten sie auch? Der zweite Weltkrieg war vorbei und niemand von ihnen war mehr hier. Ben wurde damals bei dem Luftangriff an Pauls Geburtstag getötet, was Paul selbst erst Stunden später erfahren hatte. Er konnte sich nur noch daran erinnern, wie Oberstleutnant Richter ihm diese Nachricht mitgeteilt hatte und es schwarz vor seinen Augen geworden war. Bitterlich daran war vor allem, dass Paul jedes Jahr an seinem Geburtstag daran erinnert wurde, dass sein Ehrentag der Todestag seines besten Freundes war. Des Helden, der mit ihm Schulhof und Schlachtfeld gemeinsam überquert hatte.

Auch Maximilian und Philipp waren nicht mehr am Leben. Philipp starb ein paar Wochen nach Ben. Ein feindlicher Schütze hatte ihn ins Visir genommen und ihn tödlich verwundet. Paul konnte sich noch daran erinnern, wie er seinen Kameraden in Sicherheit gezogen hatte, doch da war es schon zu spät. Philipp erlag wenig später seinen Verletzungen. Der kleine Junge, der durch Isaac Newton zum Held wurde.

Maximilian überlebte die vierziger Jahre. Zum Ende des Krieges hatten sich die Männer aus den Augen verloren. Erst Mitte der Siebziger hatten sie sich durch Zufall wiedergefunden. Maximilian wollte seinem Sohn die Männer vorstellen, die ihm heldenhaft zur Seite gestanden hatten, als er alleine gewesen war. Die Helden aus einer längst vergangenen, aber niemals vergessenen Zeit. Paul war einer von ihnen. Schmerzhaft hatte er damals festgestellt, dass Maximilians Sohn ihm verdammt ähnlich sah.

Paul hatte sich gefragt, wie es wohl bei seinen Kindern gewesen wäre. Ihm war dieses Privileg nach Kindern und Enkeln stets verwehrt geblieben. Obwohl er zweimal verheiratet gewesen war, so hatte es nie lange gehalten. Vielleicht war es der Umstand, dass er Maria nie ganz vergessen konnte. Von Maximilian hatte Paul erfahren, dass sie nun wohl im Ausland lebte und geheiratet hatte. Nach langer Suche hatte Paul ihren Aufenthaltsort zwar ausfindig gemacht, aber den Mut, sich bei ihr zu melden, hatte er nie aufgebracht. Er hatte den Telefonhörer so oft in der Hand gehalten, doch immer wieder aufgelegt. Maria hatte ihr Leben weitergeführt und dies war gut so. Niemals wäre Paul in den Sinn gekommen, sie für sich gewinnen zu wollen. Er wollte keine alten Wunden aufreißen, und so zog die Zeit ins Land.

Maria war nur noch eine kostbare Erinnerung. Es war auch Maximilian, der ihm mitgeteilt hatte, dass Maria nach langer Krankenheit friedlich eingeschlafen war. Paul konnte die Ironie darin erkennen. So war es doch stets Maria gewesen, die damals allen Kranken und Verwundeten geholfen hatte, sich selbst konnte sie jedoch nicht retten. Ja, auch sie war für viele eine Heldin. Auch für Paul.

Als Letzter war Maximilian von ihm gegangen. Erst letzte Woche hatte Paul einen Anruf von Maximilians Sohn Achim erhalten, dass sein alter Freund gestorben war.

 

Nun war Paul alleine.

Er seufzte traurig. Nein, nichts war mehr, wie es einmal gewesen war. Vielleicht war es gut so, vielleicht aber auch nicht. Ihm hatte der zweite Weltkrieg vielmehr gestohlen, als nur ein Bein. Diese Zeit lag nun schon seit fast sechzig Jahren hinter ihm und dennoch war es, als wäre er gerade erst wieder mit dem Lazarettschiff im heimischen Hafen angekommen.

Selbst bei seinem Traum wusste er nicht, ob er jetzt auf einer realen Erinnerung basierte, oder es einfach nur Wunschdenken war. Immerhin träumte er seit Jahren schon so viel, dass er die Wirklichkeit nicht mehr von der Täuschung unterscheiden konnte. Vielleicht war das ganze Wirrwarr in seinem Kopf auch nur das Phantasieprodukt seiner überstrapazierten Nerven. Egal was es war – Paul wollte es nicht wissen. Er wollte nicht, dass man ihm die Illusion nahm, um das, was hätte sein können; dass ihm Maria und der gemeinsame Tanz genommen werden könnte.

Er wollte tanzen. Jedes Jahr auf's Neue.

Irgendwann würde er diesen Traum zu Ende träumen, und zwar so wie er es wollte. Vielleicht war es möglich, dem Alarm, diesem scheußlichen Denkmal in seinem Kopf, zu entkommen.

Paul konnte warten. Er konnte verdammt lange warten. Diese Menschen, die ihm nur noch im Traum begegneten, hatten ihn gerettet, ihn durch das Leben getragen und wunderschöne Erinnerungen hinterlassen. Jeder einzelne von ihnen war ein Held. Seine Helden. Denn genau dies waren Freunde – Helden. Menschen, die an unserer Seite stehen und uns kurzzeitig vergessen ließen, wie schrecklich das Leben sein konnte.

 

Irgendwann würden sie alle gemeinsam tanzen, gemeinsam feiern, und die Helden wieder vereinen. Dieses Mal für immer. Jetzt hielten ihn die Erinnerungen an seine Freunde am Leben. Erinnerungenan seine Helden.

Impressum

Texte: Verena Maria
Tag der Veröffentlichung: 26.03.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine lieben Ur-Großeltern. An meinen Uropa, der tapfer im Krieg gekämpft hat, aber niemals darüber gesprochen hat. An meine Uroma, der ich nicht nur den Namen Maria verdanke. Ihr seid in meinem Herzen.

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