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Auf ins Down Under

Vero spurtete mit ihrer Reisetasche an der Schulter durch die Menschen gefüllte Eingangshalle des Flughafens Schwalbenstrom. Im Laufschritt fischte sie mit ihrem Daumen und Zeigefinger mühsam ihr klingelndes Handy aus ihrer Hosentasche. »Hallo Jule«, begrüßte sie ihre 17-jährige Tochter. »Ja, den habe ich dabei! Sei unbesorgt.« 

Das Handy am Ohr und den Schalter der NCB Airline im Blick, bemerkte Vero den beleibten Mann, der ihren Weg schlurfend kreuzte, zu spät. Ihre Schulter stieß unsanft in seine Rippengegend.

»Können Sie denn nicht aufpassen?« regte sich der gewichtige Mann schwer atmend auf. Mit der Wucht rutschte Veros bepackte Reisetasche von ihrer rechten Schulter. Die Tasche schlingerte und riss Vero halb herum. Ihre Schulter schmerzte von dem abgerutschnten Gurt. »Verzeihen Sie bitte vielmals«, entgegnete Vero. Die Person von Gewicht zerknautsche das Gesicht, das unter fettigen Strähnen hervor quoll und hielt sich mit seinen wulstigen Fingern seine Rippen, wo man sie in etwa vermuten würde. Der Anblick dieses Wesens, dessen aktiver Lebensgeist ihn wie eine vom Wind erloschene Kerze verlassen hatte, verdoppelte Veros Mitgefühl des Zusammenstoßes. Sie schulterte Ihre Reisetasche auf die andere Seite, nahm ihr Handy wieder ans Ohr und setze eilend ihren Weg zum Schalter fort. »Was sagst Du, Jule?« fragte Vero lauter ins Telefon.

»Glauben Sie etwa, die große Halle gehört Ihnen alleine?» zeterte der Dicke weiter.

 »Es wird ein großartiges Spiel werden, ich freue mich schon! - Bitte?« rief Vero in ihr Handy.

 »So eine Unverschämtheit!« hörte Vero den Geprellten aus der Ferne fluchen.

 »Was sagst Du?» Mit dem Zeigefinger hielt sie ihr linkes Ohr zu und presste ihr Handy fester an ihr rechtes. »Ja! Wie sehen uns bald, Süße«, sagte sie zu Jule, legte auf und erreichte den den Check in der Fluggesellschaft NCB Airline.

 

»Haben sie online gebucht?« fragte die geschminkte Frau hinter dem Schalter. Vero nickte ihr freundlich zu und übergab ihr routiniert den Personalausweis. Die Mitarbeiterin der Fluggesellschaft schaute auf ihren Monitor und sah wieder zu Vero auf. Ihre Augenbrauen waren hochgezogen, ihre Stirn lag in Falten.

»Ich bedauere, die Fluggäste der Maschine AB6036 nach Australien sind bereits eingestiegen. Das Gate ist geschlossen.«

 Vero seufzte. »Ok. Fein. Wann geht der nächste Flieger?»

 »In 47 Minuten startet eine Maschine der Fluggesellschaft Aero Rescue. Ich könnte

sie umbuchen.«

 Vero war erleichtert. »Oh, das ist wunderbar!».

 »Bitte sehr, Ihre Bordkarte. Gate B23. Einen angenehmen Flug wünsche ich Ihnen.»

 Vero bedankte sich, nahm ihre Bordkarte entgegen und schlenderte Richtung Sicherheitskontrolle. Diese absolvierte sie ebenso routiniert wie das Schmieren eines Butterbrotes.

 

Im Abflugbereich ging sie zum Café Holly Molly und bestellte einen Kaffee. »Das macht 6,50 €, bitte», sagte der Kassierer. Veros Mimik änderte sich binnen Sekunden von einem freundlichem Lächeln zu einer herunter geklappten Kinnlade. Grimmig, aber wortlos bezahlte sie ihren Kaffee. Sie brauchte Kaffee. Jetzt. »Die Tasse behalte ich«, bestimmte Vero, drehte sich um und verließ mit der Kaffeetasse in der Hand das Café.

 

Im Wartebereich von Gate B23 setzte sie sich auf eine Bank und schlürfte an ihrem Heißgetränk. Sie ließ ihren Blick auf die wartenden Fluggäste wandern, der an einem jungen, hochgewachsenen Mann mit Hakennase haften blieb. Er saß da mit geschlossene Augen und bewegte wortlos, wie zu sich selbst redend, dezent seine Lippen. Mit beiden Händen umschloss er einen schwarzen, seidenen Zylinderhut auf seinem Schoß. Hoffentlich lässt er den Zauberstab in seiner Tasche, sonst macht Jule mir noch einen Vorwurf, dass ich ihr das entflohene, weiße Kaninchen nicht mitgebracht habe, dachte Vero.

 

 

Die verflogene Zeit im Flug

Im Gang der Maschine fand Vero ihren Sitzplatz 29B. Na toll, der Mittelplatz, dachte Vero. Am Fenster saß ein Mann mit braunen, kurzen Haaren. Seine sportlich-muskulösen Arme im dunkelgrauen T-Shirt waren übereinander gekreuzt. Vero stellte ihre Reisetasche auf den Sitzplatz ab und holte ihre Spiegelreflexkamera mit dem 300er Teleobjektiv heraus. Ihr Sitznachbar entzifferte die auf den Kopf stehende Handschrift auf dem Schild am Tragegurt: 'Veronika Kempf'. Vero tauschte ihre Reisetasche gegen die Kamera auf den Sitzplatz aus und verstaute die Tasche oben im Handgepäckfach.

 

Der Mann am Fenster, er musste einige Jahre älter gewesen sein als sie, verfolgte ihr Gewusel. Als Vero geendet hatte, trafen sich ihre Blicke. Vero empfand eine Sanftheit, die seine braunen Augen ausstrahlten. Freundlich nickend grüßte sie ihren Sitznachbarn, nahm ihre Kamera und setzte sich auf ihren Mittelplatz. Ihr freundliches Lächeln verschwand. Ihre Mundwinkel senkten sich, ihr Blick wurde fad. Es war die gleiche Sanftheit wie in den Augen ihres Mannes, der vor sechs Jahren bei einem Motorradunfall starb, während sie selbst nur knapp überlebte. Das Flugzeug startete. Wenig später, in 11.000 Meter Flughöhe, reckte sich Vero, um eine bessere Sicht aus dem kleinen Fenster der Maschine zu erhaschen. Die weiße Wolkendecke unter dem Flugzeug sah aus wie flauschige Schäfchen, dicht an dicht. Vero stand auf. Mit ihrer Kamera neigte sie sich über ihren Sitznachbarn am Fensterplatz und visierte mit einem zugekniffenem Auge die Wolkenformation durch das kleine Flugzeugfenster an. Nach vorne geneigt lehnte sie ihre Beine an dem seinen. Klick, klick, klick. Der überraschte Sitznachbar drückte seinen Oberkörper zurück in die Rückenlehne. Ihm gefiel der Duft ihres erfrischend-fruchtigen Parfüms, das er bereits wahrnahm als sie sich neben ihn setzte und den er nun deutlicher einatmete. Der Duft passte zu ihrem Stufenschnitt mit den witzig nach außen gedrehten Haaren im Nacken. Ein Blick auf ihrem Hintern verriet ihm, dass er nichts dagegen gehabt hätte, wenn sie sich zum Fotografieren sogar auf seinen Schoß gesetzte hätte, aber so plump wollt er nicht sein. In seiner unbequemen Sitzposition fragte er mit gespielt besorgter Stimme: »Ist das da normal am Flügel?«

Vero schwenkte ihre Kamera mit dem langen Objektiv Richtung Flügel und zoomte nah heran. »Was meinen Sie? Ich kann nichts erkennen.« Klick, klick, klick.

»Haben Sie das gesehen? Da ist doch gerade eine Schraube weg geflogen!« dramatisierte er.

 

Klick, klick, klick – klick.

 

»Wir fliegen doch mit der Airline 'Never Come Back'?« fragte der Mann im dunkelgrauen T-Shirt. In seine Stimme legte er Bedrohlichkeit.

 Klick, klick. »Wenn Sie Flugangst haben, kann ich eine Stewardess für Sie holen« bot Vero ihm an ohne Ihren Blick durch die Kamera abzuwenden.

 »Na schön. Von mir aus bleiben Sie Stunden lang so stehen, wenn Sie nichts dagegen haben, dass ich meine Beine ausstrecke!«

 Vero ließ nun doch von ihrer Kamera ab und bemerkte den unbedachten Grund ihres Abstützens. »Verzeihung!« Vero setzte sich zurück auf ihren Sitzplatz und sah sich ihre soeben gemachten Aufnahmen auf dem Display ihrer Kamera an. Dabei ließ ihre Augen nach rechts auf ihren Sitznachbarn wandern, der entspannt seine Beine austreckte. Er trug Jeans und feste Treckingschuhe. Dann richtete sie sich an ihn. »Fliegen Sie in den Urlaub?«

 »Nein. Ich habe in Australien einen Auftrag zu erledigen«, antwortete er. »Sie offensichtlich schon...«, fügte er hinzu und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Kamera.

 »Es ist kein richtiger Urlaub. Ich reise nach Tasmanien. Dort finden die 'Internationalen Teuflischen Spiele' statt und meine Tochter ist mit dabei! Da möchte ich natürlich zum Anfeuern dabei sein«, sagte Vero.

 Die nächste Zeit im Flugzeug verbrachten sie schweigend. Schließlich schlief Vero ein.

 

Im Dämmerschlaf bemerkte sie an ihrem Kopf ein zartes Auf- und Abwippen. Wie aus der Ferne hörte sie die Worte einer männlichen Stimme: »Wir landen gleich.« Sie blinzelte mit ihren Augen und spürte unter ihrer rechten Wange den Baumwollstoff eines T-Shirt und einen Oberarm, der ihr nicht gehörte. Flott riss sie ihre Auge auf, richtete sich unverzüglich auf ihrem Sitz aufrecht auf und guckte nach links in den Gang als gäbe es dort etwas wichtiges zu sehen. Das Flugzeug setzte zur Landung an.

Der ausgeliehen Leihwagen

In Melbourne, nahe des Flughafens, fuhr der Mitarbeiter der Leihwagenfirma Britz den schwarzen Mitsubishi Pajero aus der Autohalle, ließ den Schlüssel stecken, die Fahrertür geöffnet und wünschte Vero 'Gute Fahrt'. Vero öffnete die Hintertür und legte ihre Reisetasche auf die Rückbank. Plötzlich bemerkte sie einen schwungvollen Schubs. Sie fiel vorwärts auf die Rückbank. Die Autotür wurde hinter ihr zugeworfen. Jemand stieg auf der Fahrerseite ein. Der Wagen preschte los. Vero rappelte sich auf. Sie sah ein Stück Schulter im dunkelgrauen T-Shirt. Sie blickte von der Rückbank aus in den Rückspielgel. Sie sah braune, kurze Haare.

 

»Nur weil Sie mich im Flugzeug auf ihren Arm haben schlafen lassen, bedeutet es nicht, dass Sie einfach so meinen Leihwagen stehlen können« stellte Vero mit energischer Stimme fest. Sie zog ihr Handy aus der Gesäßtasche ihrer Hose. »Halten sie sofort an!« befahl sie. »Ich rufe die Polizei!«

 »Ich bin von der Polizei«, sagte der bekannte Mann mit deutlich ruhiger Stimme. Er ließ seine rechte Hand vom Lenkrad los und führte sie zu seinem Körper. Mit einem Schwung über seine Schulter landetet zielgenau etwas ovales aus Metall auf Veros Beine. 'Kriminalpolizei', las Vero. Eine blaue Karte landete neben ihren Beinen auf der Rückbank. Sie nahm die Karte in die Hand. 'Polizei Nordrhein-Westfahren, Alex Wagner', stand darauf. Der Mitsubishi fraß die Straße in sich hinein. Das Grün der Bäume zog verschwommen vorbei. Vero zog aus ihrer Reisetasche eine Landkarte heraus. Sie wollte wissen, in welche Richtung sie fahren. Doch auf der Landkarte war nur der Umriss der australischen Insel Tasmanien zu erkennen. Vero seufzte und warf die Karte zurück in ihre geöffnete Reisetasche.

 

»Meinen Leihwagen haben sie versehentlich an jemand anderen vergeben. Ich habe keinen mehr bekommen«, sagte Alex Wagner ohne seinen Blick von der Straße abzuwenden.

 »Ok. Fein, Herr... Wagner. Halten sie an und lassen sie mich aussteigen», bestimmte Vero.

 »Hier drin sind Sie sicherer», antwortete Alex Wagner mit noch immer ruhiger Stimme.« Über den Rückspiegel sah er Vero an.

 »Danke, ich kann auf mich selber aufpassen!«

 

Einige Kilometer weiter verlor der Mitsubishi an Geschwindigkeit. Häuser tauchten am Straßenrand auf. An einer Haltelinie kam der Wagen zum Stehen. Der Kriminalbeamte Wagner drehte seinen Oberkörper zu Vero auf die Rückbank und sah sie an. »Hier draußen läuft ein Psychopath herum! Psychopathen sind nur mit sich selbst beschäftigt und haben aus Bestrafungen nie gelernt. Sie verfolgen ein Ziel und dafür tun sie alles. Sie gehen über Leichen und es ist ihnen egal. Sie sind hinter etwas her, nach Geld, nach Sex. Sie denken nur an sich und benutzen andere wie Dreck, um an ihr Ziel zu kommen. Ich werde ihn jagen und ich werde ihn kriegen! Drei Frauen hat er schon auf dem Gewissen. Ich weiß nicht, wann die Nächste dran ist.«

Vero verfolgte die Worte des Kriminalbeamten mit großen Augen und leicht geöffnetem Mund. Ihre Augen zuckten auf das rote Licht der Ampel und zurück zu Alex Wagner. »Na los, fahren Sie schon!« Die Reifen quietschten, der Wagen fuhr los.

 

»Wo sind wir eigentlich?« wollte Vero wissen.

»Swan Hill«, antwortete Wagner.

 

Wenn die Bürger von Swan Hill nur wüssten, dass unter ihnen ein Serienmörder verweilt, dachte Vero...

Hairstyling unerwünscht

 

Der Kriminalbeamte steuerte den schwarzen Mitsubishi bedächtig durch einige Straßen und begutachtete die Häuser in der Gegend genau. Er parkte den Wagen einige Meter von dem Friseursalon 'Rubi Hair' entfernt. »Sie bleiben hier im Wagen. Schließen von innen ab«, ordnete Wagner an. Er stieg aus und ging in Richtung 'Rubi Hair'.

 

Der herunter gekommene Friseursalon mit maroden Dielen und ohne Kundschaft roch nach Bohnerwachs. Der Dunst von Zigarettenqualm verschleierte die Luft. Vero rümpfte die Nase und setzte sich auf einen Stuhl im Eingangsbereich. Sie sah Wagner im Frisierbereich stehen, der mit dem Besitzer des Friseursalons sprach. Wagner hielt ihm ein Foto hin. Der Salonbesitzer schüttelte den Kopf. Vero durchstöberte die Zeitschriften, die neben ihrem Stuhl auf einem kleinen Tisch lagen. Sie nahm den H&M-Katalog zur Hand und blätterte darin herum. Vero runzelte die Stirn. In dem Katalog waren Seiten herausgerissen. Sie blätterte vor, zurück und wieder vor. Sie stellte fest, dass die Seiten mit der Damenunterwäsche fehlten.

 

»Sie sollten im Wagen bleiben!» donnerte Wagner, der nun vor dem Stuhl stand, auf dem Vero saß. Umsichtig sah er zum Schaufenster hinaus. Dann riss er Vero an ihrem Arm vom Stuhl. Er zog sie hinter den Vorhang einer Nebenkammer, schlang einen Arm um sie und drehte sich mit ihr seitlich weg vom Vorhang. Er presste sie vor sich und umschloss mit seiner rechten Hand ihren Mund. Er atmete ruhig und fixierte seinen Blick konzentriert auf den kleinen geöffneten Spalt, den der Vorhang preisgab. Die Friseursalontür wurde geöffnet. Schritte auf dem knarzenden Dielen waren zu hören. Die Tür wurde geschlossen.

 

Wagner spürte das rasende Herzklopfen in Veros zierlichem Oberkörper unterhalb seiner Brustgegend. Ihr schneller Atem durch die Nase glitt über seine Finger, die auf ihrem Mund lagen. Der Duft von verblasstem Parfüm und Haut strömte in seine Nase. Er spürte ihr Haar an seinem Hals. Vero hielt mit beiden Händen den H&M-Katalog fest an sich gedrückt.

 

»Es sind keine neuen Zeitschriften gekommen. Du warst gestern erst da. Geh nach Hause, Edi«, hörten die Versteckten den Salonbesitzer sagen.

 »Ich brauche sie aber! Ich brauche neue. Ich brauche sie so dringend», hörten sie durch den Vorhang eine hohe, schwache, nahezu zitternde Männerstimme sagen.

 »Komm morgen wieder. Geh jetzt nach Hause«, drängte der Salonbesitzer.

 

Wagner starrte unbeirrt auf den geöffneten Spalt des Vorhangs. Eine hagere Person mit kleinem, fliehendem Kinn huschte an dem Vorhangspalt vorbei. Die hohe Stirn offenbarte einen späten Haaransatz am obersten Scheitelpunkt des Kopfes. Die Friseursalontür wurde geöffnet, Schritte waren hörbar und die Tür fiel ins Schloss.

 

Stille. Eine gefühlte lange Stille.

Vero löste Wagners Hand von ihrem Mund und legte auch diesen Arm um sich. Dann atmete sie tief durch den Mund ein und wieder aus. So wohl behütet, wie sie sich in seinen Armen fühlte, wollte sie noch eine Weile so stehen bleiben. Sie fuhr sich über ihre Stirn und vergrub ihre Hand in ihren Haaren.

 

»Alles in Ordnung?« wollte Wagner wispernd wissen.

»Ja..« hauchte Vero mit einem Stoß Luft, den sie aus ihre Lungen presste.

Wagner flüsterte Vero zu: »Wir verlassen jetzt den Friseursalon und gehen zum Wagen.«

Vero nickte.

»Bereit?«

»Ja«, stimmte sie flüsternd zu.

 

Sie traten aus der Nebenkammer heraus und verließen zügigen Schrittes den Friseursalon. Sie stiegen in den Mitsubishi ein. Wagner startete den Wagen. 

Das verlassene Verlies

Kriminalbeamter Wagner steuerte den Leihwagen.

»Der Besitzer des Friseursalons hat gelogen als ich ihm das Foto zeigte. Er wusste ganz genau, wer Edi ist«, stellte Alex Wagner fest. Er bog mit dem Wagen links ab.

 »Wo fahren wir jetzt hin?«

 »Zu Edawrd Hanson. Edis Haus kann ein wenig Besuch gebrauchen. Er ist jetzt auf der Suche nach neuen Zeitschriften wie ein Drogensüchtiger nach dem nächsten Kick. Er wird keine Ruhe geben bis er welche gefunden hat.«, durchblickte der Kriminalbeamte.

 »Er reißt Seiten daraus. Was hat er damit vor?« fragte Vero besorgt.

 »Das wird sich noch herausstellen«, antwortete Wagner.

 

Der schwarze Mitsubishi fuhr langsam eine abgelegene Straße entlang, die mit alten Häusern gesäumt war.

»Hier, das Haus Nr. 8 ist es. Wie passend... die 8 als Unendlichkeitssymbol an dem Haus eines Serienmörders, der das Töten nicht lassen kann», sagte Wagner. Ein Stück weiter bog er rechts ab in eine Seitenstraße, wendete und parkte den Wagen am Straßenrand.

 

»Soll ich im Auto warten?« fragte Vero.

 »Das tun Sie doch eh nicht. Nehmen Sie Ihre Kamera mit. Die Besichtigungstour wird sicherlich Gelegenheit für ein paar interessante Aufnahmen bieten.« Alex Wagner öffnete seine Fahrertür und stieg aus.

Vero streifte sich den Gurt mit ihrer Kamera diagonal über ihre Schulter, stieg aus und ging hinter Wagner her. Sie bogen nach links ab und standen nach wenigen Metern vor der Hausnummer 8. Der blassgraue Putz war überwiegend abgebröckelt und gab die blanken Steinreihen frei. Die dunkelbraunen Fensterläden aus Holz verriegelten die Fenster. Wagner ging vor und stieg die drei grauen Steinstufen zum Hauseingang hinauf. Er schaute durch eines der vier verschmierten Glasfenstern, die oberhalb der dunkelbraunen Haustür aus Holz eingefasst waren. Die Dunkelheit im Haus ließ nicht viel erkennen. Vero stand vor den drei Steinstufen und sah sich nach links und rechts um, ob Anwohner sie beobachteten. Die Haustür hatte von außen eine Klinke. Wagner legte seine Hand darauf und drückte die Klinke herunter. Die Tür ließ sich öffnen. Mit einer Handbewegung wies er Vero an, ihm zu folgen. Ihr Herz pochte erneut wie wild. Nur die Ruhe bewahren, beruhigte sie sich in Gedanken selbst. Sie betraten einen schäbigen Flur. Der Gestank alten Miefs biss ihnen in die Nasen. Vor ihnen lag eine alte, abgewetzte Holztreppe. Die rechte führte hinauf, die linke daneben, hinab. Der Kriminalbeamte Wagner wählte die linke Treppe abwärts. Er streckte eine Hand nach hinten aus und ergriff Veros, die dicht hinter ihm ging. Stufe für Stufe gingen sie hinunter.

 

»Egal, was passiert. Wenn ich 'Los!' sage, laufen Sie los. Und zwar raus aus diesem Haus und schnurstracks zum Auto«, flüsterte Wagner Vero zu.

 

Am Fuße der Treppe lag ein schmaler Gang vor ihnen. Sie gingen hindurch. Am Ende des Ganges befand sich eine aus Holzlatten zusammen geschusterte Tür mit einer Querstrebe. Alex Wagner streckte seinen Arm aus und drückte die Tür mit seiner Hand auf. Vor ihnen eröffnete sich ein weitläufiger Kellerraum. Sie traten hinein. Der Raum war erleuchtet von unzähligen Duftkerzen, die wie in einer Kirche am Altar verteilt aufgestellt waren. Die Intensität der widerlich süßen Duftmischung schnürte ihnen nahezu die Atmung ab. Vero zog die Augenbrauen zusammen und hielt sich ihren Handrücken vor ihre Nase. Sie gingen einige Schritte weiter in den Raum hinein und sahen sich um. Zwischen den Duftkerzen stand eine große, auf einen Holzrahmen gespannte Leinwand aufgestellt. Auf der Leinwand klebten etliche, aus Zeitschriften ausgeschnittene Damenfiguren in Unterwäsche. Der Kriminalbeamte ging näher heran, begutachtete die Collage und entdeckte etwas seltsames. »Was ist das?« fragte Wagner. Die Beine und Arme der ausgeschnittenen Damenfiguren waren sorgsam mit kleinen, feinen dunklen Härchen beklebt.

 

»Das wird die Spurensicherung freuen. Machen Sie ein Foto davon», sagte Wagner zu Vero.

 »Ich befürchte, das kann ich nicht zulassen«, sprach eine hohe, schwache Männerstimme.

 

Wagner fuhr herum. Er sah Edis ausdruckslose Augen in seinem halbglatzigen Kopf, der über Veros Schulter guckte. Ihren Kopf hatte er mit seiner Hand in ihrem Haarschopf nach hinten gerissen. In Edis rechter Hand blitze ein Messer an Veros Kehle auf.

 

»Lassen Sie sie los! Sie hatten genug Frauen«, sagte Wagner mit fester Stimme.

 

Edi stieß ein kurzes Ächzen aus. »Genug Frauen… oh, nein… Schon in jungen Jahren führte ich Mädchen aus. Führte sie ins Kino aus. Führte sie zum Essen aus. Hübsche Mädchen. Wir kamen uns näher. Doch ich kriegte keinen hoch! Ich brauche noch Zeit, sagte ich. Aber die Mädchen wollten beglückt werden. Sie verdrehten die Augen. Oder lachten. Sie warteten nicht. Sie gingen weg. Suchten sich einen anderen Jungen.Gingen mit anderen aus.« Edis Stimme zitterte.

 

»Dafür gibt es Medikamente. Sie können es ändern, Edi«, sprach Wagner auf Edi ein.

»Phhh… damit die Frauen wieder lachen. Sie haben es nicht verdient, beglückt zu werden», beharrte Edi.

»Frauen können nichts dafür! Lassen Sie sie los«, forderte Wagner Edi auf.

»Gedemütigt werden müssen sie! So wie sie mich gedemütigt haben«, zischte Edi.

Mit seiner Hand ließ er Veros Haarschopf los und hob ihren Arm hoch. Die Spitze seines Messers steckte er zaghaft zwischen ihre Haut und dem enganliegenden, kurzen Ärmel ihres Shirts. Mit dem Messer hob er den Stoff an und schaute hinein. »Aww… Du hast deine Achseln rasiert, böses Mädchen!» Edi ließ Veros Arm herunter und setzte das Messer zurück an ihre Kehle. »Dann wirst Du wohl eine Weile in meinem gemütlichen Haus bleiben müssen, bevor ich Dich töte! So ein hübscher Körper… Die Frauen sollen wissen, wie es ist…so als Mann!« Wut klang in Edis Stimme.

 »Deshalb bekleben Sie diese ausgeschnittenen Frauenkörper mit Haare..«, sagte Wagner.

 »Jaaa…», hauchte Edi und führte seine linke Hand zur seiner Hosentasche. Er zog etwas schmales, schwarzes dort heraus. Er hielt es hoch und schaltete es ein. Ein widerwärtiges, monotones Surren einesNasenhaarrimmers erklang neben Veros Ohr. Sie schloss ihre Augen. Ihre Atmung war ruhig.

»Jaaa…- mit ihren eigenen Haaren!» triumphierte Edi. Dann lachte er wahnsinnig.

Vero ertastete mit ihren Fingern ganz langsam ihre Kamera, die vor ihrer Hüfte hing. Mit ihrer Hand umschloss sie behutsam wie in Zeitlupe und mit festem Griff den Schaft des Objektives. Sie riss die schwere Kamera hoch, über ihre rechte Schulter hinweg und stieß sie Edi mit voller Wucht in sein Gesicht. Edi schrie auf. Er ließ den Nasenhaartrimmer fallen und fasste sich mit seiner Hand ins Gesicht. Im selben Augenblick zog Wagner Vero zu sich heran und weg von Edi.

 

»Los!«, gab Wagner das Zeichen.

Vero zögerte.

Edi schaute in seine Hand, an der das Blut haftete, das aus seiner Nase lief. »Du Miststück«, schrie Edi.

»LOS!«, wiederholte Wagner.

 

Vero rannte los. Sie riss die Brettertür auf und lief den Gang entlang. Sie erreichte die Treppe und lief sie hinauf. Sie stolperte. Mit ihren Händen landet sie ein paar Stufen höher. Die Kamera baumelte am Gurt. Vero richtete sich auf und lief weiter. Weiter die Treppe hinauf. Sie zog die Haustür auf und rannte hinaus in das Tageslicht. Sie lief den Bürgersteig entlang und rechts um die Ecke. Sie kam am Auto an, streifte sich den Gurt mit der Kamera ab, öffnete die Fahrertür. Sie stieg ein, warf die Kamera auf die Rückbank und schloss die Autotür. Sie startete den Leihwagen und fuhr ein Stück vor bis sie den Bürgersteig entlang zu Edis Haus gut einsehen konnte. Mit einem Arm griff sie zwischen die Vordersitze hindurch und wühlte in ihrer Reisetasche, die auf der Rückbank lag. Sie ertastete ihr Handy, zog es aus der Tasche heraus und legte es vor sich auf das Amaturenbrett. Sie lehnte sich vor, legte ihre Arme überkreuzt auf das Lenkrad, drehte ihren Kopf nach links und hielt den Bürgersteig unablässig im Blick. Was, wenn Wagner nicht wieder kommt? Sollte sie Edi einfach überfahren, wenn er statt Wagner das Haus verlässt? Sollte sie jetzt schon den Notruf wählen? Vero wischte sich den Schweiß von ihrer Stirn. Minuten kamen ihr wie Stunden vor. Dann sah sie ein aufgeschlitztes dunkelgraues T-Shirt und Beine in Jeans den Bürgersteig entlang auf den Leihwagen zulaufen. Erleichtert atmete Vero tief ein und aus. Wagner machte die Beifahrertür auf und stieg ein. An seinem Oberarm klaffte eine Schnittwunde. An seinem Wangenknochen hatte er eine kleine Platzwunde. Vero griff nach hinten zu ihrer geöffneten Reisetasche und holte sie nach vorne auf ihren Schoß.

 

Alex Wagner zog seine Augenbrauen zusammen. »Was ist das für ein komisches Sportgerät?«

»Das glauben Sie mir eh nicht…» Ihr drängte sich eine viel wichtigere Frage auf: »Wo ist Edi?»

»Er liegt schlafend in einer Kiste. Ich habe ein altes Fass zur Beschwerung auf den Deckel gestellt und einen Anruf bei der bei der Polizei abgesetzt. Sie werden ihn schon finden«, war sich Wagner sicher. Während Vero zuhörte, zog sie eilig ein Kleidungsstück aus der Reisetasche, wischte das herunter gelaufene Blut an Wagners Arm ab. Sie schlug das Kleidungsstück ein und drückte es auf die Wunde. »Drücken Sie das drauf«, wies sie Wagner an. Wagner drückte auf seine Wunde und sah Vero an. »Das war ein guter Schlag!« Vero schmunzelte und schüttelte zwei mal ungläubig den Kopf. Sie griff wieder in ihre Reisetasche und zog ein Kleidungsstück nach dem anderen heraus. Sie ließ sie, eins nach dem anderen, um die Tasche herum im Fahrerbereich fallen.

»Tragen Sie nur Schwarz?« fragte Wagner, der sich die durcheinander geworfene Kleidung ansah und nicht ahnte, was sie vorhat

»Nur so lange bis es etwas dunkleres gibt«, sagte Vero und guckte Wagner verschmitzt an. Dann fischte sie ein Oberteil, wie sie es trug, aus der Tasche und faltete es zu einer länglichen Binde zusammen.

»Wie praktisch… für Beerdigungen haben Sie jedenfalls kein Kleiderproblem», antwortete Wagner.

Vero wickelte die improvisierte Binde um Wagners Arm. Mit zwei Zipfelenden band sie einen straffen Knoten.

 »Das muss als Druckverband vorerst reichen«, meinte sie.

 

Alex Wagner sah ihr beim Handtieren zu. Sein Gewissens stach wie ein aufgebrachter Wespenschwarm. Ich hätte sie niemals mit hineinziehen dürfen! Niemals.

Vero holte ein Paar schwarze, zusammengerollte Strümpfe heraus.»Halten Sie sie auf ihre Platzwunde» ,sagte sie und hielt sie Wagner hin. »Sie sind gewaschen!« fügte sie hinzu. Wagner nahm die zusammengerollten Strümpfe und hielt sie sich auf seinen Wangenknochen.

Vero blickte in ihre nahezu geleerte Reisetasche. Bedächtig holte sie ein kleines Holzkästchen daraus hervor und hielt inne. Der Kriminalbeamte Wagner sah auf das Kästchen. »Was ist das für eine Holzart mit den vielen winzigen Astaugen?«

»Thuja. Der gewöhnliche Lebensbaum», antwortete Vero.

»So etwas habe ich in meinem Garten stehen?« wunderte sich Wagner.

»Wenn Sie lieber das Holz sehen möchten, könnten Sie Ihre Hecke mit einem Nasenhaartrimmer rasieren.«

Sie lachten beide. Vero fasste sich an ihre Stirn und schüttelte den Kopf. Dann legte sie das geheimnisvolle Kästchen zurück in die Reisetasche. Sie nahm die herumliegende Kleidung und stopfte sie über das Kästchen in die Tasche zurück, schloss den Reißverschluss und stellte die Tasche zwischen die Fahrersitze hindurch auf die Rückbank.

 

Leise aus der Ferne hörten sie die Sirenen von Polizeiwagen.

»Wollen Sie mit ihren Kollegen sprechen?«

»Nein. Auf diesen Stapel Papierkram habe ich keine Lust. Fahren sie los«, entschied Wagner.

 

Vero startete den Mitsubishi, schaute nach hinten, fuhr rückwärts die Seitenstraße entlang und schlug das Lenkrad am Ende der Straße um die Kurve ein. Dann legte sie den ersten Gang ein und beschleunigte den Wagen. Nur raus aus diesem Viertel und zurück nach Melbourne. Sie durfte Jules wichtiges Spiel in Tasmanien um keinen Preis verpassen, ging es Vero durch den Kopf. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr.

Die Tod bringende Dürre

Der schwarze Mitsubishi durchfuhr die letzten Straßen von Swan Hill und ließ den Ort hinter sich. Der Kriminalbeamte Wagner schloss auf dem Beifahrersitz ermüdet seine Augen. Er nickte leicht ein. Vero lenkte den Wagen mit einer Hand auf eine endlos erscheinende Straße aus Asphalt. Die hohen, dicht stehenden Bäume im grünen Saft links und rechts strömten kühlen, frischen Fahrtwind durch das ein Stück weit geöffnete Fenster der Fahrertür. Sie sah zu Wagner rüber, der in einen tiefen Schlaf gefallen zu sein schien. Als sich die Bäume lichteten, fielen Vero die warmen, goldenen Lichtstrahlen der tief stehenden Sonne ins Gesicht. Während sie den Wagen geradeaus hielt, genoss sie den Anblick der weiten Graslandschaft, die bis zum Horizont reichte. Nach einer Weile veränderte sich das blassgrüne Gras in eine beige Dürre. Einzelne kahle Bäume standen in den Weiten der Prärie. Der Sand der breiten Straße knirschte unter den Reifen. Mit jedem weiteren Kilometer wurde der Sand der Straße dunkler und färbte sich Rotbraun. Die niedrigen, grünen Büsche auf den Flächen des umgebenden Weges stimmten Vero skeptisch.

 

In der Ferne entdeckte sie ein wegweisendes Schild, das mit zwei alten Pfosten im Sand am Wegesrand steckte. Als sie die schwarzen Lettern ‚Broken Hill‘ auf gelbem Untergrund entziffern konnte, lenkte sie den Wagen nach rechts bis an den Rand des Weges, schlug das Lenkrad nach links ein und wendete im engsten Radius, den der Wagen hergab. Verdammt! Vero schlug auf das Lenkrad. Broken Hill ist die entgegengesetzte Richtung zu Melbourne!

 

Vero blickte zurück auf die Sonne, die sich langsam tiefer dem Horizont zuneigte. Wenn ich die Nacht durchfahre, schaffe ich es bis in der Früh noch nach Tasmanien. Sie drückte das Gaspedal durch. Hinter dem Wagen wirbelte eine rotbraune Staubwolke auf. Abwechselnd schaute sie von der Straße auf das Tacho und wieder auf die Straße. Die Landschaft wechselte zurück in die beige Dürre.

Wie aus dem Nichts sprang plötzlich ein kleines Kängurujunges direkt vor dem Mitsubishi. Vero bremste stark. Sie riss das Lenkrad nach rechts und wich dem Jungtier aus. Die rechte Hälfte des Wagens fuhr durch das niedrige Gestrüpp. Wagner holperte in seinem Beifahrersitz auf und ab. Er erwachte aus seinem Schlaf. Orientierungslos sah er sich durch die Autofenster um. Der rechte Vorderreifen rollte mit Wucht über etwas Hartes. Der Wagen machte einen Ruck. Das Lenkrad schlackerte. Der Mitsubishi eierte tuckernd einige Meter und kam zum Stehen.

 

Wagner faste sich an seinen Kopf. »Sie hätten mich ruhig etwas sanfter wecken können.« Wagner stieg aus und sah nach. Vero öffnete die Fahrertür, stieg ebenfalls aus und ging vorne um den Wagen herum zu Wagner. Sie sahen auf den zerfledderten Vorderreifen.

»Da war ein Kängurubaby! Das konnte ich nicht überfahren!» stieß es aus Vero hervor.

»Ein Kängurubaby!?« wiederholte Wagner. »Eins! Von wie vielen, die hier in Australien leben?« Wagner schaute sie mit hoch gezogenen Augenbrauen an. »Hätten sie es überfahren, würden Kängurus jetzt bestimmt auf der roten Liste der bedrohten Tierarten stehen!» 

Vero öffnete entsetzt ihren Mund und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Ich konnte nicht anders!« 

Wagner senkte seine Augen und ließ sein Kinn auf die Brust fallen. »Na schön», bemerkte er halblaut. Er ging zur Hintertür, öffnete sie, holte Veros Reisetasche aus dem Wagen und hängte sie sich über die Schulter. Dann schloss er die Autotür.

»Was haben Sie vor?»

»Wir gehen«, sagte Wagner. Er ging an Vero vorbei und deutete mit einigen Schritten an, sich auf den Weg zu machen. »Vielleicht gibt es hier eine Bushaltestelle.«

»Oh nein!» protestierte Vero. Sie setzte sich auf die sandverstaubte Motorhaube des schwarzen Wagens, stellte ihre Füße auf die Stoßstange und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

Der Kriminalbeamte Wagner drehte sich zu ihr um. Er hob seine Unterarme, seine Handflächen zeigten nach oben. »Sehen Sie sich um! Hier ist es staubtrocken und wir haben nichts zu Trinken dabei. »Dann blickte er in den Himmel. »Die Geier ziehen auch schon ihre Kreise.« Er drehte er sich wieder um und ging einige Schritte weiter den Weg entlang. »Satt werden die Geier nicht – bei der halben Portion… », fügte er hinzu.

Vero schnaubte vor Wut. Sie machte sich nicht die Mühe, in den Himmel zu gucken. Sie wusste, dass dort genauso wenige Geier flogen, wie es Bushaltestellen auf den Weg zurück nach Swan Hill gab.

»Ok. Fein! Dann gehen Sie doch, Herr Kriminaloberdingsda – «

»Hauptkommissar«, korrigierte er sie ohne sich umzudrehen.

»Von mir aus!« rief sie ihm hinterher. »Bis morgen früh werde ich niemals in Tasmanien ankommen! Ich werde das Spiel meiner Tochter verpassen!«

Wagner blieb stehen.

»Weil ich mit Ihnen unbedingt einen Psychopathen jagen musste», fuhr Vero fort. »Sie haben Ihren Fall gelöst, Applaus. Ich kann nicht mehr!«

Wagner drehte sich um und ging auf Vero zu, die noch immer auf der Motorhaube des Mitsubishi saß. Vor ihr blieb er stehen. »Die Sonne geht gleich unter. Ich habe morgen Abend auch noch einen Termin!« drängte Wagner. Dann hob er sie mit beiden Händen hoch, hievte sie schwungvoll bäuchlings über seine Schulter, drehte sich wieder um und ging los. Nachdem Alex Wagner einige Meter gegangen war, zappelte Vero auf seiner Schulter herum. »Schon gut, schon gut. Lassen Sie mich runter, mir steigt das Blut in den Kopf!«

Wagner setzte Vero ab und ging den Weg mit ihrer umgehängten Reisetasche weiter. Vero schnaubte erneut. Dann ging sie mit Abstand hinter Wagner her. 

 

Die Sonne lugte nur noch bis zur Hälfte über den Horizont hervor. Wagner drehte sich um und vergewisserte sich, dass Veros Füße sie noch trugen. »Wir nehmen den Bus!“

»Sehr witzig…»

»Ich meine den da!» Alex Wagner schaute mühelos über Veros Kopf hinweg und sah in der Ferne einen blauen Kleinbus mit einer dunklen Dachreling und einem Rammbügel. Der Kleinbus wirbelte eine rotbraune Staubwolke hinter sich auf. Vero drehte sich um und sah überrascht den Kleinbus. Sie hob ihre Arme und schwenkte sie wild hin und her. Der Kleinbus hielt. Wagner wandte sich an den vollbärtigen Fahrer mit sonnengebräunter Haut und mit zerknittertem Rangerhut: »Wir hatten eine Autopanne. Fahren Sie in Richtung Melbourne?«

»Ich habe Ihren Wagen liegen sehen, steigen Sie ein«, meinte der Fahrer freundlich und zeigte mit seinem Daumen nach hinten.

Vero war erleichtert. »Vielen Dank, Sie sind unsere Rettung!»

Der Kriminalbeamte Wagner öffnete die Hintertür vom Kleinbus und ließ Vero mit einer sanft schwingenden Handbewegung den Vortritt. Vero sah ihn an, verneigte ihren Kopf und stieg ein. Ehe sie sich auf die Rückbank setzen konnte, schob sie die Kühltasche zur Seite und legte einen Wanderrucksack davor in den Fußraum. Wagner reichte ihr die Reisetasche, die sie auf den Wanderrucksack stellte. Wagner stieg ein, zog die Autotür hinter sich zu und quetschte sich zu Vero auf die Rückbank. Der Kleinbus fuhr los. Während der Fahrt wippte der entspannt wirkende Fahrer mit dem Kopf und tippte mit seinen Fingern auf das Lenkrad im Takt zur Musik, die im Radio spielte. In diesem Moment liebte Vero das Geräusch, wenn niemand etwas sagte.

Sie begann unwohl zu frösteln. Vero zog eine schwarze Strickjacke aus ihrer Reisetasche, legte seitlich ihren Kopf auf Wagners Brust und deckte sich und ihn mit ihrer Jacke zu, die soeben ein Stück seines Bauches bedeckte. Wagners Schmunzeln sah sie nicht, aber sie spürte seinen Arme, die er um sie legte. Die Scheinwerfer des Kleinbusses glitten durch die Stille der Dunkelheit hindurch.

 

Geklapper von Alugeschirr und der Duft von gebackenen Bohnen und Speck weckten Alex Wagner und Vero. Es war taghell auf der Wiese des Campingplatzes. Vero fuhr sich mit beiden Händen durch ihr Gesicht als würde sie sich Knitterfalten aus ihrer Haut bügeln wollen und krabbelte aus dem Kleinbus. Wagner reckte sich, ehe er von der Rückbank aufstand und aus dem Kleinbus ausstieg.

»Guten Morgen! Frühstück?« begrüßte der vollbärtige Fahrer seinen gestrandeten Fahrgäste, während er auf einem kleinen Hocker das Rädchen seines Gaskochers drehte. »Auf dem Tisch steht Kaffee«, sagte er. Vero betrachtete die kleine Portion Bohnen, die für eine Person alleine nicht reichte. »Nein, vielen Dank, aber einen Kaffee nehme ich«, murmelte Vero verschlafen, goss Kaffee in zwei Tassen und gab Wagner eine davon.

»Wo müsst Ihr hin?«, fragte der Vollbärtige. Das Tageslicht offenbarte seine Falten in der sonnengebräunten Haut. Seine Augen leuchteten hell.

»Ich muss die Fähre nach Tasmanien bekommen. Wo sind wir hier und wie spät ist es?» fragte Vero den Besitzer des Kleinbusses

Der Vollbärtige Fahrer rührte in seinem Bohnentopf. »Wie spät es ist, weiß ich nicht. Zeit ist mir nicht so wichtig. Wir sind auf dem Campingplatz Big4 Toowoomba in Garden City. Wenn Sie die Fähre bekommen müssen, haben Sie Glück. Bis zum Hafen ist es nicht weit. Die Fähre nach Tasmanien fährt 1 mal täglich. Wann, weiß ich nicht.«

Vero nahm zügig einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse auf den Campingtisch. »Haben Sie herzlichen Dank, dass Sie uns mitgenommen haben. Und danke für den Kaffee«, sagte Vero zu dem Fahrer.

»Freut mich, wenn ich helfen konnte.« Er lächelte. Seine tiefen Lachfältchen gruben sich bis zu seinen Wangenknochen.

Vero schulterte ihre Reisetasche. Alex Wagner nahm sie ihr ab. »Ich begleite Sie zum Hafen. Sonst verlaufen Sie sich noch… «, sagte Wagner und zuckte kurz mit seinen Augenbrauen.

»Natürlich… und auf dem Rückweg von Tasmanien zurück zum Sheraton Hotel werde ich ohne Ihre Hilfe wohl möglich in Alaska landen», entgegnete Vero und schob Wagner zum Gehen an. »Wir müssen uns beeilen! Ich muss die einzige Fähre am Tag nach Tasmanien erreichen! Wenn es nicht schon zu spät ist… «  

Verstaubt in Tasmanien

Am Hafen lag die Fähre zum Ablegen bereit. Der Kriminalbeamte Wagner gab Vero die Reisetasche. Wagner suchte in der Hafengegend nach irgendetwas, das er mit seinen Augen fixieren konnte. Vero stellte sich auf ihre Zehenspitzen und legte ihre Arme um seine Schultern. Wagner legte seine Arme um ihren Rücken und drückte Vero sanft an sich. Als sie Wagner nach einem langen Moment los ließ, schauten sie sich in die Augen. Dann drehte Vero sich um und ging gemächlich über das wackelige Brett auf die Fähre. Sie wusste nicht, ob sie sich noch einmal umdrehen sollte. Einerseits hielt sie ihn für einen kühlen, arroganten Kerl, anderseits fühlte sie sich bei ihm geborgen und zu ihm hingezogen.

 

Wagner stand am Pier, steckte seine Hände in die Hosentaschen und sah ihr nach. Vero nahm die schmale metallene Treppe, die zum Deck führte. Nach vier Stufen drehte sie sich plötzlich um, lief die Stufen hinunter, öffnete ihre Reisetasche und balancierte mit eilender Leichtfüßigkeit das wackelige Brett an der Fähre hinab. Als sie vor Alex Wagner stand, holte sie ihr geheimnisvolles Kästchen aus Thuja-Holz heraus und öffnete den Deckel. Sie nahm einen länglichen, ovalen Stein heraus, der im Sonnenlicht schwarz durchschimmerte und legte ihn in Wagners Handfläche. Er sah sich den Stein an und sah dann zu Vero.

 

»Der Stein ist eine ‚Apachenträne‘, aber seine Wirkung ist nicht so traurig, wie sie klingt. Der Stein symbolisiert Kraft und Gesundheit. Sie können ihn besser gebrauchen als ich.« Vero schaute auf die improvisierte Stoffbinde an Wagners Arm.

 »Danke…» sagte Wagner und hielt einen Moment inne. Dann ließ er den Stein in seine Hosentasche gleiten. Behutsam legte er seine Hände in ihren Nacken und legte seine Daumen auf ihre Wangen. Er zögerte einen Moment und gab ihr einen Kuss auf ihre Stirn. »Pass auf Dich auf«, sagte er leise zu ihr.

Vero drehte sich um, ging über das wackelige Brett und die metallenen Treppe hinauf. 

 

Wagner stand da und steckte erneut seine Hände in die Hosentaschen. Er fühlte den Stein und schloss ihn in seine Hand. Ein brennender Schmerz erdrückte seine Brust und schnürte sie erbarmungslos zu. Das Brett wurde weg gezogen und landete laut hölzern auf dem Pier. Die schweren Taue wurden gelöst. Die Fähre legte ab. Wagner stand noch immer am Pier und sah der Fähre nach. Der zunehmende Schmerz schnürte erdrückend seine Brust fester zu. Du Idiot! Wie kannst Du sie nur gehen lassen? Wagner war verwirrt und irritiert. Sein sonst so klares, analytisches Denken funktionierte nicht mehr, wie er es gewohnt war. 

 Wagner nahm den Stein aus seiner Hosentasche und in die offene Handfläche. Die Sonnenstrahlen schimmerten durch das zart glänzende Schwarz. Er schloss seine Hand zu einer Faust und holte aus. Das Brennen in seiner Brust würde aufhören, wenn er den Stein einfach ins Wasser werfen würde. Ich brauche einen freien Kopf für den nächsten Fall, dachte er. Er schaute auf die See, die die Fähre als kleiner werdenden Punkt mit sich getragen hatte. Langsam nahm er seinen Arm hinunter und öffnete noch einmal seine Hand mit dem darin liegenden Stein. Er ließ den Stein in seiner Hosentasche gleiten, drehte sich um und ging. Bloß einen klaren Kopf behalten, bloß einen klaren Kopf behalten, ermahnte er sich selber.

 

Während Vero die ansteigende Einfahrt zum Haupthaus des Sportcamps hoch ging, richtete sie mit ihren Fingern ihre zerzauste Frisur und klopfte sich den restlichen rotbraunen sandigen Staub von ihrem schwarzen Oberteil und von ihren Hosenbeinen ab. Sie blieb kurz stehen, beugte sich hinunter und wischte mit ihren Fingern zügig über die Oberseite ihrer schwarzen Halbstiefel. Sie richtete sich wieder auf und ging weiter die Einfahrt hinauf. Jule saß in ihrer lilafarbenen, mit weiß abgesetzten Pants und Nylon-Sporshirt auf der Bank vor dem Haupthaus. Sie wippte mit dem Fuß ihrer übereinander geschlagenen Beine auf und ab. Sie wusste nicht, wie oft sie bereits auf ihre Armbanduhr geschaut hatte.

Die Trainerin steckte ihren Kopf zur Tür hinaus: »Hey Jule! Mach Dich fertig! Es geht bald los.«

»Ich komme gleich.« Jule senkte ihren Blick zum Boden. Ma darf nicht zu spät kommen und mein Spiel verpassen! Sie hat es mir versprochen! Sie seufzte. Jule stand auf und blickte die breite Einfahrt hinunter. Da entdeckte sie den Beginn eines dunkelblonden Haarschopfes, der ihr vertraut war. Durchströmt von Erleichterung und Glücksgefühlen rannte Jule die Einfahrt hinunter. Vero ließ ihre an der Schulter hängenden Tasche auf die Natursteinplatten der Einfahrt gleiten als sie Jule angelaufen kommen sah, hielt ihre Arme weit geöffnet und schloss Jule fest in ihre Arme. Wange an Wange gepresst atmete Vero tief durch. Nachdem sich ihre Umarmung löste, schaute Jule mit einer herunter gezogenen Augenbraue in das schmutzbehaftete Gesicht ihrer Mutter.     »Mama, wie sieht Du aus?«

»Meine Tasche machte… einen Umweg!«

 »Und da musstest Du noch eine Schlange vor dem Ertrinken retten, einem Krokodil ausweichen und geschlüpfte Schildkrötenbabies auf dem Weg zum Meer beschützen«, übertrieb Jule. Vero zog ihre Augenbrauen hoch: »So ähnlich… «

 Jule erblickte die am Boden stehende Tasche, aus der ein Griff herausragte. »Mein Volleyballschläger!« Ihre Augen glänzten. »Das Spiel beginnt in wenigen Augenblicken« drängte Jule. »Wir sollten uns beeilen!«

»Dann los!« entgegnete Vero und lächelte.

Klangvolle Klänge

 

»Wenn mich die Überfahrt mit der Fähre nur nicht so seekrank machen würde«, wehklagte Jule und legte ihr silbernes Besteck auf ihren leer gegessenen, weißen Teller. »Ich kann nicht fassen, dass wir gewonnen haben!« Jule lehnte sich zurück in die hohe Lehne des weißen Lederstuhls und strich sich mit ihren Händen über ihren Bauch im lachsfarbenen Abendkleid.

 

Vero saß ihr am Tisch gegenüber. »Das war ziemlich knapp! Mehr Spannung konnte ich auch nicht mehr aushalten«, antwortete Vero und lächelte Jule zufrieden an.

 

»Oh Gott, Mama… so ein Geisteskranker in dem Haus! Hattest Du keine Angst?« fragte Jule besorgt.

 

»Und wie!« gab Vero zu.

 

Eine adrette Dame mit Hochsteckfrisur in weißer Bluse und schwarzer Weste trat mit den Händen auf dem Rücken an den Tisch. »Die Damen, darf ich Ihnen noch eine Wunsch erfüllen?«

 

»Vielen, Dank, es war bezaubernd. Wir möchten bitte zahlen,« gab Vero höflich zurück.

 

»Sehr wohl«, nickte die Kellnerin und nahm das Geschirr vom Tisch.

 

Vero legte zart ihre Hand auf Jules Schulter und sie verließen gemächlich den Restaurantbereich. Mit der Menge festlich gekleideter Leute durchquerten sie die Eingangshalle des Opernhauses und stiegen eine weit ausladende, marmorne Treppe empor.

 

Das Licht im Opernsaal war abgedämmt. Der Vorhang öffnete sich. Die Bühne war erleuchtet, ein Lichtkegel fiel auf das schwarz glänzende Bechstein Flügel, das vor einem im Schatten sitzenden Philharmonie Orchester stand. Ein junger Mann im schwarzen Frack und mit einer Hakennase im Gesicht betrat die Bühne. Er stellte sich vor das Publikum, nahm seinen schwarzen, seidenen Zylinderhut vom Kopf und verneigte sich. Er setzte ihn wieder auf, ging zum Flügel, hob die Enden der Jacke seines Fracks an und ließ sie auf der Klavierbank sitzend hinter sich hinab fallen. Gott sei Dank kein weißes Kaninchen für Jule, dachte Vero und schmunzelte in sich hinein. Der junge Pianist begann zu spielen. Seine Hände schwebten wie schwerelos über die Tasten der Klaviatur. Eine wohlige Gänsehaut legte sich über Veros ganzen Körper, die den musikalischen Abend lang anhielt.

 

Alex Wagner ging mit Katja Beckertal die weite Marmortreppe im Opernahus hinab.

»Huhh. das Konzert dauerte ganz schön lange. Ich verstehe ja nicht viel von so ’ner Musik, aber das Klavier sah schon ganz schön cool aus«, sagte Katja.

 

»Es war ein Flügel«, antwortete Alex Wagner.

 

»Oh!« Katja kicherte. »Wie gut, dass es nicht weg geflogen ist.«

 

Alex Wagner sah zur Seite und verdrehte die Augen. »Ich hole uns etwas zu trinken«, sagte Wagner knapp und ging zur Bar. Mit 2 Gläsern Sun Dance, dem günstigsten Cocktail, den die Bar zu bieten hatte, kehrte er zu seiner Begleitung zurück. Er überreichte ihr ein Glas. Wagner legte seine Hand galant auf ihren Rücken und führte seine Begleiterin in einen ruhigeren Bereich nahe der großen Marmortreppe, abseits der übrigen Operngäste. Die beiden hoben ihre Gläser und stießen an. Alex Wagner rang sich ein Lächeln ab. Kann sie nicht einfach nur gutaussehend dastehen und nichts sagen?

 

Im selben Moment gingen Jule und Vero an die Bar. Mit einem Maiden’s Blush Cocktail stießen Vero und Jule auf den Sieg ihrer Mannschaft bei den ‚Internationalen Teuflischen Spielen‘ an. Anschließend schlenderten sie mit ihren Cocktail-Gläsern zurück in die Eingangshalle und ließen den Opernabend inmitten der festlichen Gesellschaft ausklingen. Jule schwärmte von dem musikalischen Talent des jungen Pianisten und bedauerte es, dass ihre Motivation sie zu frühzeitig verlassen hatte.

 

»Du kannst zu jeder Zeit wieder mit dem Klavierspielen beginnen. Du wirst auch schnell wieder – « Vero stockte. Ihr Lächeln verschwand. In diesem Moment sah sie durch eine Lücke in der Menschenmenge Alex Wagner in Begleitung einer Frau. Ihr mintfarbenes Abendkleid reichte bis zum Boden und legte eines ihrer langen Beine frei. Die kleinen weißen Steinchen an ihrem Träger funkelten im sachten Licht des Opernhauses.

»Ok. Fein. Das ist sein Termin heute Abend! Deswegen hatte er es gestern bei Sonnenuntergang so eilig, den Weg zu Fuß zurück zu gehen…«, sagte Vero halblaut, mehr zu sich selbst als zu ihrer Tochter. Jule wandte ihren Kopf und folgte dem Blick ihrer Mutter. Dann sah sie zurück und ihre Mutter mitfühlend an. Vero blickte zu Jule, streichelte ihr über die Wange und lächelte leicht.

»Es war ein langer Tag. Lass uns zurück zum Hotel fahren.« Jule verstand. Sie nahmen den letzten Schluck ihrer Cocktails, stellten die Gläser ab und verließen das Opernhaus.

 

Katja fuhr sich mit einer Hand durch ihr dunkelbraunes, gewelltes Haar und warf es über ihre Schulter zurück. »… und dann bin ich mit meiner Freundin einfach dahin. Das kannst Du doch nicht machen, sagte ich zu der, aber die hat es einfach gemacht!« Katja kicherte laut. »Die ist dann zu dem Typ hin und…. « plauderte sie fort. Doch Wagner hörte Katja nicht. Er nahm ihre Stimme nicht mehr wahr. In der Hosentasche seines Anzuges fühlte er mit seiner Hand sein Handy. Darunter fühlte er die länglich ovale Apachenträne und nahm sie in seiner Hosentasche in die Hand. Er starrte vor sich hin. Bilder tauchten plötzlich vor seinem inneren Auge auf: Er sah Veros Gesicht im Rückspiegel des Leihwagens… Danke, ich kann auf mich selber aufpassen! hörte er Veros Stimme wie hallend aus der Ferne… Er spürte wieder ihr rasendes Herzklopfen in der Nebenkammer im ‚Ruby Hair’… Er sah ihren nach hinten gerissenen Kopf mit dem Messer an ihrer Kehle… Er sah sie im Leihwagen… Drücken Sie das auf Ihre Wunde!… Er spürte wieder das wohliges Gefühl als sie während der Fahrt mit dem Kleinbus ihren Kopf auf seine Brust legte…

»Was’n los, Äläx? Geht’s Dir nicht gut?« fragte Katja.

Wagner rieb sich die Stirn. »Doch, mein Auftrag war nur etwas… anstrengend, aber der Fall ist gelöst.«

»Boah, das is‘ ja spannend!« staunte Katja. »Das musst Du mir mal alles in Ruhe erzählen!«

Wagner ließ den Stein in seiner Hosentasche los und griff nach seinem Handy. Blind navigierte er mit den Tasten einen Klingelton und ließ sein Handy klingeln. Dann zog er sein Handy aus der Hosentasche und nahm das Gespräch ohne Gesprächspartner an.

»Wagner«, meldete er sich. Er wartete ein paar Sekunden und sagte mit dem Klang von Wichtigkeit: »Alles klar, ich komme sofort!«

Katja sah Wagner bestürzt an.

Er drückte Katja sein gefülltes Glas Sun Dance in die Hand. »Es tut mir leid, ich muss los. Ein Notfall!« Ohne eine Antwort von Katja abzuwarten, verschaffte er sich durch die Menge der Operngäste behutsam, aber eilig einen Durchgang und erreichte den Ausgang. Auf dem Parkplatz stieg er in seinen Wagen, startete ihn und raste los. Zum Sheraton Hotel.

Der gesuchte Gesuchte

Wagner bremste scharf und blieb mit seinem Wagen abrupt vor dem Eingang des Hotels stehen. Er sprang aus dem Wagen. Er ließ die Fahrertür offen stehen und rannte in das Hotel hinein. Die hohe Theke der Rezeption stoppte ihn unsanft.

 »Ich möchte Vero sprechen«, sagte Wagner leicht außer Atem.

Der Hotelfachangestellte mit glatt nach hinten gekämmten Haaren stand im fein säuberlichen Anzug und mit einer Fliege am Kragen seines weißen Hemdes hinter der Rezeption.

»Oh, Sie meinen Frau Kempf mit ihrer Fräulein Tochter, der Herr. Fräulein Tochter führte ein außergewöhnliches, aber interessantes Sportgerät bei sich.«

»Ja ja, ihre Tochter ist sehr sportlich. Kann ich Frau Kempf sprechen?« drängte Alex Wagner.

»Frau Kempf beabsichtigte, mit ihrer Fräulein Tochter bis morgen früh in unserem Hause zugegen zu sein. Ich bedaure, der Herr, die beiden Damen reisten heute Abend vorzeitig ab – in einer vortrefflichen Abendgarderobe, wenn Sie mir erlauben zu bemerken, der Herr. Die Damen besuchten diese Abendveranstaltung.« Der Rezeptionist nahm einen gefalzten Veranstaltungsflyer aus Hochglanzpapier aus dem durchsichtigen Prospekthalter, der auf dem Tresen der Rezeption stand und überreichte ihn Alex Wagner.

‚Klassisches Konzert der Philharmonie im Opernhaus Melbourne‘ las Wagner auf dem Veranstaltungsflyer. Wagners Mund war leicht geöffnet, seine Augenbrauen zusammengezogen. Er sah vom Veranstaltungsflyer auf zu dem Rezeptionist. »Wo ist sie jetzt?«

»Ein Fahrer des Hauses brachte die Damen zum Flughafen, der Herr«, gab der Rezeptionist zu Auskunft.

»Vielen Dank!« Wagner knallte den Flyer auf den Tresen der Rezeption und rannte los. Er stieg in seinen Wagen, dessen Fahrertür noch offen stand, warf sie hinter sich zu und raste los. Er überfuhr eine rote Ampel und ignorierte quietschende Reifen, die er hinter sich hörte. Die Lichter der Straßenlaternen rauschten verschwommen auf und ab an ihm vorbei.

 

Alex Wagner stoppte seinen Wagen vor einer der großen Eingangstüren des Flughafens. Er stieg aus und rannte zum Eingang.

»Sie können nicht hier stehen bleiben!« rief ihm ein Taxifahrer hinterher. Der Kriminalbeamte Wagner sprintete in seinem Anzug durch die Eingangshalle. Er sprang über die Koffer von dastehenden Fluggästen. Er rannte. Er wich gehenden Leuten aus. Er atmete schnell. Wagner lief an der mit Menschen gefüllte Warteschlange im Leitsystem vorbei. Er steuerte direkt auf den CheckIn-Schalter der Aero Rescue zu. Eine junge Familie checkte gerade am Schalter ein. Wagner drängte sich neben den Familienvater. Der Kriminalbeamte zog seine ovale metallene Dienstmarke aus der Hosentasche seines Anzuges und zeigte sie der Mitarbeiterin hinter dem Schalter von Aero Rescue.

»Der Flug nach Schwalbenstrom, welches Gate?«

Die Mitarbeiterin der Airline hinter dem Schalter sah Wagner verstört an.

»Welches Gate?« wiederholte Wagner drängend.

»D 43«, antwortete die Mitarbeiterin auf Befehl.

Wagner rannte in den breiten Gang des Abflugbereiches, vorbei an Boutiquen und Parfümerien. Er lief rechts die Treppe hinauf. Er nahm zwei Stufen auf einmal. Am Ende der Treppe lief er ein Stück und rutsche unter die Bänder des Leitsystems hindurch. Er sprang auf, hielt den Sicherheitskontrolleuren seine Dienstmarke hoch und lief durch den Körperscanner hindurch.

Ein kräftige Mitarbeit der Sicherheitskontrolle fing Alex Wagner ab und packte ihn am Arm. »Halt, Stop! Nicht so schnell«, sagte der Sicherheitskontrolleur und sah sich Wagners Dienstmarke an. Der gestoppte Kriminalbeamte Wagner atmete schnell und holte mit seiner freien Hand seinen blauen Polizeiausweis hervor und hielt sie dem Sicherheitskontrolleur in Augenhöhe hin.

»Ich bin Kriminalhauptkommissar«, sagte Wagner beim Ausatmen. Aus der Innentasche seines Jacketts zog er das leicht zerknitterte Foto von Edward Hanson und überreichte es dem Sicherheitskontrolleur. Er ließ Wagner los.

»Lassen Sie den gesamten Flughafen nach diesem Mann absuchen. Er steht auf der Fahndungsliste ganz oben!« sagte Wagner mit bedrohlicher Ernsthaftigkeit und deute mit seinem Zeigefinger in der Luft tippend eindringlich auf das Foto.

Unverzüglich griff der Sicherheitskontrolleur an sein Funkgerät, löste es von seinem Gürtel und führte es vor seinen Mund.

 

Alex Wagner rannte los. Er rannte in den Gang hinein. Kurz blieb er stehen. Er suchte die richtungsweisenden Gate-Schilder ab, die von der Decke hingen. Er entdeckte Gate D 43 mit einem weißen Pfeil nach rechts. Wagner sprintete vorwärts und und bog in den Gang rechts ab. Mit Blick auf die Schilder nahm er den nächsten Gang links. Wagner entschleunigte seinen Spurt und ging fünf Schritte. Er blieb stehen. Vor sich sah er eine wartende Menschenmenge vor dem Schalter von Gate D 43. Langsam ging er einige Schritte näher.

Suchend betrachtete er die einzelnen Menschen. »Abendkleid, Abendkleid… Welche Farbe? Schwarz, was sonst?« murmelte er dabei vor sich hin. Konzentriert suchte er in der Menge der wartenden Fluggäste nach einer Frau in einem schwarzen Kleid. Seine Augen wanderten hin und her und wieder zurück. Sie muss hier irgendwo sein, dachte Wagner. Konzentriert suchte er genauer. Sein Blick blieb stehen. Er sah freie Schultern in einem engen kobaldblauen Kleid, das hüftabwärts von darüber liegendem, leichten Chiffon umspielt war. Es sah die vom Stufenschnitt im Nacken witzig nach außen gedrehten Haare.

 

Die ersten drei bewaffneten Männer in dunkelblauen Hosen und mit blauen Schutzwesten liefen hervor, stoben auseinander und positionierten sich mit festem Stand vor den wartenden Fluggästen. Die scharfen Augen unter ihren Cappies mit blau weiß kartierter Borde scannten jedes männliche Gesicht nach dem von Edward Hanson ab.

Wagner ging in die Menge, an wartende Passagiere vorbei und auf die Frau im kobaltblauen Kleid zu. Er legte seine Hände sacht auf die Haut ihrer Schultern und drehte sie um. Vero sah Alex Wagner überrascht an. Ihr Blick wurde skeptisch. Sie sah links und rechts an Wagner vorbei. Irritiert sah sie zurück zu Wagner. »Fliegst Du alleine? Wo ist deine Begleitung?«

Wagner verschnaufte kurz. »Sie stakst noch irgendwo in der Oper herum.«

Vero verzog wie vor Schmerzen mitfühlend ihr Gesicht. »Hoffentlich bricht sie sich auf den Stufen in der Oper nicht die Füße.«

»Von mir aus bricht sie sich den Hals«, entgegnete Wagner.

»Na!« ermahnte Vero ihn.

Alex Wagner winkte dezent ab. »Mein Flieger nach Heathrow geht morgen früh. Das Ministerium schickt mich an den Stadtrand von London. Ein vermögender Greis, der eine Hirschfarmzucht besitzt, wurde auf seinem Anwesen abgemurkst.«

Vero zog ihre Augenbrauen hoch. Dann nickte sie verständnisvoll.

Alex Wagner setze fort: »Ich werde meinen Flug umbuchen. Nach Schwalbenstrom.« Er schmunzelte, während weitere Polizisten in dunkelblauer Uniform den Wartebereich von Gate D 43 erreichten. Ihre Funkgeräte rauschten hier und da auf. Dunkelblaue Cappies mit der blau weiß karierten Borde bewegten sich unter den stehenden Fluggästen.

 

Überrascht sah Vero den Kriminalbeamten Wagner mit großen Augen an. Er sah in ihre Augen, legte zart seine Hände unter ihre Haare in ihren Nacken und legte seine Daumen sachte auf ihre Wangen. Er neigte sich leicht vor, führte ihren Kopf zu sich und legte zärtlich seine Lippen auf ihre. Vero schloss ihre Augen und legte ihre Arme um seinen Hals. Die Stimmen von den Gesprächsfetzen der fremden Fluggäste lösten sich auf. Sie nahm den wohligen Geruch seiner rasierten Gesichtshaut wahr.

Wagner löste seine Hände von ihrem Hals, schlang einen Arm um ihren Rücken, den anderen um ihre Taille und drückte sie sanft an sich. Mit seiner Hand fuhr er ihren Rücken hoch und spürte ihre weiche Haut zwischen ihren Schulterblättern. Er roch es wieder; ihr fruchtig frisches Parfüm. Als ihre Lippen sich voneinander lösten, öffnete Vero wie verzaubert ihre Augen. Alex‘ Herz pochte. Das Feuer, das sie in ihm entfachte, loderte. Er wollte sie nie mehr loslassen.

»Woah, ich habe für dieses Wasser gerade 4,50€ bezahlt!« hörte Vero ihre Tochter Jule empört sagen, die in ihrem lachsfarbenen Kleid mit der Reisetasche an ihrer Schulter auf Vero und Wagner zuging. »Das Glas habe ich mitgenommn!« sagte Jule bestimmt.

Vero sah zu Jule und lachte. Wagners Stirn legte sich in Falten. Er drehte sich um und sah mit fragendem Blick zu Jule und dann zu Vero.

Vero sah Wagner an und schmunzelte. »Sie kommt ganz nach mir!« sagte sie, zog ihre Augenbrauen hoch und zuckte mit den Schultern. Plötzlich bemerkte Vero die herrschende Hektik im Wartebereich des Gates. Unzählige Polizeibeamte eilten herum, hielten ein weißes Blatt in ihren Händen und befragten Passagiere. Einige Fluggäste standen in kleine Gruppen zusammen und tuschelten.

Vero sah besorgt zurück zu Wagner. »Was ist hier los?«

Wagner blickte in dem Wartebereich des Gates umher und ließ mit einem sachten Atemzug seine Lippen prusten. Er richtete seinen Blick wieder auf Vero. Er zog eine Augenbraue hoch und zuckte mit seinen Schultern.

Aus den Lautsprechern ertönte eine Ansage. »Die Fluggäste von Flug AB6023 werden gebeten, ihre Bordkarte bereit zu halten und sich zum Einsteigen an den Schalter zu begeben.« Alex Wagner gab Vero noch eine sanften Kuss. Dann drehte sie sich um und ging hinter Jule, die ihr die Bordkarte aus der Reisetasche reichte, zum Schalter. Wagner sah, wie die beiden in der Reihe von Passagiere ihre Bordkarten scannten, auf einen Treppenabgang zusteuerten und nach einigen Stufen hinabgehend verschwanden. Der Kriminalbeamte stand in dem vom Fluggästen geleerten Wartebereich von Gate D 43. Er ließ zwei eilig vor ihm vorbei laufende Polizisten in dunkelblauer Uniform passieren und schlenderte im Gate zu der großen Fensterfront, die bis zum Boden reichte. Er sah auf die am Durchgangstunnel angedockte Maschine der Aero Rescue. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen seine Anzuges. Alex Wagner spürte in sich eine erleichternden und zugleich tiefe Zufriedenheit. Ein wohlig warmes Glücksgefühl strömte durch seine Adern. Unterhalb vor ihm lag das weite ausgeladene Rollfeld. Er schaute darüber hinweg in die Ferne und stand zeitlos noch eine Weile da.

 

Vero verstaute ihre Reisetasche in das Handgepäckfach. Jule stand in der Sitzreihe 36. »Möchtest Du den Fensterplatz, Mama?«

»Es ist schon in Ordnung, nimm ihn ruhig«, sagte Vero und setzte sich neben Jule auf den Mittelplatz.

Das Flugzeug startete. Entspannt und glückselig mit ihren Gedanken an Alex lehnte Vero ihren Kopf zurück in den Sitz und schloss ihre Augen. Vorsichtig fuhr von hinten eine Hand zwischen Veros Mittelplatz und dem leeren Sitzplatz am Gang. Vero hörte ein Klicken. Ein widerwärtiges, monotones Surren eines Nasenhaarrimmers erklang neben ihrem Ohr.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.09.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für eine Blog-Auszeichnung habe ich weder Mühen, Schweiß, hemmungslosen Kaffeekonsum, noch literarische Fähigkeiten gescheut, eine Vorgabe von 7 absurden 'Reizwörtern' (Reizwortgeschichte), sowie ein persönlicher Gegenstand und ein geheimnisvolles Kästchen, in das ich etwas hinein legen soll, in Einklang zu bringen und mich damit auf die Reise zu begeben. Um den literarischen Künsten gerecht zu werden, musste ich von mir selber in der 3. Person reden. Das ist ok, das mache im Alltag auch immer. Und dann lachen wir beide. Mit viel Herzblut, aber auch harte Arbeit ist daraus ein spannungsgeladener Kurzroman (ich denke 'Thriller') entstanden, der die Luft in die Lungen presst und den Atem zum Stillstand bringt. Die 'Reizworte' sind für eine bessere Auffindbarkeit in kursive geschrieben. Haken Sie sich ein, wir werden einen unentspannten, düsteren Ort besuchen...

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