Nun stehe ich hier oben. Ich stehe hier, erlebe dieses wahsinnige Gefühl von Schwerelosigkeit und fühle mich großartig.
Diese Momente sind einfach unvergleichlich. Einzigartig. Jedes weitere Mal fühlt sich so an, als würde ich zum ersten Mal hier oben stehen. Es ist immer etwas Neues und wiederum etwas Altbekanntes, denn ich mache das hier nun schon lange.
"Hey Chris. Konzentrier dich!"
Der Ruf meines Vaters holt mich in die Wirklichkeit zurück.
Ich bewege mich langsam auf das Ende der Stange zu und steige dann hinab in unser Zirkuszelt.
Ja, hier fühle ich mich wohl. Ich bin hier aufgewachsen und kenne nichts anderes, aber das brauche ich auch nicht, denn ich habe nie irgendetwas vermisst.
Es ging mir immer gut. Ich habe meine Familie und meine Freunde um mich herum und solange es im Geschäft gut läuft, scheint diese Welt fast perfekt.
Aber nur fast.
Denn auch dieses Leben hat seine Schattenseiten.
Denn wenn es schlecht läuft, haben wir Schwierigkeiten, unser Überleben zu sichern, denn wir haben viele Tiere zu versorgen und ich habe schon einige meiner tierischen Freunde in diesen schweren Zeiten verloren.
Ich hatte mal ein Pony.
Ihr Name war Lissy.
Damals war ich noch klein und machte kleine, eingeübter Tricks mit ihr an unseren Showabenden vor und das Publikum war begeistert.
Wir mussten es verkaufen als es wirklich schlecht lief, da die Menschen kein Geld hatten und darüber hinaus unser Ruf nicht der beste war.
Ich war am Boden zerstört gewesen und eine Woche lang nicht mit meinen Eltern geredet.
Ja, der Applaus der Menschen ist meine Motivation und entschädigt alle Strapazen, die man im Training erlitten hat.
Denn dieses Gefühl ist einfach nur der Hammer.
Eines Tages bin ich dann aufs Hochseil umgestiegen und es hat mir schon damals viel Spaß gemacht, aber jetzt ist es meine Leidenschaft.
Es ist mein Lebensinhalt.
Aber jetzt mal weg von dem ganzen Poetischen, denn so bin ich wirklich nicht drauf.
Eigentlich bin ich das genaue Gegenteil davon, aber das Hochseil ist nun mal mein Leben.
Jedes Mal wenn ich dort oben stehe, fühlt es sich einfach so unglaublich an, dass ich am liebsten dort oben bleiben würde.
Es fühlt sich einfach so gut an, über den Menschen, über allem zu stehen.
Ich hatte natürlich auch so einige verrückte Ideen im Kopf, die ich gerne einmal dort oben tun würde, aber ich habe das meiste dann doch lieber sein lassen.
Ich musste mich ja schließlich konzentrieren.
Es sieht vielleicht einfach aus, wenn man von unten zusieht, aber oben ist es harte Arbeit.
Wisst ihr, wenn man dort oben bestehen will, muss man erst lange am Boden trainieren und man braucht viel Durchhaltevermögen und vor allem Spaß an der Sache, denn sonst kann man dieses Ganze hier quasi gar nicht durchstehen.
Natürlich hatte auch ich schon meine Phasen.
Ich bin schon einige Male gestürzt, aber mit ein wenig Glück sind diese Stürze immer gut ausgegangen und dafür bin ich dankbar.
Ich hatte zwar ein paar Prellungen und habe mir unglücklicherweise einmal den Arm gebrochen, aber das war ja gar nichts.
Gar nichts im Vergleich dazu, was mir jetzt passieren konnte.
Schon bei der kleinsten Unaufmerksamkeit konnte es gefährlich werden.
Sogar sehr gefährlich.
Diese Stürze würden jetzt nicht mehr so glimpflich ausgehen, wie meine harmlosen Stürze in der Anfängerhöhe.
Ja klar, jetzt sagt ihr bestimmt, wieso tut man so etwas, bei der Gefahr.
Die Antwort auf diese Frage ist leicht, allerdings nicht für jeden verständlich.
Ich denke jeder Sportler, der seinen Sport liebt, kann mich verstehen.
Es ist Leidenschaft. Leidenschaft, diesen Sport zu betreiben und es erfüllt mich jedes Mal mit Stolz ,wenn ich heile unten ankomme.
Ja, ich bin stolz. Auf mich und meine Leistungen und vielleicht denken jetzt einige von euch, was ist das denn für einer?
Das ist bestimmt so ein Angeber, der immer nur denkt, er wäre der Allercoolste, aber so bin ich nicht.
So bin ich wirklich nicht.
Ich habe lange dafür trainiert, jetzt auf diesem Niveau zu sein und werde weiter dafür kämpfen, noch besser zu werden und ich gebe nicht mit meinen Leistungen an, ich bin lediglich stolz, wenn ich nach meinem Auftritt mit Applaus beschenkt werde.
Und ich werde mich immer wieder auf dieses Seil begeben, egal wie oft mir meine Freunde, die nicht aus dieser berauschenden Zirkuswelt stammen, sagen wie verrückt ich denn wäre, so eine Gefahr auf mich zu nehmen.
Sie haben Angst.
Ok, am Anfang hatte ich auch Angst, aber das legt sich und daraus wird ein kleines Kribbeln im Bauch kurz vor dem Auftritt.
Dann lehne ich mich noch einmal zurück, lasse mir alles durch den Kopf gehen und besinne mich ganz auf mich und werde ganz ruhig.
Und dann kann es losgehen, denn dann bin ich total entspannt, aber das heißt nicht, dass ich nicht top-konzentriert und super vorbereitet bin.
Da gibt es allerdings noch so eine Motivation, die mich immer antreibt, weiter zu trainieren, auch wenn ich eigentlich nicht mehr kann.
Meinen Bruder.
Er ist diese Motivation oder besser gesagt, er war es.
Er ist vor einigen Jahren gestorben.
Ja, er ist tot und ich vermisse ihn.
Er war mein großer Bruder und er hat mich immer beschützt und wurde einfach so aus dem Leben gerissen.
Aber kurz vor seinem Tod hat er mir etwas anvertraut, was für mich sehr erschütternd und zugleich sehr wichtig war und heute noch ist.
Er hat mir gesagt, dass er nie zufrieden mit sich war und nie glücklich mit dem, was er getan hat und, dass er es zutiefst bereut hat, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben und dadurch nie glücklich geworden ist.
Er hat mir gesagt, dass ich das tun soll, was mich glücklich macht und was mich erfüllt.
Ich habe ihm daraufhin versprochen, für ihn zu kämpfen und ihn nie zu vergessen.
Ich werde mich nicht unterkriegen lassen und nicht aufgeben.
Egal, was kommt.
Ich denke immer an meinen Bruder kurz vor dem Auftritt und jetzt gerade ist es wieder soweit. Ich werde gleich dort hinaus gehen und dem Publikum eine grandiose Show bieten.
Und Kai ist bei mir.
Manchmal glaube ich wirklich, er stünde neben mir und würde mir auffordernd zunicken.Dann weiß ich, dass ich bereit bin.
Bereit, die Menschen mit dem, was mich glücklich macht, zu begeistern.
Auch wenn ich sonst eher weniger meine Gefühle zeige, meinen Bruder habe ich wirklich geliebt.
Wir waren ein Dreamteam und immer zusammen und deshalb ist es mir so schwer gefallen, ohne ihn weiter zu machen, aber ich hatte es ihm versprochen, denn das Hochseil war wirklich das, was ich liebte und daran war nichts zu ändern.
Nein, ich bin der Durchhalte-Typ und so wird es immer sein.
Ich werde dem Publikum heute einen neuen Trick zeigen, für den ich lange geübt habe und deshalb muss ich mich sehr konzentrieren, was mir heute schwer fällt, da der Todestag meines Bruders ist, aber ich muss konzentrieren, denn meine Eltern können nicht noch einen Sohn verlieren.
Jetzt stehe ich oben auf dem Seil und es kommt mir irgendwie alles komisch vor.
Irgendetwas ist anders als sonst, aber ich weiß nicht, was.
Ich gucke mich um und sehe aber nichts Unnormales.
Ich stehe auf dem Seil, unten steht mein Vater und das Publikum ist ganz gespannt, auf das, was kommen wird.
Es fühlt sich verkehrt an.
Es fühlt sich an, als würde mich etwas von innen zerreißen.
Ich weiß nicht, was es ist.
Auf einmal verliere ich den Halt unter den Füßen und ich fliege.
Ich bin schwerelos, ich spüre nichts und falle immer tiefer, aber auf einmal höre ich die Menschen schreien und ich merke, dass ich wirklich falle.
Ich falle.
Als ich denke, ich schlage bestimmt gleich auf den Boden auf und werde mir tausend Knochen brechen oder sogar sterben, wache ich auf und sehe in das Gesicht meiner Mutter, die an meinem Bett sitzt und mir beruhigend über den Kopf streicht.
Ich muss erst einmal Luft holen.
Das kann doch nicht wahr sein.
Immer wieder dieser beschissene Traum.
Er raubt mir den Schlaf.
Dann misst meine Mutter mir Fieber und meint, dass die Albträume bestimmt vom hohen Fieber kommen.
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Tag der Veröffentlichung: 03.05.2012
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