In einer Stunde geht der Mond auf.
Ich hatte also noch Zeit, um ein wenig zu schwimmen. Die Liebe zum Meer hatte sich innerhalb kürzester Zeit so stark vergrößert, dass mir jeder Tag, an dem ich nicht schwamm wie ein verlorener Tag vorkam. Als würde die Welt sich nicht mehr drehen. Als würde die Zeit stillstehen. Als würde mein Leben keinen Sinn ergeben.
Ein frischer Wind kam auf, bereitete mir eine Gänsehaut, die gleich wieder verschwand und man konnte das Meersalz riechen, das er mit sich trug.
Ich stand auf und strich das dunkelblaue Kleid zurecht, welches vom Sitzen ein paar unschöne Falten bekommen hatte.
Mein Blick glitt auf das Meer, dessen Wasser in sanften Wellen den Sand durchnässte, immer näher auf mich zukam, als würde es mich vermissen wie ein Liebender. Das Lachen, das meiner Kehle entwich, war glücklicher als die Momente, in denen mich meine wenigen Ex-Freunde zum Lachen gebracht hatten. Ich vermisste das Meer auch. Jede Sekunde, in der ich mein Leben an Land hasste. Also in letzter Zeit immer öfter.
Das Meer und ich, wir hatten eine solch starke Bindung, dass ich es niemals anschauen könnte, ohne gleich hineinzurennen. Ich konnte nicht widerstehen.
Als ich in die Ferne schaute, konnte ich noch einen winzigen Abschnitt der untergehenden Sonne erkennen. Dennoch zeigte sie mir eine bunte Explosion aus Orange- und Rottönen, die sich mit der Farbe des Himmels und den glitzernden Wellen vermischte.
Ich wünschte, ich könnte diesen Augenblick für immer festhalten, doch ich hatte meinen Fotoapparat nicht dabei. Also blieb nur die Erinnerung.
Verloren in mir selbst bemerkte ich das Wasser erst, als es mich an den Füßen berührte.
Es war angenehm kühl und ich hatte das Gefühl, als spürte ich jeden einzelnen Wassertropfen unter meinen Fußsohlen. Dennoch zuckte ich vor Schreck zusammen und wusste, dass jedes weitere Zögern und Träumen ein Ende hatte.
Schnell warf ich einen Blick hinter mich, doch der traumhafte Strand war leer.
Also rannte ich einfach ins Meer hinein und genoss dieses Gefühl von weichem Sand unter den Füßen und unzähligen Wasserspritzern auf der Haut.
Als mir das Wasser bis zur Hüfte reichte, sprang ich ins Wasser und schwamm los. Noch immer fühlte es sich komisch an, mit Klamotten zu schwimmen, da ich glaubte, sie würden mich in die Tiefe ziehen.
Doch im nächsten Moment war es da – dieses angenehme Kribbeln in meinen Beinen, welches sich langsam in meinem ganzen Körper ausbreitete. Ich schloss meine vom Salzwasser brennenden Augen.
Wie immer bekam ich für ein paar Sekunden einen Schreck, als ich meine Beine nicht mehr spürte, die Zehen nicht bewegen konnte. Es fühlte sich an, als würden meine Beine miteinander verschmelzen und eine starke, gemeinsame Einheit bilden.
Ich merkte, dass ich mich viel schneller fortbewegte. Dann löste sich der Druck in meiner Lunge, die angehaltene Luft wich blubbernd an die Oberfläche. Ich konnte es sogar sehen, weil meine Augen nicht mehr brannten und ich sie öffnen konnte. Und dann sah ich auch ihn, meinen Fischschwanz. Seine Schuppen glänzten mal bronzefarben, mal rötlich, er passte sich an jede Bewegung, jede Welle im Wasser an und war schlichtweg einfach nur wunderschön.
Mit einem Lächeln auf den Lippen hörte ich auf, meine Arme wie beim Brustschwimmen zu bewegen, da mein Fischschwanz die ganze Arbeit, durchs Wasser zu schneiden erledigte. Und als ich den Tatsachen ins Auge sah, beschlich mich doch der typische, sturköpfige Unglauben, die feste Überzeugung, dass ich alles nur träumte oder es so etwas einfach nicht gab. Doch meine Gedanken waren schneller. Ich verwandele mich innerhalb von Sekunden in eine Meerjungfrau.
Das Wort klang noch immer ein wenig ungewohnt und ich musste an die alten Legenden in den Kinderbüchern denken, die ich früher so gerne gelesen hatte. Niemals hätte ich mir erträumt, dass die Legende der Meerjungfrauen wahr sein würde. Und vor allem nicht, dass hinter dieser Legende offenbar viel mehr steckte, als wir je gedacht hatten.
Anfangs war es ein großer Schock für uns beide gewesen und wir hatten alles versucht, um diese Verwandlung zu stoppen, doch irgendwann hatten wir eingesehen, dass es nicht ging. Ich muss zugeben, ich war kein Mensch, der an Schicksal glaubte oder der Vergangenheit hinterherheulte. Doch als uns klar wurde, dass wir das, was geschehen war, nie mehr ändern konnten, hatte mir das sehr zugesetzt. Die schrecklichen Erinnerungen an das Erlebte kamen in mir hoch und ich versuchte, sie zu verdrängen. Denn kaum war ich ins Wasser gegangen, waren alle Ängste verschwunden. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so geborgen gefühlt. Im Wasser war es so wunderbar ruhig, mit jeder Bewegung, mit der ich mich nach vorne bewegte, fühlte ich mich freier und leichter. Ich fliege. Es ist, als würde ich fliegen.
Das Blau des Meeres verdunkelte sich mit jedem Zentimeter, mit dem die Sonne verschwand, doch es störte mich nicht.
Ich strich mir das blonde Haar nach hinten und sah mich um. Auf dem Meeresboden krabbelte ein Rochen, Sand wirbelte auf. An mir zog haarscharf ein Schwarm bunter Fische vorbei, sie waren so nah, dass ich nur die Hand ausstrecken könnte, um sie berühren.
Die Meerestiere akzeptierten mich. Ich war kein fremdes Wesen – ein Mensch – mehr, das in ihr Reich eindrang wie ein Fremdkörper. Ich gehörte zu ihnen.
Hier hatte ich das Gefühl, jeder würde mich verstehen, mir zuhören und dennoch war es nicht so hektisch und laut wie auf dem Land, es gab nur eine nicht enden wollende, faszinierende Welt. Ich konnte mich einfach in sie zurückziehen und niemand würde mich dabei stören. Und ich wurde schon seit langem das Gefühl nicht mehr los, dass das Meer mein Zuhause war.
Anfangs war mir der Fischschwanz fremd und ungewohnt vorgekommen, wie dieses Gefühl, wenn man seinen Gipsverband nach Wochen endlich losbekommt.
Und jetzt? Ich verbrachte fast den ganzen Tag im Wasser und manchmal kamen mir meine Beine fremder vor als der Fischschwanz.
Ich wurde wieder schlagartig ins hier und jetzt zurückversetzt, als ich vor mir etwas Helles, Funkelndes sah. Es wirkte, als würden die sanften Wellen es tragen, denn es flimmerte ein wenig, doch als ich näher schwamm, sah ich dass es von der Wasseroberfläche kam.
Neugierig schwamm ich nach oben. Zwei kraftgeladene Schläge mit meiner Schwanzflosse genügten und ich konnte auftauchen.
Der Himmel war inzwischen vollkommen dunkel, einzelne Wolken schoben sich vor die Sicht auf die unzählig glitzernden Sterne. Die Luft war kühl und der frische Wind benetzte meine Arme mit einer Gänsehaut.
Und dann sah ich ihn.
Er erinnerte ein wenig an die Sonne, deren Strahlen auf die Erde scheinen. So war es auch bei ihm. Mein Gesicht wurde von seiner Helligkeit fast geblendet.
Zuerst sträubten sich alle Fasern meines Körpers dagegen, doch ich konnte den Blick nicht vom Mond abwenden. Nein. Bitte nicht! Ich darf ihn nicht ansehen, ich darf nicht…
Doch es war zu spät. Meine Gedanken schienen immer zäher zu werden wie Honig, der nur sehr langsam auf die Erde fiel. Irgendetwas hüllte meinen gesamten Kopf ein und ließ mich nicht mehr klar denken.
Es war, als würde ich mich von meinem Körper lösen und zu ihm hinaufschweben. Ich spürte das kühle Wasser um mich herum nicht mehr, die gleichmäßigen Schläge meiner Flosse oder den Wind, der mir um das Gesicht strich. Es gab nur den Mond und mich. Er schien all meine Körperzellen mit Energie zu füllen. Ich fühlte mich wie neugeboren und dennoch so… zerbrechlich. Alle meine Sinne waren abgestumpft, seine Helligkeit brannte nicht in meinen Augen, die Kälte, die sich in mir ausbreitete, spürte ich nicht. Mein Körper war wie taub und dennoch fühlte es sich so wundervoll an, ich konnte nicht genug von diesem Gefühl bekommen. Nach einer Ewigkeit, die mir vorkam wie wenige Sekunden sah ich, wie der Mond langsam hinter einer großen Wolke verschwand. Atemlos starrte ich noch immer auf die Stelle hinauf, erst nach ein paar Sekunden wurden meine Gedanken wieder klar und ich spürte das Brennen in meinen Augen, die bohrende Kälte, die sich in meine Haut schnitt.
Doch irgendetwas war anders. Ich hatte ein seltsames, vibrierendes Summen im Ohr, das nicht verschwand. Außerdem fühlte sich mein Fischschwanz an, als hätte er auf einmal hundertmal so viel Energie und Kraft wie vorher.
»Und Alice hat sich immer vor ihm gefürchtet«, sagte ich abwesend und konnte sie überhaupt nicht verstehen.»Vor allem hat sie Angst. Sie verdient es nicht eine Meerjungfrau zu sein!«
Ich schaute auf das Wasser und sah mein Spiegelbild. In meinen Pupillen erkannte ich den Mond wieder und musste lächeln. Es war kein frohes Lächeln, es war bitterböse. Der Mond hatte mich fest im Griff und befahl mir etwas, das ich nur zu gerne erledigte.
Freitag, 20. August 1994
D A I L Y N E W S
Frauenleiche am Strand gefunden – Freundin vermisst
Am Mittwochabend wurde eine Frauenleiche von zwei Urlaubern am Meeresufer entdeckt. Die Polizei
bestätigte, dass die junge Frau ertrunken sei. An ihren Armen und am Hals wurden Kratzspuren gefunden.
Es handelte sich dabei um die 24-jährige Alice M., die seit dem vorigen Abend als vermisst galt. Auch ihre Freundin Victoria K. wird seitdem vermisst, Zusammenhänge sind nicht ausgeschlossen.
K. wurde zuletzt in einem Restaurant auf Honolulu gesehen. Dort trug sie ein blaues Kleid und rote Schuhe. Sie hat lange, blonde Haare und blaue Augen. Hinweise bitte an die jeweilige Polizeistelle.
Michelle war die Erste, die das Flugzeug verließ. Sie merkte sofort, wie die Temperatur anstieg und musste trotz der Aufregung lächeln. Ihre Wangen glühten und die Hände, die ihre große Tasche umklammerten, schwitzten.
Das alles war so… unreal. Vor ein paar Monaten hatten sie noch in ihrem langweiligen Dorf gehockt und darauf gewartet, dass irgendetwas Spannendes passierte. Und jetzt konnten sie vier Wochen lang endlich etwas erleben, weit weg von all den Dingen, die sie schon seit Jahren sehen musste.
Sie konnte sich noch gut an den Moment erinnern, als sie den Brief gelesen hatte…
Gleichmäßig ein-und wieder ausatmen, Michelle.
So sehr sie sich auch bemühte, dieses irre Gefühl, als würde sie Achterbahn fahren, verschwand nicht.
Sie war nicht einmal in der Lage richtig zu stehen. Ihre Beine waren zittrig und weich wie Gelee. Also sank sie wieder auf die Couch und starrte auf den laufenden Fernseher, ohne wirklich etwas von ihrer Lieblingsserie wahrzunehmen.
Michelle lief ein heißer Schauer den Rücken herunter. Ihre Gedanken schrien förmlich, was Sache war, doch ihr Körper hatte es offensichtlich noch nicht kapiert.
Sie fasste sich mit offen stehendem Mund an die Stelle, an der ihr Herz schlug. Man hätte meinen können, sie wäre gerade einen Marathon gelaufen, doch all dies hatte nur der Brief ausgelöst, den sie vor Schreck nach dem Lesen fallen gelassen hatte.
Das kann nicht sein. Das kann niemals sein.
Ihr Verstand setzte endlich wieder ein. Und dieser wollte, dass Michelle sich den Brief noch einmal durchlas.
Sie gehorchte und bückte sich langsam und roboterartig nach dem Brief.
Da stand es schwarz auf weiß: HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH, liebe Michelle! Deine beste Freundin und du habt den Hauptpreis bei unserer Verlosung gewonnen: Ein vierwöchiger Traumurlaub in Hawaii!
»Oh. Mein. Gott«, flüsterte Michelle mit weitaufgerissenen Augen. Jetzt hatte wirklich alles an ihr verstanden, dass sie die Hauptgewinnerin der Verlosung war, bei der sie und ihre beste Freundin Tori vor einigen Monaten mitgemacht hatten. Eine Reise nach Hawaii – vier Wochen!
Michelles Lippen bogen sich zu einem breiten Lächeln. Vor Freude schreien konnte sie jedoch nicht, ihr Hals fühlte sich an wie raues Schleifpapier. Dafür schnappte sie sich ihr iPhone und schickte Aria eine Whatsapp-Message.
Ariana schwitzte. Einzig ihre superbequemen Laufschuhe, die jeden Schritt abfederten waren der Grund dafür, dass sie nicht aufhörte.
Aber das war ihr Ziel. Geh an dein Limit.
Sie atmete den Duft der vielen Tannen ein, die sie um gaben und genoss es, nur ihre Schritte und ihren Atem zu hören.
Aria strich sich eine dunkelbraune Haarsträhne hinters Ohr und beschleunigte ihre Schritte. Für ihre Tanzstunden musste sie fit sein. Als Aria das Training direkt nach einer langwierigen Krankheit fortgesetzt hatte, hatte sie sich wegen fehlender Fitness den Muskel in ihrem Unterschenkel gezerrt.
Die schwüle Luft schien zentnerschwer auf ihren Kopf zu drücken. Mit jedem Schritt pochte etwas in Arias Kopf und sie verlor dadurch immer wieder die Konzentration.
Mit jedem Kilometer, den sie tiefer in den Wald gerannt war, hatte es sich immer mehr zugezogen. Jetzt drohten riesige, dunkle Gewitterwolken ihren Zorn auf die Erde zu lassen. Vielleicht tat eine kleine Abkühlung aber ganz gut.
Nein, widersprach ihr Verstand sofort. Sie sollte lieber schleunigst umdrehen. Ihr war bewusst, wie gefährlich Gewitter sein konnten - noch dazu in einem Wald.
Aria warf einen Blick auf den Himmel. Für einen letzten Spurt reichte es noch locker. Doch genau in dem Moment, als sie ihr Tempo beschleunigte, übertönte ein lautes Piepgeräusch ihren keuchenden Atem.
Sie zuckte vor Schreck zusammen und stolperte über ihre Beine. Ein stechender Schmerz fuhr in ihren Unterschenkel.
»Fuck!«, platze es vor Schmerz aus Aria heraus und konnte durch ihren guten Gleichgewichtssinn gerade noch verhindern, dass sie nicht hinfiel.
Sie blieb atemlos stehen und stütze ihre Hände auf die Oberschenkel. Mit geschlossenen Augen zählte sie langsam bis zehn und wieder zurück und hörte, wie sich ihr Herzschlag verlangsamte.
Nachdem sie ein paar Mal tief ein- und ausgeatmet hatte, kehrte ihre Kraft zurück. Vorsichtig ging Aria ein paar Schritte, doch ihr Bein schmerzte nicht mehr.
Fassungslos schüttelte sie den Kopf und kramte ihr Handy aus der Tasche ihrer blauen Jacke, um zu sehen, wer sie gestört hatte: ruf mich zurück!! Wir fliegen nach hawaii <3
Ariana runzelte die Stirn. Hawaii? Irgendetwas rief das Wort in ihr hervor, sie wusste nur nicht, was.
Natürlich hatte ihre beste Freundin Michelle die Nachricht geschrieben.
Mitch! Aria liebte sie wie die Schwester, die sie nie gehabt hatte. Sie kannten sich schon seit dem Kindergarten und waren unzertrennlich. Dabei waren sie unterschiedlich wie Tag und Nacht.
Während Mitch blond und hellhäutig war, besaß sie, Aria, die hellbraune Haut ihrer Mutter und die dunkeln, halblangen Locken, die sie sich immer glättete.
Aria musste Michelle oftmals zu etwas ermutigen, wenn sie sich nicht sicher war, während diese ihre Freundin häufig bremsen musste. Kurz: Sie hatten die perfekte Freundschaft. Natürlich stritten sie sich oft, manchmal auch heftig, doch sie konnten nie lange von einander getrennt sein und nach ein paar Tagen entschuldigte sich eine von ihnen sofort.
Wie hatte ihre Mutter früher dazu gesagt? »Gegensätze ziehen sich nun mal an, Liebes. Schau mich und deinen Dad an!« Sie hatte gelacht, Aria liebte ihr herzhaftes, offenes Lachen, dass sie immer wieder ansteckte, mitzulachen oder sie aufzumuntern.
Es war das letzte Mal gewesen, dass Aria sie lachen gesehen hatte, dann war Mom mit Freundinnen zum Essen gegangen und Aria hatte sie nie wieder gesehen.
Ihr Autounfall war zwar schon fast sechs Jahre her, dennoch nagte es immer noch heftig an ihr. Mit ihren zarten 14 Jahren war eine Welt für sie zusammen gebrochen. Seitdem hatte sich etwas in ihr gewaltig verändert, sie war nicht mehr so vorlaut und selbstbewusst wie davor, so… unbekümmert. Als würde ihr niemand etwas anhaben können.
Jetzt wusste Ariana, dass es immer etwas geben würde, was sich ihr in den Weg stellte, was sie immer zum Aufgeben ermutigen würde. Und damals hätte sie auch fast aufgegeben.
Aria wurde bei den Erinnerungen kalt. Auf ihren nackten Armen breitete sich eine Gänsehaut aus, obwohl sie schwitzte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Doch sie schaffte es, zu verhindern, dass sie ihre Wangen herunterrollten, indem sie sich mit aller Macht auf die Lippe biss. Es war die richtige Entscheidung gewesen, sich das Weinen zu verbieten. All die Jahre hatte sie dies so oft getan, bis sie irgendwann merkte, dass es nichts mehr brachte. Der Schmerz in ihrer Brust würde nicht verschwinden, ihre Mutter würde nicht wieder lebendig davon werden, nichts würde sich dadurch ändern.
Und außerdem war Ariana noch nie jemand gewesen, der sich gehen ließ. Dies war ihr erst recht bewusst geworden, als sie sich mit tränenverschmierten Augen aufgerappelt hatte und beschlossen hatte, sich das Weinen und das Aufgeben zu verbieten. Man konnte nicht der Vergangenheit hinterherheulen, wenn man genau wusste, dass es nichts änderte.
Genug Gründe, um die Schultern zu straffen, tief durchzuatmen und sich mit ein paar schöneren Gedanken zu beruhigen. Oder sich den Frust einfach von der Seele zu rennen. Damit hatte sie angefangen, als sie eines Abends gesehen hatte, wie ihr Vater weinte. Gabriel, der stets freundlich blieb und sich dennoch durchsetzen konnte. Gabriel, der geduldig mit ihr war und Aria viel zu sehr liebte, um sich mit ihr zu streiten. Gabriel, ein Mann, der viel zu glücklich war um zu weinen.
Aria wusste nicht, ob er bei ihrer Mom geweint hatte, doch er tat es, als er sie auf ihrem Bett liegen gesehen hatte, blutverschmierte Innenarme, ein Messer in der Hand, Tränen auf den Wangen.
Es drehte ihr zwar den Magen um, daran zu denken, doch irgendwie half es auch. Denn seitdem hatte sie es nie wieder getan und war – zunächst sehr widerwillig und nur Dad zuliebe – mit ihm zu einer Therapie gegangen, um den Tod ihrer Mutter besser zu verarbeiten.
Aria drehte sich um und konzentrierte sich wieder auf ihre Schritte, aber Moms fröhliches Lachen hallte in ihren Ohren und sie musste sich wieder auf die Lippe beißen.
Sie hätte nicht gewollt, dass du wegen ihr so traurig bist, ermahnte sie sich in Gedanken und seufzte. Mochte sein, dass sie ihre Ausdauer im Griff hatte – was aber ihre Verbote, die Gefühle und all die Erinnerungen anging, musste sie noch einiges lernen.
Michelle saß auf der roten Couch im Wohnzimmer und starrte das Bild auf ihrem iPhone an. Aria hatte es letzten Monat mit ihr gemacht. Es zeigte die beiden Freundinnen, die in die Kamera lächelten und unterschiedlicher nicht aussehen könnten. Aria mit ihrer milchkaffebraunen Haut, den dunkelbraunen, wie so oft geglätteten Haaren, die ihr knapp über die Schultern reichten, ihrem schmalen Gesicht und den herausfordernden, dunklen Augen mit den langen, schwarzen Wimpern sah wirklich wunderschön aus, fand Michelle. Aber auch sie selbst war gut getroffen: Die langen, honigblonden Haare umspielten in sanften Wellen ihr rundliches Gesicht und die grünblauen Augen stachen aus dem sonst so blassem Gesicht heraus.
Das Bild hatte über 100 Likes bekommen, was Michelle ziemlich freute. Ihre Instagram-Bilder erreichten höchstens 20. Aber das fand sie auch schon ziemlich viel.
Es lag wohl an Aria. Sie postete viel mehr, hatte mehr Freunde und Kontakte und sah auch wirklich hübscher aus als sie, musste Mitch sich ohne Neid eingestehen. Doch sie war darüber nicht sauer. Sie war nicht die beste Freundin, die im Schatten des Rampenlichts stand, sie war die beste Freundin die mit Ariana im Rampenlicht stand.
Rampenlicht konnte man es aber nicht nennen. Sagen wir einfach, sie ist beliebter als ich, dachte Michelle und lächelte. Ihr machte das nichts aus. Aria hatte ihr schließlich oft klar gemacht, dass ihr die Aufmerksamkeit zwar gefiel, sie aber tausendmal lieber mit ihr, Mitch die Zeit verbrachte.
Aria war ihre andere Hälfte, die sie komplett machte, zusammen waren sie stärker und besser als alleine. Genauso war es andersherum.
Je länger sie darüber nachdachte, umso mehr Worte fielen Mitch ein, die ihre Freundschaft zu Aria beschrieben. Ein Satz aber traf es wie die Faust aufs Auge.
Es war an ihrem Geburtstag gewesen und Aria hatte sich als Geschenk mehrere Sprüche ausgedacht, die ihre Freundschaft beschrieben. Das war wirklich süß von ihr gewesen, denn Aria hatte – im Gegensatz zu ihr – mit Sprüchen, Zitaten und Büchern absolut nichts am Hut.
»Viele nennen diejenigen besten Freundinnen, die einen auf Whatsapp mit einem Satz aufmuntern und tausend Herzen schicken.
Ich nenne diejenigen beste Freunde, die ihr Date absagen, durch die halbe Stadt rennen und bei ihrer Freundin mit Taschentüchern, Schokolade und einem fetten Lächeln auf der Matte stehen.«
Michelle scrollte lächelnd weiter. Die beiden Freundinnen machten ziemlich viele Fotos miteinander,
Als sie das nächste Bild sah, wurde ihr Lächeln breiter und sie erinnerte sich. Es war vom letzten Jahr, in dem Ari noch Haare bis zu Taille hatte. Sie hatten nebeneinander auf einer Wiese gelegen und dort ihre langen Haare als Herz geformt, Aria die eine, Mitch die andere Hälfte. Michelles ältere Schwester Anne hatte ihnen geholfen und das Bild geschossen.
Und jetzt würden die Freundinnen zusammen nach Hawaii fliegen – einfach der Wahnsinn! Mitch lächelte vor sich hin und malte sich in den schillerndsten Farben aus, wie es in dem Hotel wohl aussehen würde. Und dann erst das Meer… Sie war noch nie am Meer gewesen, Moms gesamtes Einkommen ging auf Klamotten, den Haushalt und die Miete drauf.
Das tat sie jetzt schon wieder. Die Veranstaltung machte ein Riesengeheimnis daraus, wie das Hotel aussah. Eine nicht besonders tolle Überraschung, fand Michelle, denn immer wieder beschlichen ihr die Zweifel, dass das Hotel total alt und schmutzig war. Sie dachte mit Grausem an die Dokusoaps in denen genau so etwas der Fall war: Die Urlauber buchten für tolle Luxus-Hotels, dann wurde ihnen vom Essen schlecht, der Pool und die Anlage waren total heruntergekommen und unter den Betten fanden sich tote Mäuse. Michelle ignorierte den Drang, sich zu schütteln und taumelte weiter in Richtung Ankunftshalle.
»Wir werden es überleben«, hörte sie Aria neben sich und legte ihren Arme um Mitch. Diese zuckte erschrekct zusammen und schaute Aria mit offenem Mund an, ahnungslos, wie sie die Buchstaben die auf ihrer Zunge tanzten zu Worten bilden sollte.
»H-habe ich... laut gesprochen oder… kannst d-du auf einmal Ge-Gedanken lesen?«
Arias Lippen bogen sich zu einem vergnügten Grinsen. Sie knuffte ihre Freundin in die Seite und schien ein Kichern zu unterdrücken. »Schön wenn wär‘s, wenn ich Gedanken lesen könnte! Irgendwie sieht man an deinem Gesicht was du gerade denkst. Du schaust so… nachdenklich und dann ängstlich. Und du hast mir ja schon oft die Ohren damit vollgeheult, was wäre, wenn das Hotel so ist wie in deinen komischen Soaps.« Ihre dunklen Augen funkelten vor Vergnügen. »War also überhaupt nicht so schwer, das herauszufinden.«
Michelle wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. In letzter Zeit war es auch anderen Leuten aufgefallen, dass sie ihre Gedanken unbewusst mit dem Gesicht ausdrückte. Sie rieb sich halb verlegen, halb nervös die feuchten Hände aneinander und schaute weg.
In diesem Moment drehte sich eine junge frau zu ihnen um. »Mädels! Ein bisschen zügiger, wenn ich bitten darf!«, reif sie lachend und hakte sich bei den Freundinnen unter. »Das werden die besten vier Wochen unseres Lebens!«
Mitch wusste schon wieder nicht, was sie darauf antworten sollte. Eigentlich sollten es die besten vier Wochen von ihr und Aria sein. Da hatte eine übertrieben fröhliche Stiefschwester, die als Babysitter fungieren sollte, nichts zu suchen.
Selbst wenn das Hotel der pure Luxus ist. Mit Megan fühlt es sich an wie in einem dreckigen, kalten Gefängnis. Vier Wochen lang.
Manchmal gab es Momente, in denen Aria ihre Freundin beneidete. Michelles Schwester Anne war total nett, fürsorglich und immer für einen Spaß zu haben. Natürlich gab es oft Situationen in denen sie sich lautstark stritten, doch seit sie auf ein College ging, das ungefähr tausend Kilometer entfernt war, hatten die Konflikte nachgelassen.
Und sie? Natürlich setzte das Schicksal ihr keine Bilderbuchschwester vor die Tür. Stattdessen eine 22-jährige Langweilerin, der es Spaß machte, sie herum zu kommandieren.
Vor rund einem Jahr hatte Gabriel seine Geschäftskollegin Sofia kennengelernt. Er wollte es sich nicht eingestehen, sich in sie verleibt zu haben, da er seine verstorbene Frau nicht hintergehen wollte.
Aria hatte dies zwar verstanden, doch je länger sie den beiden zuschaute, umso stärker wurde sie den Verdacht nicht los, dass auch Sofia ihren Vater mochte. Eigentlich wollte sie nicht, dass er eine neue Frau an seiner Seite hatte. So eine Art Stiefmutter für sie. Doch seit Moms Tod hatte er noch nie so glücklich ausgesehen, wenn er Sofia in die Augen schaute. Und wenn Dad glücklich war, dann war Aria es auch.
Sie hatte alles versucht, um die beiden zusammenzubringen (zugegeben, das meiste davon ging ziemlich daneben, erinnerte sie sich grinsend)und als ihr dann doch gelungen war, hatte sie das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Dad hatte ihr gleich klargemacht, dass Sofia vor erst nicht bei ihnen einziehen würde, die Erinnerungen an Mom hingen in jedem Winkel des Hauses. Und er hatte ihr zigmal beteuert, dass Sofia sich nicht als Stiefmutter geben würde. Aus Arias Kehle war ein herzhaftes Lachen entwichen, welches sich beinahe so anhörte wie das von Mom. Als auch Dad dies auffiel, musste er lächeln. »Mom hätte es also auch gewollt«, hatte er gesagt. Aria musste oft über diesen Satz nachdenken. Und jetzt war sie sich sicher: Mom hätte auch gewollt, dass ihr Mann wieder glücklich mit jemandem wird. Sie hätte es bestimmt nicht ertragen, ihn so zu sehen.
Irgendwo in mir lebt sie noch, vermutete Aria und lächelte.
Dummerweise hatten Sofia und Gabriel es für eine tolle Überraschung gehalten, ihr nichts von Megan zu erzählen bis zu eines Tages mit einem »Heeeey, ich bin Megan, Sofias Tochter. Deine Stiefschwester!« vor der Tür stand.
Aria hatte sie noch nie wirklich leiden können.
Sie hatte so eine Art an sich, die sich einfach nicht mit Aria vertrug. Stets gut gelaunt, voller positiver Energie geladen, aber insgeheim total langweilig.
Was konnte ein 17-jähriger Teenager mit einer sechs Jahre älteren Jurastudentin anfangen?
Megans Verhalten war schon fast krankhaft. Immer auf der Hut, keine Partys, kein Flirten, nur die Karriere im Kopf. Sie machte ihr eigenes Ding und ließ sich von niemandem davon abhalten.
Männer seien alle gleich und sie wolle nichts mit ihnen zu tun haben. Partys seien immer nur am späten Abend und sie stand jeden Morgen um acht Uhr auf. Jeden Morgen.
Gerade wegen ihrer Schwierigkeiten hatten Sofia und Dad es für eine noch tollere Überraschung gehalten, dass Megan sie auf ihrer Reise begleiten würde.
Das Wetter hatte es bereits geahnt, erinnerte Aria sich. Denn das Gewitter, das sich am Vortag bereits über ihre Stadt ausgebreitet hatte, wütete noch mindestens zwei weitere Tage unheilvoll über ihren Köpfen.
Mitch war bei ihr gewesen und sie hatte stundelang über Hawaii geredet. Während Aria hauptsächlich von den Sportarten, die man dort ausüben konnte und natürlich Jungs angetan war, freute Michelle sich riesig darüber in der Sonne zu liegen, braun zu werden und zu schwimmen. Aber auch die Tatsache, dass sie es sich in einem Luxushotel richtig gut gehen lassen konnten, war cool.
Als Aria gerade ihren Berg an Badeklamotten herausholen wollte, öffnete sich die Zimmertür und Megan kam herein. »Hallo Mädels!«, begrüßte sie die Freundinnen und ging auf das Bett zu. Ihre Schritte hallten auf dem Parkettboden nach.
Aria lies ihre Arme vom Kleiderschrank sinken und drehte sich genervt zu ihrer Stiefschwester um. »Was ist?«
»Ich habe großartige Neuigkeiten!« Megan setzte sich neben Michelle und lächelte sie an. Diese konnte nicht anders, als zurückzulächeln. In ganzseltenen Momenten war Megan nicht so unsympathisch.
»Wie ihr wisst, ist Gabriel immer noch ein wenig unsicher wegen Hawaii«, begann diese nun und strich sich eine imaginäre Falte ihres roten Strickkleides glatt. Ihre rotbraunen Locken tanzten dabei um ihre Hände. Sie sah wieder auf und ihr Blick glitt träumerisch in die Ferne, als würde sie gerade an die Insel denken.
Aria und Mitch wechselten einen misstrauischen Blick. Megan und träumerisch? Da kann ich ja gleich mit dem Lesen anfangen, dachte Aria mürrisch.
»Deshalb hatten wir jetzt die Idee, dass ich mit euch komme«, ließ Megan die Bombe platzen und schaute die Mädchen erwartungsvoll an.
Sekundenlang stand eine fassungslose Stille in der Luft.
»WAAAAS?«, schrie Aria dann entsetzt und war mit einem Satz bei Megan. »Das ist jetzt nicht dein Ernst oder? Wir sind beide bald 18, wir können machen was wir wollen!«
»Außerdem ist der Urlaub nur für uns Freundinnen!«, ergänzte Michelle entrüstet. Ihre Pupillen hatten sich von einer Sekunde auf die andere geweitet, als würden sie die Iris verschlucken.
Megan stöhnte genervt auf. Michelle fragte sich, wieso sie so überrascht von ihren Reaktionen schien. Was hatte sie erwartet? Dass sie sich freuen würden, weil sie Megan ja so sehr mochten?
»Euch bleibt doch nichts anderes übrig. Gabe fand diese Riese schon von Anfang an bedenklich. Hawaii ist meilenweit vom Festland entfernt, wenn euch etwas passiert…«
»Gabe? Ist das dein Ernst?« Aria lachte freudlos auf. »Du nistest dich hier ein als würdest du zur Familie gehören! Wer hat dich nach deiner Meinung gefragt? Und was um alles in der Welt hast du meinem Vater gegeben, dass er diese Idee unterstützt?« Sie redete sich regelrecht in Rage. Mitch verstand ihre Reaktion. Was fiel Megan ein, all ihre Pläne zu durchkreuzen?
Sie wollte ebenfalls ihrer Wut Luft machen, doch irgendwie fehlten ihr die Worte. Benommen, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen, rieb sie sich die Wange und hasste sich für einen Moment für ihre Feigheit.
»Ich weiß gar nicht, was du hast!«, schleuderte Megan mit geröteten Wangen zurück. »Wir drei auf Hawaii, das wird ein riesiger Spaß! Die Idee, mich mit zu nehmen, kam übrigens von deinem Dad persönlich. Ob wir nun zu dritt oder zu zweit sind, wenn interessiert’s. Hauptsache ist doch, ich kann als erwachsene Frau immer ein Auge auf euch haben – und dennoch Spaß haben.« Ihre geschwungenen Lippen bogen sich zu einem hämischen Lächeln und sie setzte sich aufrecht hin.
Aria stockte der Atem vor so viel Bosheit. Ihr Mund öffnete sich, doch als ihr die Worte nicht auf der Zunge lagen schloss sie ihn wieder.
»Das ist es also.« Michelle übernahm das Sprechen. Aber sie ließ die leichte Hysterie in ihre Stimme weg und versuchte, ruhig und fest zu klingen. »Du gehst nur mit, um gut bei Gabriel und Sofia dazustehen und gleichzeitig noch entspannt am Strand liegen zu können?« Sie unterdrückte den Drang, lauter zu werden und setzt dafür all ihre Wut in den Ton ihrer Stimme.
»Ich weiß, dass es euch nicht gefällt. Aber was bleibt euch anderes übrig? Gabe meinte, mit mir als Begleiterin schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Er kann ohne Bedenken seine Zeit mit Sofia verbringen und wir können uns in der Zeit besser kennenlernen und anfreunden.« Jetzt wurde Megans Lächeln wieder freundlicher und verlor an dieser unantastbaren Kälte.
»Ich fass es nicht. Wie dreist, kalt und falsch kann man denn bitte sein?« Aria fand ihre Sprache wieder und spie die Worte förmlich aus. In ihr brodelte ein riesiger Vulkan, der jeden Moment ausbrechen konnte. Sie ging näher an Megan heran und sah ihr tief in die braunen Augen. »Damit wirst du nicht davon kommen. Ich kenne meine Dad m Gegensatz zu dir. Niemals reise ich mit dir nach Hawaii!«
Diesen Satz hatte sie innerhalb dieser stressigen Tage voller Streit ungefähr tausendmal gesagt. Doch wer hatte auf sie gehört, ihre Meinung geteilt? Nur Michelle.
Ein kleiner Trost, dass wenigstens ihre beste Freundin hinter ihr stand.
Aber wenn sie schon mit Megan verreisten, dann würde diese ihre Wut auch zu spüren bekommen. Das hatte Aria sich fest vorgenommen und in ihrem Gehirn flogen schlagartig unzählige Rachepläne umher, von denen sie hämisch grinsen musste.
Doch zuerst mussten sie aus diesem Flughafen kommen. Von überall her strömten Menschenmengen, glückliche, braungebrannte Urlauber in der einen, verschwitze, gestresste Bleichgesichter in der anderen Richtung.
Und der Lärm erst – unzählige Gesprächsfetzen, Rufe, Durchsagen und hallende Schritten dröhnten in Arias Ohren. Kein Wunder –sie war ungefähr zehn Jahre alt gewesen, als si das letzte Mal geflogen waren. Sie war es einfach nicht mehr gewohnt.
Als die drei ihre Koffer erhielten, an den wenige Lädchen vorbeizogen und schließlich an der Eingangshalle antrafen, sahen sie eine Schar von Menschen, die Schilder mit Namen hochhielten, um die Neuankömmlinge sich besser orientierten. Das Hotel hatte Aria und Michelle geschrieben, dass ein Hotelangestellter sie am Flughafen abholen würde und sie zum Hotel brachte.
Als Aria an das Hotel dachte, wurde ihr erleichtert bewusst, dass Megan zumindest nicht in ihrem Zimmer schlafen würde. Da Geld in ihrer Familie, in der alle nur auf die Karriere besessen waren, keine Rolle spielte, hatte Sofia ihrer Tochter mit Vergnügen ein Zimmer im Hotel gebucht.
Ariana hätte es nicht ertragen, mit Megan in einem Zimmer zu schlafen. Wenn dieses Biest schon tagsüber um sie herum schwirrte, wollte sie wenigstens nachts in Ruhe mit Michelle reden.
Sie schreckte zurück in die Realität, als Michelle ihr einen aufgeregten Stoß in die Seite verpasste. »Auf dem Schild da vorne stehen unsere Namen!« Ihre Wangen glühten vor Hitze und Nervosität.
Aria folgte ihrem Blick und entdeckte einen jungen Mann, dessen Blick suchend über die Leute glitt.
»Das muss er sein», meinte Megan und schritt elegant und wie immer selbstbewusst auf den Mann zu.
Sie trug trotz der Hitze ein schwarzes , eng anliegendes Etui-Kleid mit orangen Streifen an den Seiten und High Heels, als würde sie nicht Urlaub machen wollen, sondern einen Geschäftstermin bereisen. Dennoch musste Aria sich eingestehen, dass Megan wirklich hübsch war. Die Locken, die ihr Gesicht umtanzten, machten sie jünger und betonten ihre blauen Augen. Auch ihre Figur war perfekt, kein Gramm Fett zu viel, aber auch keines zu wenig.
Eine jämmerliche Verschwendung, wenn man ihren Charakter betrachtet, dachte Aria spöttisch und folgte ihr.
Auch was die Begrüßung anging mimte ihre Stiefschwester ganz die Bürofrau.
»Hallo… J-U… A-N!«, buchstabierte sie den Namen mit einem Blick auf sein weißes Hemd, auf dem er eingestickt war und auf ihren Lippen zeichnete sich ein professionelles, strahlendes Lächeln.
Michelle biss sich fast die Lippe ab, um nicht laut loszulachen. Was für ein Kulturschock! So ziemlich jeder, der auch nur einen Hauch von Ahnung hatte, wusste, dass man den Namen Juan nicht so aussprach wie man ihn las.
Auch ihre Freundin musste sich das Lachen verkneifen. Juan ließ das ganze aber recht locker und gab Aria die Hand. Während sie sich begrüßten, sah Aria ihn an und musste feststellen, wie gut er aussah. Seine dunkelbraunen, vor Freude funkelnden Augen hatten definitiv Potenzial, um sich darin zu verlieren und schwarze, kurze Locken, ein braun gebranntes Gesicht und ein sympathisches Lächeln rundeten sein Aussehen ab. Aria erwiderte sein Lächeln. Und dann der Geruch! Sie atmete sein herbes Parfüm tief ein, es war beinahe dasselbe, das sie an ihrem Vater so sehr liebte. Sie bedauerte es schon fast, als er ihre Hand losließ
Nachdem auch Michelle von ihm begrüßt wurde, murmelte er grinsend hinter vorgehaltener Hand: »Amerikaner können mich auch John nennen.«
Megans Gesicht verwandelte sich schlagartig in das eines Diebes, der auf frischer Tat beim Stehlen erwischt wurde.
Aus Arias Kehle wich ein herzhaftes Lachen, obwohl sie sich verboten hatte, zu lachen bevor sie im Hotel angekommen waren. Megan sollte bloß nicht glauben, dass ihr die Anreise mit ihr Spaß machte.
Juan schlug in die Hände. »Also, Leute! Ich freue mich, euch die nächsten vier Wochen in unserem Hotel zu sehen und zu bedienen! Ich habe direkt vor dem Flughafen geparkt. Schafft ihr das noch?«
»Natürlich«, erwiderte Megan mit säuerlichem Gesichtsausdruck und stöckelte voran.
Aria musste zum zweiten Mal lachen. Sie hatte überhaupt nichts machen müssen, um sie aufzuregen.
»Das ist der letzte.« Michelle reichte Juan ihren großen, roten Schalenkoffer, der ihn scheinbar ohne jegliches Anzeichen von Erschöpfung in die Ladenfläche des rostigen Pick-ups verfrachtete, auch wenn es der Achte war. »Tut mir leid, dass ich euch mit meinem Auto ins Hotel fahren muss. Der Luxusschlitten war leider schon weg. Heute soll eine Millionärsfamilie anreisen«, erzählte er ohne großes Interesse, als wäre das jeden Tag der Fall und öffnete Megan die Beifahrertür.
Michelle sah sich noch einmal um. Wie wunderschön warm es hier war! Genauso in so einem Klima wollte sie erleben. Es wehte immer eine angenehme Meeresbrise, und der Himmel hatte den schönsten Blauton, den sie je gesehen hatte. Auch der Flughafen war von riesigen Palmen umgeben und wenn sie sich stark konzentrierte, konnte sie das Rauschen des Meeres hören. Sie liebte Hawaii jetzt schon. Dabei war dies erst der Anfang. Aufgeregt lächelten sich die Freundinnen an, als hätten beide das gleich gedacht und stiegen dann ebenfalls ein.
Kurze Zeit später fuhren sie auf einer schmalen, schlecht geteerten Straße am Meer entlang. Während Megan Juan in ein Gespräch verwickelte, klebten Michelles Augen staunend am Fenster. Der Sand war hell und bestimmt total weich unter ihren Füßen. Sie konnte es kaum erwarten, endlich vor dem Meer zu stehen, in die Ferne zu starren und ihre Sinne sprechen zu lassen.
Doch dann überkam sie eine große Erschöpfung wie eine gewaltige Welle, die einen mit sich zog. Knapp sieben Stunden Flug inklusive Verspätung, Wartezeiten und durch-den-Flughafen-Hetzen strengten ziemlich an. Dazu noch die Tatsache, dass sie in ihren nervösen Magen einfach nichts hineinbekommen und nur im Flugzeug etwas getrunken hatte.
Hinter ihrer Stirn pochten bereits die Schmerzen. Sie streckte ihre Beine, die ihn knappen Shorts steckten von sich, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Das letzte was sie hörte war Megans unermüdliches Geplapper, dann versank sie in dem Meeresrauschen, das in ihren Ohren hallte.
»Heeey! Hey, Mitch! Miiiitch…« Vor ihrem Gesicht schnipste jemand mit dem Finger herum. Es war unfassbar laut.
Michelle riss erschrocken die Augen auf. Für einen kurzen Moment wusste sie nicht, wo sie war. Ehe die Orientierungslosigkeit sie überfiel, erinnerte sie sich wieder. Sie saß im Auto und erkannte mit schläfrigen Augen Arias braunes Gesicht vor sich, die Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen. »Mitch, du siehst aus wie ein Waschbär! Wie konntest du nur in diesen fünf Minuten pennen?«
Michelle fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Dann gähnte sie laut und wurde schließlich lachend von ihrer Freundin aus dem Pick-up gezogen.
Juan hatte direkt gegenüber von dem Hotel geparkt. Nachdem Michelle beschlossen hatte, auf ihrer verschmierte Wimperntusche zu pfeifen, starrte sie das Gebäude an und ließ einen spitzen Schrei los.
Ihre erste Gedanke war: Gott, ist das riesig! Ihr zweiter: Ich träume.
Das Hotel sah aus wie ein Schloss. Strahlend weiß und mit etlichen Türmchen, Erkern und Fenstern mit goldenen Rahmen bestückt. Auf der Dachterrasse gab es – Michelle unterdrückte ein weiteres Kreischen – einen großen Pool mit einer Bar und sie konnte die Präsidenten-Suite sofort durch den riesigen Balkon mit Bogenfenster erkennen, der an den dunklen Geländern mit bunten Blumen bestückt war. Weil sie am höchsten gelegen war, gehörte die Dachterrasse bestimmt zu der Präsidenten-Suite.
Obgleich das Hotel in einem eigentlich langweiligen Weiß gestrichen war, so machten das die dunkelgrünen Efeuranken wieder wett, die sich an den Wänden hinaufschlängelten, als wollten sie die Perfektheit zerstören, was ihnen jedoch nicht gelang.
Um nervige Blicke von sabbernden, neidischen Menschen wie sie zu vermeiden, war die gesamte Anlage mit großen Palmen gesäumt; kurz – es war der reinste Wahnsinn.
»Oh Gott «, presste Michelle mühsam hervor und konnte ihre Augen nicht von dem Anblick lösen, alles um sie herum schien unwichtig zu sein, auch die Hitze, die auf ihre nackten Arme brannte. »Das ist das Hotel Kaimana?«
Als sie Juans Stimme mit dem leichten, spanischen Akzent hörte, wagte sie zu blinzeln und sich zu ihm um zu drehen.
»Nein«, antwortete er zu ihrer Überraschung mit ernster Miene und deutete auf ein kleineres, senffarbenes Gebäude gegenüber. »Das ist es.«
Michelle fiel die Kinnlade herunter. Es war, als hätte sie einen Stoß verpasst bekommen und von der Wolke sieben gefallen.
»Nee, oder?«, fragte Aria ebenso geschockt. Die Freundinnen blickten sich stumm an und ihren Augen stand die Verzweiflung. Auch Megan stand da wie angewurzelt, ihre Reaktion konnte man allerdings wegen ihrer großen, dunklen Sonnenbrille kaum erkennen.
Das Hotel hatte an den Hauswänden seltsame Flecken und sah auch ansonsten ziemlich heruntergekommen aus mit den paar, vertrockneten Büschen und einem verschmutzten, kleinen Pool.
In Michelles Brust machte sich ein stechender Schmerz breit. Das waren doch höchstens zwei Sterne! Sie hatte es doch gewusst, ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht. Das Ganze war die reinste Verarsche gewesen!
Im selben Moment lachte Juan schallend los. Er kriegte sich schier nicht mehr ein und verlor beinahe das Gleichgewicht vor Lachen. »Wenn ihr eure… Gesichter sehen… würdet!«
Die Freundinnen wechselten wieder einen Blick, ihr gingen schlagartig ein Licht auf und sie wandten sich entsetzt Juan zu. »Duuu!« Aria boxte ihm auf den Arm und gab einen Ton von sich, der sich anhörte wie ein Schrei und ein Lacher gleichzeitig. »Was fällt dir ein, uns eiskalt zu veraschen?«, keifte sie, musste aber danach gleich wieder lachen. Sie kannte ihn nur ein paar Minuten, doch irgendwie konnte sie ihm nicht böse sein. Immerhin hatte er es schon einige Male geschafft, Megan aufzuregen, das gefiel ihr…
In den Augenwinkeln sah sie, dass diese mürrisch den Kopf schüttelte und ihre Lippen sich zu einem umgekehrten U verformt hatten.
Michelle dagegen lachte herzhaft mit ihnen.
»Also, ich würde sagen, ich nehme eure Koffer und ihr macht euch schon mal auf den Weg in die Zimmer«, meinte Juan lächelnd nach einer Pause, zeigte ihnen den Weg zum Eingang und hievte dann den ersten Koffer, Arias riesiger, schwarz-weiß gemusterte Schalenkoffer aus der Ladenfläche des Pick-ups.
Von vorne sah das Hotel noch schöner aus. Auf der Wand über der großen, vergoldeten Eingangstür standen der Name des Hotels und fünf goldene Sterne, die darüber tanzten. Die Treppen darunter waren hellgrau und verliefen kreisförmig.
Je näher sie kamen, umso aufgeregte wurde Michelle. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, das Zittern in ihren Knien zu ignorieren. Aria schien es ähnlich zu gehen. Sie hatte die Haare zwar ebenfalls zu einem Dutt gebunden, dennoch perlte der Schweiß von ihrer Stirn, was ihr als Sportlerin aber nichts ausmachte. Auch kam aus ihrem Mund nicht das geringste Keuchen.
Megan dagegen sah aus, als wäre ihr die Temperatur egal. Jede Haarstöhne saß und auch ihre Schritte waren noch immer selbstsicher und stabil.
Nur das Hotel machte ihr noch zu schaffen und blickte sich immer wieder um. Neben der Eingangstür des Hotels stand ein Portier in dunklem Anzug, der die Neuankömmlinge lächelnd begrüßte, als schien er zu wissen, wer die drei waren. Aber kein Wunder, erinnerte Aria sich, bei der Verlosung hatten sie ein Bild von sich an die Redaktion schicken müssen. Und der Ankunftszeitpunkt war dem Hotel auch bekannt gewesen.
Das Innere des Hotels sah noch schöner aus als das Gebäude von außen. Ein schwarz-weiß marmorierter, gänzender Boden, schräg die Theke mit der Rezeption und in der Mitte der Halle ein riesiger Springbrunnen, auf dessen Spitze ein gläserner Delfin Wasser in verschiedene Richtungen spritzte. »Woooow!«, entwich es Aria, Michelle und Megan gleichzeitig und sie sahen sich mit großen Augen weiter um, konnten gar nicht genug von diesem Anblick bekommen. Ein paar Meter hinter dem Brunnen gab es eine breite, weiße Treppe mit schwarzen, verschnörkelten Geländern, die wohl zu den Hotelsuites führte.
Der Aufzug auf der anderen Seite war genauso atemberaubend. Riesige, durchsichtige Kapslen scheine lautlos hinaufzu gleiten.
Dann gab es noch eine Sitzecke von schwarzen Clubseseln und Gläsernen Tischen. Eigentlich hätte sie langweilig gewirkt, doch durch bunte Kissen und langen, herunterhängenden Lampen in Form von Hawaii-Blumen bewirkte es das Gegenteil. Der Kontrast zwischen elegantem Luxus und bunter Hawaiideko war bei jedem Blick aufregend.
Und dann gab es noch die Decke. Mitchs Atem wurde unregelmäßig, als sie dieses Kunstwerk sah, das sich über ihr bot. Unzählige Schnörkel in den wundervollsten Blau- und Grüntönen, die sie je gesehen hatte, vermischten sich zu einer Art Wasserlache, in der eine Meerjungfrau mit bronzenem Fischschwanz lag, die Augen geschlossen. »Oh mein Gott.« Sie blieb selbst dann noch stehen, als Aria und Megan sich langsam in Bewegung setzten. Wie konnte man nur so ein Meisterwerk vollbringen? Dieses Gemälde lud zum Träumen ein, und sie konnte ihren Blick kaum davon lösen. Für einen kurzen Moment hörte sie die staunenden Ausrufe der anderen nicht mehr oder einzelne Stimmen und Schritte. Sie spürte auch die Hitze nicht mehr die in ihr brannte oder die Müdigkeit, die sich um sie gelegt hatte wie eine Schlinge. Sie konnte nur noch das Bild anstarren, nichts anderes.
Doch dann verschwand das überraschend angenehme Gefühl wieder, als ihr Nacken zu schmerzen begann und sich die Tür mit Juan öffnete, der vier Koffer hineinschleppte und taumelte ihren… Begleiterinnen hinterher. So weit sind wir ja wohl noch nicht, als dass ich Megan als Freundin bezeichnen kann. Sie hat zwar seit ein paar Minuten ihren nervigen Mund gehalten, aber trotzdem.
Dennoch war sie irgendwie froh, als Megan an der Rezeption ganz bürolike zu sprechen begann, sie hätte vermutlich kaum mehr als ein hervorgequetschtes »Hallo« herausbekommen.
»Guten Tag, mein Name ist Megan Smith, das ist meine Stiefschwester Ariana Matthews und ihre Freundin Michelle Syke… -«
Die junge Frau mit mandelförmigen Augen und braungebrannte Haut, lächelte sie freundlich an. »Ich heiße sie herzlich willkommen im Hotel Kaimana! Sie sind also die erwarteten Gäste, die Gewinner.« Sie lachte freundlich und tippte etwas in ihren Computer ein. Michelle musste vor dieser Herzlichkeit lächeln.
Die Rezeptionistin gab ihnen drei blaue Karten, mit denen sie die Zimmer öffnen konnten, sowie Ersatz-Schlüssel und nannte die Zimmernummern. »Ich wünsche ihnen erholsamen Urlaub. Beachten Sie auch unsere Spa-Angebote, exklusiv für Gäste, sowie die Tauchschule und eine Inselführung, alles natürlich im Preis, oder im Gewinn, inbegriffen. Heute Abend um 20 Uhr findet die Begrüßungsfeier gemeinsam mit dem Abendessen statt. Unser Hotelpage wird ihnen sicher gerne alles zeigen.« Die roten Lippen verformten sich zu einem Lächeln. »Bei Fragen oder Problemen, wenden sie sich an mich. Viel Spaß auf Hawaii!«
»Vielen Dank!«, kam Aria Megan zuvor, die bereits ihren Mund geöffnet hatte, um zu antworten. Ihr Lächeln zeigte all die Freude, die in ihr herrschte. Sie vergaß ihre Stiefschwester, die unzähligen Probleme und Streitereien.
Gemeinsam mit ihrer Besten Freundin durfte sie für vier Wochen im Luxus leben, an einem traumhaften Strand entspannen. Wen interessierte der Rest?
Die Rezeptionistin befahl Juan, der also Hotelpage war, sie zu begleiten und dann gingen sie mit aufgeregt umherwandernden Augen auf den Aufzug zu.
In der Hotelhalle war nichts los, nur ab und zu waren entfernte Stimmen zu hören, eine leise Melodie tönte aus Lautsprechern und eine angenehme Brise – wohl die Klimaanlage – ließ die Schweißperlen auf den Gesichtern der drei verschwinden. Doch dennoch war Michelle glühend heiß vor Nervosität, als sie den Aufzug betraten.
Die Türen schlossen sich lautlos und während Aria und Juan lachend miteinander redeten (oder wohl eher flirteten) lehnte sie sich mit geschlossenen Augen gegen die Glaswand. Höhen- und Platzangst waren ihre größten Schwächen, doch dafür war ihr Gehirn zu schwach. Das einzige, an das sie denken konnte waren die vier Wochen, die ihnen bevorstanden.
Wie sich das anhörte – als würde es eine Strafe sein! Nein, es war keine Strafe im Gegenteil. Doch wieso musste sich Michelle immer wieder fragen, warum sie das verdient hatte. Das Schicksal meinte es doch nie gut mit einem. Irgendwann rächte es sich und die heile, harmlose Welt fiel in sich zusammen. Und weil Mitch immer in dieser harmlosen, aber nicht heilen Welt gelebt hatte, wusste sie, dass dieser Moment kommen würde.
Dann blieb der Aufzug stehen und mit ihm verschwanden die Zweifel aus Michelles Gehirn.
Entweder ich habe zu viele Drama-Bücher gelesen, ich gönne mir nichts oder ich habe einfach Schiss, an vier Wochen voller Spaß zu glauben.
Irgendwo musste es doch einen Ausschaltknopf für dieses dumme Ding geben, dass sich Gehirn nannte!
Mitch hatte eigentlich gedacht, die Zeit mit der selbstbewussten Ariana hatte sie verändert. Von wegen – das schüchterne Mauerblümchen schlummerte immer noch irgendwo in ihr drin.
Doch es verschwand schlagartig ins Jenseits, als Aria mit zitternden, schweißnassen Händen die Tür der Suite 290 öffnete und ihr Mund dann vor Schreck aufklappte.
Ihr Kopf drehte sich zu Aria, in deren Augen sich ungefähr dasselbe widerspiegelte wie in ihrem Inneren.
»Oh. Mein. Gott.« Alles, was sie herausbekam, war ein heiseres Krächzen.
Das, was sie sahen, übertraf all ihre Erwartungen und das, was bereits in der Hotelhalle gesehen hatten.
Was Michelle als erstes ins Auge fiel, war die riesige, schwarze Designercouch, die gegen einen noch größeren Flachbildfernseher gerichtet war.
Dann erblickte sie den strahlend weißen Balkon, dessen Tür geöffnete war. Der weiße Vorhang, der an einen Schleier erinnerte blähte sich immer wieder von dem salzigen Meereswind auf. Doch was sie daran beeindruckte war die Sicht, die man von dort aus hatte. Mitch ging wie in Trance auf den Balkon zu.
Egal, in welche Richtung sie schaute, jeder Blickwinkel verriet, wie wunderschön diese Insel war. Das Meer sah von oben noch schöner aus als es sowieso war. Auf jeder Welle spiegelte sich das funkelte Sonnenlicht wieder, in der Ferne konnte man eine andere Insel erkennen und wenn Michelle sich konzentrierte, glaubte sie leise Musik zu hören.
Sie wusste nicht, wie lange sie so, immer tief die Meeresbrise einatmend und lächelnd dagestanden war, doch als Aria loskreischte, öffnete sie ihre Augen wieder.
Ihre beste Freundin schien sich nun ebenfalls aus ihrer Starre gelöst zu haben und hüpfte kreischend auf und ab, ehe sie auf Michelle zu rannte und sie so fest umarmte, das dieser Luft wegblieb. »Ich liebe es!«, schrie sie ihr ins Ohr und Michelle jubelte mit, während sie sich den Rest des Zimmer ansah.
Die Möbel und Schränke waren allesamt schwarz, hatten jedoch weiße Türen mit Vierecken in verschiedenen Blautönen und Größen.
Als sie ihren Kopf in Richtung Decke drehte, stockte sie. Die Decke war hell und hatte dieselbe Bemalung wie in der Empfangshalle, doch die Meerjungfrau hatte die Augen geöffnet und ihr Fischschwanz war blutrot. Über dem Sofa hing ein riesiger Kronleuchter, der aus unzähligen, hawaiianischen Blumen bestand.
In eine Ecke stand ein langer Tisch aus dunklem Holz, gegenüber einem großen, weißen Kühlschrank mit einer kleinen Küchenzeile und einer riesigen Kaffeemaschine. Nachher muss ich mir unbedingt einen machen, dachte Michelle sehnsüchtig.
Auf dem hellen Boden lag ein schwarzer Fellteppich, dessen weiche Fäden sich an Michelle mit Sandalen bestückten Füßen schmiegten.
Die Wände des riesen Raumes waren zwar weiß, doch überall hingen Bilder. Ein atemberaubender Sonnenuntergang, und ein ausbrechender Vulkan fielen ihr sofort ins Auge.
Aria löste sich von Michelle und auf die Tür auf der einen Seite zu.
Mitch öffnete die andere und betrat ein wunderschönes Schlafzimmer.
Es war schmal, aber dennoch geräumig. Links und recht in den Ecken standen riesige, weiße Himmelbetten und die gesamte Gegenüberliegende Wand bestand aus hohen, schwarzen Kleiderschränken. Mitch stand im Türrahmen und wagte es nicht, das Zimmer zu betreten. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als würde sie in einer riesigen Blase spazieren, die jeden Moment platzen konnte. Doch sie wollte diesen Moment nicht zerstören.
Sie wagte es noch nicht einmal, etwas zu berühren. Denn das krasseste an diesem Zimmer waren nicht die riesigen und bestimmt super bequemen Betten oder diese edle schwarz-weiße Einrichtung.
»Aria! Oh Gott, Aria komm schnell und schau dir das an!«, schrie Mitch voller Begeisterung, doch ihr Gesicht bleib vor Schock ausdruckslos. In ihr herrschten dieselben Gefühle wie damals, als sie den Brief von der Verlosung erhalten hatte, nur noch mindestens hundertmal intensiver.
Ihr war egal, ob die Seifenblase zerplatzen würde, sie lehnte sich gegen den breiten, schwarzen Türrahmen und schloss die Augen um die Freudentränen zu unterdrücken. Der absolute Wahnsinn.
»Wow«, hauchten zwei Stimmen hinter ihr. Michelle drehte sich um und sah Megan, die bleich und erstarrt auf das Zimmer blickte. Ihre Pupillen wurden größer und die Augen huschten flink im Zimmer hin und her. Sie schein einen Moment ihre Spießigkeit zu vergessen und gab sich ganz dem Traum hin, den sie gerade durchlebten. Sie war vorhin mit Juan in ihr Zimmer gegangen, der ihr Gepäck dort abgeladen hatte.
Auch Ariana war zunächst still. Michelle hörte nur ihren warmen, schnellen Atem hinter sich.
Doch dann überfiel sie die grenzenlose Freude. Die drei fielen sich in die Arme und Mitch vergaß, dass sie Megan nicht ausstehen konnte.
Für dieses Zimmer würde ich sogar in Kauf nehmen, es mit Megan zu teilen.
Aria wagte es dann als erste, ins Schlafzimmer zu laufen. Ihre Flip-Flops gaben auf dem Holzboden bei jedem Schritt einem seltsamen Klacken. Die Wand, an der die Betten standen, war nur etwa drei Meter entfernt. Doch genau zwischen ihnen gab es ein zusätzliches Zimmer, quadratisch und türenlos.
»Kneift mich mal bitte einer«, seufzte Aria verträumt. Darin hing eine riesige, weiße Hängematte mit blauen Mustern auf der linken, ein großer Fernseher, scheinbar in die Wand gemeißelt auf der geneüberliegenden Wand. Es wirkte so gemütlich, sie hätte ihren müden Körper am liebsten sofort in die Hängematte geworfen. Doch dann entdeckte sie noch etwas und vor Freu machte ihr Herz einen Hüpfer. »Hier ist noch etwas!«
Aria lief aufgeregt in das Extrazimmer, wo ein angenehm dämmriges Licht herrschte und bedeutete den anderen, ihr zu folgen. Verborgen in einer dunklen Ecke bog sich eine kleine, schmale Wendeltreppe nach oben.
Ariana und Michelle wechselten ein verschwörerisches Lächeln. Was mochte sie dort oben erwarten?
»Jetzt bewegt euch schon!«, zischte Megan hinter ihnen drängend. Scheinbar platz sie auch gleich vor Neugierde. Ihr Zimmer ist bestimmt nur halb so schön, dachte Aria und unterdrückte ein Lachen, während sie vorsichtig die Stufen erklimm. Ihre Füße waren relativ groß und sie musste aufpassen, nicht zu stolpern oder in die Leerräume zwischen den Stufen zu fallen. Mit den Flip-Flops noch eine zusätzlicher Herausforderung.
Konnte man ihre Begeisterung eigentlich noch steigern?
Die Antwort war eindeutig.
Der obere Raum war von unten nicht zu sehen gewesen, ums erstaunter waren die Laute, die aus den Mündern der drei Frauen kamen.
Vor ihnen erstreckte sich eine in die Länge gezogene Fläche aus hellgrauen Fliesen. An der einen Wand stand ein Regal voller Gläser und Strohhalme, daneben ein hoher, weißer Kühlschrank. Davor gab es doch tatsächlich so etwas wie eine kleine Bar aus einem länglichen Theke und bunten Hockern im hawaiianischen Stil aus Bambus.
Das Beste war jedoch der ovale Whirlpool in der Mitte des oberen ‚Stockwerkes‘. Er war direkt im Boden eingelassen und konnte bestimmt Platz für vier Personen bieten. Aria entdeckte einen schwarzen Anschaltknopf am Beckenrand und drückte spontan darauf. Dann streifte sich einen pinken Flip-Flop vom Fuß und streckte ihn vorsichtig in das sprudelnde Wasser. Es war die beste Massage ever. Feines Prickeln drang in ihre Haut ein und ließ das Ziehen in ihrer Ferse beinahe verschwinden.
In Ihr herrschte schlagartig eine angenehme Rue und sie schloss genießerisch die Augen. »Wahnsinn!«
*KAPITEL NOCH NICHT BEENDET (vllt. wird es noch geteilt, es scheint ja echt lang zu werden xD)*
Texte: © 2014 by Helen Raach
Bildmaterialien: © by J.K. Bloom
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch allen Fans vom Wasser und vom Meer*-* Und J.K. Bloom für dieses wundervolle Cover ♥♥