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Kapitel 1

Mit zitternden Fingern schaltete ich den Duschstrahl ab, stieg aus der Dusche und hüllte mich in meinen weichen Bademantel.
Beängstigt starrte ich auf die unzähligen Tropfen auf meinem Körper, die langsam zu meinen Beinen herunterrannten.
Ich biss mir auf die Lippe, um nicht zu schluchzen und kniff die Augen zusammen, um zu verhindern, dass die sich angesammelten Tränen aus mir herausbrachen.
Ich wusste nicht, warum ich so dermaßen Angst vor Wasser hatte. Ich wusste nur, dass etwas in mir drinnen war, das diese Panikanfälle hervorrief.
Es war völlig egal, ob ich badete, duschte,  mir die Hände wusch oder auch nur einen Schluck trank: Dieses komische Panikgefühl überfiel mich jedes Mal wie ein dunkler Schatten, der mich auffressen wollte, wenn ich mit Wasser in Berührung kam oder es sah.
Wenn das passierte, hatte ich immer das Gefühl, mir würde das Blut in den Adern gefrieren, obwohl ich äußerlich in Schweiß ausbrach.
Es fühlte sich an, als würde ich in Gefahr schweben, obwohl das Wasser mir nichts tat.
Ich fürchtete bei jedem Wassertropfen um mein Leben und könnte mich jedes Mal ohrfeigen, wenn ich danach noch immer existierte.
Während ich mich trockenrieb, versuchte ich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, bis das Gefühl verschwunden war und der Schatten sich zurückgezogen hatte.
Dann zog ich einen schwarzen Pullover mit der pinken Aufschrift ‚Not bad‘ und dunkle Leggins  an und kämmte meine kastanienbraunen Haare durch.
„Lenaya! Kommst du? Es ist schon spät!“, hörte ich die Stimme meiner Mum von unten.
Bevor ich tat, was meine Mutter mir gesagt hatte, seufzte ich zum gefühlten tausendsten Mal und verließ das Badezimmer mit einem Blick, den ich selber nicht deuten konnte.

 

Unsicher schaute ich mich um. Um mich herum blühten die Wiesen, Büsche und auch manche Bäume, die Sonne war gerade aufgegangen und am Himmel zeigten sich noch einzelne orangene Streifen, die aussahen, als hätte sie jemand mit einem Pinsel hingemalt und anschließend verwischt.
Kurz gesagt: Dieser 28. April versprach, ein wunderbarer Frühlingstag zu werden.
Und das war doch eigentlich genau das, was ich so sehr liebte.
Warum hatte ich dann das Gefühl, dass der Schatten mich wieder gepackt und mir die Angst wie mit einer Pistole durch den Körper geschossen hatte?
Das konnte bestimmt nicht an dem Panikanfall von vorhin liegen.
Die Natur zu lieben, war untertrieben. Sie war mein LEBEN.
Jeder einzelner Tag ohne sie brachte mich um den Verstand. Sie war wie eine gefährliche Droge: Wenn du sie nimmst, macht sie dich furchtbar glücklich, aber wenn du dich von ihr distanzierst, wirst du süchtig danach.
Sie war wie eine Liebe in diesen schnulzigen Teenie-Romanen: Sie macht dich verrückt, doch ohne sie könntest du nicht überleben.
Die Natur war ein Teil von mir.
„Lenaya? Willst du hier festwachsen?“ Die Stimme meiner Mutter riss mich so aus den Gedanken, dass ich meinen Ring, den ich nervös von meinem Finger gelöst hatte, fallen ließ.
„Sorry“, murmelte ich verstört und bückte mich, um den Ring aufzuheben. Er war silbrig und mit einem kleinen Schmetterling bestückt.
Dann drehte ich mich zu meiner Mum um, die mich besorgt musterte. „Alles klar bei dir?“, fragte sie misstrauisch.
„Ja…. Alles klar“, gab ich zwischen den Zähnen gepresst zurück, während alles in mir drin schrie: NEIN! Nichts ist klar!
Aber ich hielt mich zurück. Ich wusste, dass meine Mutter mir zuhören würde, mich trösten und in den Arm nehmen würde. Doch was würde mir das bringen? Nichts würde sich dadurch ändern, außer vielleicht, das mir einer der unzähligen Steine vom Herz fiel.
Im Laufe der Jahre war mir klar geworden, dass es einfach so war. Dass sich nichts mehr ändern würde. Es würde nicht verschwinden.
Vielleicht ließ ich mich deswegen auch so gehen und zog fast nur noch schwarz an.
„Lenaya, irgendetwas ist doch!“ Nun hatte mich die Stimme so erschreckt, dass ich ein paar Schritte zurücktaumelte.
Meine Mutter packte mich entschlossen an den Schultern und sah mir in die Augen. Eine richtige Schande, dass mein Vater sie verlassen hatte. Sie war zwar schon über 40, aber dennoch noch wunderschön mit ihren rotbraunen Locken, dem freundlichen Gesicht, den Sommersprossen und ganz besonders mit den dunkelgrünen Augen.
Meine Mutter war schon immer ein Vorbild für mich gewesen, sie hatte so viel erreicht in ihrem Leben, so viel verloren, und dennoch hatte sie nicht aufgegeben. Umso mehr Angst machte es mir, sie jetzt anlügen zu müssen.
„Naja…“, meinte ich gedehnt und wich ängstlich ihrem forschenden Blick aus. „…es gibt da so einen Jungen…“
Mehr brauchte ich nicht mehr zu sagen. Meine Mutter hatte es geschluckt, ließ mich los und grinste vielsagend. „Na dann…“, sie zwinkerte mir zu und strich mir übers Haar, „viel Spaß in der Schule!“
Ich zwang mich, zu lächeln. „Werde ich definitiv haben!“
Wir verabschiedeten uns, ich rückte meinen Rucksack zurecht und machte mich auf dem Weg zur Schule, während ich mir dachte: Lenaya, du bist so eine miese Verräterin!

 

 

 

 

 

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8. Mai 2010, 21 Uhr
Der heutige Tag war eigentlich ganz okay. Ich glaube, dass ich meiner Umgebung schnell Anschluss finden werde. Zumindest sind die Mädchen in meiner Klasse eigentlich alle ganz nett. Naja, bis auf ein paar Ausnahmen… Aber die sind jetzt nicht so wichtig.
Viel wichtiger ist die Tatsache, dass ich nach der Schule in unserem Haus etwas hinter meinem Bett gefunden habe.
Bestimmt ist es noch von den Vorgängern, von mir kann dieser silberne Ring mit einem winzigen, grünlich schimmernden Schmetterling auf jeden Fall nicht sein.
Ich habe ihn einfach mal übergestreift und er passte mir sogar wie angegossen, sodass ich ihn einfach angelassen habe.
Moment mal… Wann habe ich das letzte Mal Tagebuch geschrieben? Vor einem halben Jahr?
Dann weißt du ja noch gar nicht, wovon ich überhaupt rede.
Mein Vater hat vor ca. vier Monaten einen neuen Job bekommen. In North Carolina!!!!
Warum so weit weg???? Warum kann ich nicht bei Lou und den anderen bleiben??
Über diesen Verlust bin ich bis heute noch nicht weggekommen.
Doch meine Eltern hatten kein Erbarmen. Sie kauften dort eine alte Villa und wir verließen innerhalb weniger Wochen unser Dorf.
Man kann sich ja sicherlich vorstellen, dass ich dauerhaft nur geheult habe.
Diese Villa ist und bleibt gruselig! Nachts höre ich immer die Böden knarzen und habe das Gefühl, als würde irgendjemand im Haus herumlaufen. Und das können niemals meine Eltern sein!!
Ich habe das Zimmer auf dem Dachboden bekommen. Dort ist es am Gruseligsten, finde ich. Er ist alt und staubig und besonders der zerbrochene Spiegel, der an einem brüchigen Kleiderschrank hängt, macht mir Angst.
Denn ich habe immer das Gefühl, dass etwas darin mich beobachtet…
Ich weiß, das klingt albern, aber ich bin froh, wenn ich aufwachen und raus aus diesem Haus in die Schule kann! Und diesen Satz hört man bei mir so gut wie nie…
Kommen wir zur Sache: Hinter dem alten Eisenstangenbett fand ich durch Zufall diesen funkelnden Schmetterling-Ring. Gut, es war kein Zufall, ich wollte nur sichergehen, dass dort keine Wollmäuse hausten, aber das tut nichts zur Sache.
Als ich ihn mir übergestreift hatte, bekam ich so ein euphorisches Gefühl, das ich sonst nur an meinem Geburtstag bekomme.
Irgendwie machte er mich fröhlich, obwohl man in meiner Lage ja eigentlich nur mies gelaunt sein kann.
Aber mal ganz unter uns, liebes Tagebuch: Wer versteckt einen wunderschönen Ring unter seinem Bett, zieht aus und vergisst ihn dabei?
Ich muss unbedingt herausfinden, wer hier gewohnt hat…



Auf dem Gang in der Schule sah ich bereits von weitem Hailey, meine beste Freundin. Mit ihren dunkelrot gefärbten Haaren und der schwarzrot-gestreiften Jeans war sie auch kaum zu übersehen.
Zögernd ging ich auf sie zu. „Hi“, murmelte ich schüchtern. Begrüßte man so seine engste Vertrauensperson? Nein, ganz sicher nicht.
Hailey bestätigte mir noch einmal meine Vermutung, denn sie umarmte mich fest und strahlte mich an. „Lenaya! Es gibt aufregende Dinge zu besprechen!“
So ging das also.
Ich versuchte zu lächeln, öffnete meinen Spind, der direkt neben dem meiner Freundin lag und blickte dann wieder zu Hailey. Sie hatte ein sehr blasses, elfenzartes Gesicht, das sie oft verfluchte, weil sie nie braun wurde und ihre ‚hässlichen‘ Sommersprossen überschminken musste. Ihre Augen waren eigentlich braun, aber sie trug so gut wie immer farbige Kontaktlinsen, heute waren es welche in einem dunklen Lila, was ihr ziemlich gut stand.
„Willst du es nicht wissen?“ Hailey schaute in ihren Spiegel, den sie in ihrem Spind aufgehängt hatte, zupfte ihren langen Pony zurecht und kramte dann in ihrem Spind herum.
Nein, eigentlich nicht. Ich hatte heute zu überhaupt gar nichts Lust, aber das wollte ich ihr nicht gleich auf die Nase binden.
Hailey tauchte mit einem Bücherstapel aus ihrem Spind auf und strahlte wieder, als wäre irgendetwas passiert.
„Du wirst es kaum glauben…  Hier wird ein Modelcasting veranstaltet!“ Sie schien ein Kreischen zu unterdrücken und wartet gespannt meine Reaktion ab, die natürlich nicht besonders begeistert ausfiel.
„Wow!“, meinte ich mit ironischer Stimme. „Gehst du jetzt unter die Models?“
Gelangweilt holte ich meine Bücher aus meinem Spind, verschloss ihn dann wieder und warf einen Blick zu Hailey.
„Nein, aber das ist doch DIE Gelegenheit, allen zu beweisen, dass wir beide es total drauf haben!“
Hailey schien sich da in etwas hineinzusteigern, wie so oft bei hier.
Und wieder einmal verstand ich nicht, worauf sie hinauswollte.
„Ich als Stylistin und du als Model – das perfekte Team!“, schwärmte sie weiter und zog mich an sich. „Wir müssen…“
Ich zuckte zusammen. Was hatte Hailey da gesagt?
„Höre ich nicht mehr richtig oder hast du gerade gesagt, dass ich modeln soll?“, zischte ich und wurde immer lauter.
Hässlich mochte ich zwar nicht unbedingt sein, aber ich würde mich ganz bestimmt von dutzenden fremden oder sogar bekannten Leuten anstarren lassen.
Hailey kannte mich. Sie wusste, dass ich selten laut wurde, doch wenn ich es wurde, stimmte etwas nicht.
Sie hielt inne, betrachtete mich von oben bis unten und sagte dann nur ein einziges Wort. „Wasser?“
Ausgerechnet jetzt kamen die aufgestauten Tränen von vorhin wieder hoch. Und dieses Mal war es besonders schwer, sie zurückzuhalten.
Ich biss mir auf die Lippe und nickte.
Dann nahm mich Hailey stumm in den Arm.


Eins musste man Hailey Ferder lassen: Sie mochte aufgedreht, temperamentvoll und ungeduldig sein, aber verstand sofort, wenn es mir schlecht ging und war immer für mich da.
Ich liebte diese Momente, in denen ich mir sicher war, dass mir mit meiner Freundin nichts geschehen würde, dass ich bei ihr geborgen war.
Umso mehr deprimierte es mich, dass diese Momente immer ein Ende hatten und ich dann wieder so… schutzlos war.
Wenigstens hatte das Schicksal ein bisschen Erbarmen, als uns eine Klassenkameradin mitteilte, dass die ersten zwei Stunden ausfielen.
Also konnten wir noch in unser Lieblings- und Stammcafé, gleich in der Nähe unserer Schule, und in aller Ruhe reden.
Das Star Café hatte einen komischen Namen, aber er war ziemlich leicht zu erklären: Die Besitzerin und Tante von Hailey, Emilia Ferder, hatte sich vor ein paar Jahren bei einer Sternschnuppennacht ein eigenes Café gewünscht, was nach ein, zwei Jahren tatsächlich passiert war. Seitdem schaute ich jedes Mal, wenn ich das Café besuchte, zum Himmel, ob dort vielleicht nicht auch irgendetwas war, was meinen Wunsch erfüllen könnte.
Albern, aber irgendwie fühlte ich mich dann besser.
Wir suchten uns einen Platz in einer Nische, um ungestört zu sein, obwohl sowieso kaum etwas los war und bestellten uns Cappuccino.
„Also“, fing Hailey danach an und seufzte. „Was war heute los?“
Ich musste erst einmal kurz nachdenken, wie ich am besten anfangen konnte, um die richtigen Worte zu finden und vor allem nichts von meinem eigentlichen Geheimnis auszuplaudern.
„Ich…es – es ist schon wieder passiert. Ich war duschen und… ach Hailey, ich habe einfach so eine verdammte Angst! Ich weiß nicht, was ich tun kann, damit es aufhört, ich habe eher das Gefühl, dass es schlimmer wird, wenn ich mich…“
Ich hielt inne. Was tat ich hier eigentlich? Ich wollte ihr doch nicht alles erzählen!
Während ich noch fieberhaft überlegte, wie ich den misslungenen Satz sinnvoll beenden konnte, kam mir Hailey dazwischen. „Es passiert also immer, wenn du Wasser siehst? Jedes Mal? Oder nur, wenn du damit in Berührung kommst?“
Ihre Neugier war gepackt. Dass ich mich fast selber verraten hätte, hatte sie nicht gemerkt.
„Es… es ist schwer zu erklären…“ Betreten schaute ich auf meinen Schoß und knetete meine Hände. „Wenn ich es sehe, bekomme ich auch schon ein kleines Panikgefühl. Es ist mehr so ein Gefühl wie vor einer Klassenarbeit, also… eigentlich nicht so schlimm. Aber wenn ich es berühre, drehe ich wirklich durch. Ich denke, dass ich dann jeden Moment… sterbe, obwohl es ja nicht so ist.“
Hailey wusste seit ein paar Wochen davon, dass ich so panische Angst vor Wasser hatte. Ich wusste, dass es richtig war, es ihr zu erzählen, da ich ihr vertrauen konnte, aber es störte mich, mit ihr über meine Gefühle zu reden, weil dann alle Erinnerungen wieder hochkamen.
Zum Glück blieb sie jetzt einigermaßen gefasst, bis auf die Tatsache, dass sie ihren Cappuccino fast in einem Zug leer trank, sich hektisch umschaute und dann mit weit aufgerissenen Augen flüsterte: „Oh mein Gott, Lenaya, ich wusste nicht, dass es so extrem ist.“
Bis vor drei Jahren, als es angefangen hat, wusste ich das auch noch nicht.
Ich erinnerte mich noch genau an diesen Mai im Jahre 2010, als ich abends heulend in meinem Bett saß und Tagebuch schrieb…

 

 

 

 

 

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9. Mai 2010, 20.30 Uhr

In der Schule habe ich mit einer Hailey Ferder angefreundet. Sie ist ziemlich crazy und aufgedreht, aber echt nett und cool.
Die Heugenwood hat mich in Mathe neben sie gesetzt und wir haben uns auf Anhieb ganz gut verstanden.
Wie harmlos das klingt!! Wenn ich auch nur geahnt hätte, was mich in den nächsten Stunden erwartet hätte!!
Okay. Was kam danach nochmal?
Ach ja. Meine Eltern gingen in die Stadt, um neue Möbel für unser halb leeres Haus zu kaufen. Ich war also allein in diesem Haus.
Meine Panik (und vielleicht auch Paranoia??) war nicht ganz unbegründet. Als ich heute ins Badezimmer gehen wollte, hatte ich das Gefühl, jemand würde hinter mir stehen.
Als ich mich umdrehte, war dort natürlich niemand, aber ich hörte so etwas wie ein… Atmen. Nur ganz kurz, aber lang genug, um eine Gänsehaut, zittrige Knie und einen trockenen Mund zu bekommen.
Hilfe!! Spinne ich jetzt oder ist es das Haus?? Stell dir das mal vor, wenn hier irgendein Geist lebt, der hier vor hundert Jahren umgekommen ist… Das ist echt gruselig!!
Genug davon. Wenn ich es aufschreibe, erinnere ich mich wieder daran und das will ich echt nicht. Ich hoffe, dass das unheimliche Erlebnis einmalig bleibt…

Viel, VIEL SCHLIMMER ist die Tatsache, dass mich beim Duschen die totale Angst überfiel. Und es war längst nicht so heftig wie das mit dem Geist.
Es war… richtig komisch. Ich dachte, das Wasser, dass auf mich herab prasselte, brachte mich um. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass wenn ich nicht gleich aus der Dusche steige, sterbe.
Obwohl das Wasser nicht heiß war, begann ich zu schwitzen, obwohl ich eine Gänsehaut hatte. Es war wirklich verrückt!
Ich versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen, vielleicht verschwand es dann. Während ich gerade fertig war, und den Strahl abstellte, verschwand es so plötzlich wie es gekommen war. Vor lauter Angst und Frust fing ich an, los zu schluchzen.
Ich weiß nicht, warum das so war, aber ich hatte echt Angst und stand wirklich kurz davor, durchzudrehen. Was übrigens immer noch der Fall ist!
Mehr will ich nicht mehr schreiben. Ich verkrieche mich jetzt in meinem Bett und hoffe, dass ich diesen schrecklichen Tag für immer aus meinem Leben verbannen kann.

 

 

 

 

Natürlich war mir klar gewesen, dass Hailey mir nicht wirklich helfen konnte. Aber es tat richtig gut, sich einfach mal alles von der Seele zu reden und zu wissen, dass man sich auf Hailey verlassen konnte, egal um was es ging.
Schweigend saßen wir in dem Café, nippten an unseren Getränken und hingen unseren Gedanken nach.
Ich wusste zwar nicht, an was Hailey in diesem Moment dachte, aber ich war mir nicht sicher, ob sie meine Angst nicht richtig wahrnahm. Eine ihrer negativen Eigenschaften war es leider, Dinge zu sagen, die sie so nicht meinte.
Ich ließ meine Hände in meinen Schoß sinken und fuhr mit der Zunge über die Lippen. Wie lange würde das noch so weitergehen? Wann würde irgendetwas kommen, was mich befreien könnte?
Kaum hatte ich das gedacht, war mir schon beinahe zum Lachen zumute. Wenn jemand meine Gedanken hören würde, würde er bestimmt denken, ich wäre eine Drama Queen, die ständig im Selbstmitleid versinkt. Wenn derjenige allerdings wissen würde, warum ich so etwas dachte, bereute er seinen Spott sicherlich.
Ich sah auf meine Armbanduhr. Es war kurz nach halb neun.
In Gedanken drehte ich die Uhr vor bis zur drei. Das machte ich immer, weil ich nicht so gut rechnen konnte. Oder vielleicht auch einfach keine Lust dazu hatte.
Es blieb also nicht mehr viel Zeit, bis es wieder so weit war. Bis ich mich wieder verwandelte.

Kapitel 2

„Hör zu, Lenaychen“, meinte Hailey nach einer gefühlten Ewigkeit.
Ich schreckte sofort aus meinen Gedanken auf, als ich das Wort ‚Lenaychen‘ hörte. Hailey hatte sich diesen bescheuerten Spitznamen ausgedacht, als sie merkte, dass ich noch keinen besaß.
„Um dir zu helfen, muss ich es erst einmal selber sehen. Bis jetzt hast du dich ja jedes Mal geweigert, aber… es muss jetzt echt mal sein.“
Ich beugte mich zu ihr nach vorne und legte meine bleichen, zittrigen Hände auf den marmorierten Tisch. „Willst du, dass ich es dir im Freibad zeige und mich vor tausend anderen blamiere?!“, zischte ich, heftiger als gedacht. Wenn man mich auf dieses schwierige Thema ansprach, wurde ich immer so gereizt. Obwohl ich Hailey verstand und ihr sehr dankbar war, dass sie mir helfen wollte, hatte ich einfach totale Angst und um diese zu verstecken, blockte ich ab.
Hailey konnte man aber nichts so schnell vormachen. Sie durchschaute mich wieder einmal. „Höre ich da Angst in deiner Stimme, Lady?“ Auf ihren knallroten Lippen spielte ein vergnügtes Lächeln, das allerdings gleich wieder verschwand.
„Du weißt, dass ich Menschenkennerin bin. Wenn ich sehe, wie du auf das Wasser reagierst, kann ich mir selbst ein Bild davon machen. Und, keine Angst, wir machen das nicht in der Öffentlichkeit.
Wir kommen tagtäglich mit Wasser in Berührung, dafür muss man nicht jedes Mal in ein Schwimmbecken springen.“ Sie zwinkerte mir aufmunternd zu, aber mein Gesicht blieb ausdruckslos.
„Wir gehen einfach ins Mädchenklo zum Waschbecken und…“
Ich wollte es nicht hören. „Ja, dann machen wir das halt.“
Irgendwie sprach ich die Worte hart und kalt aus. Dann schnappte ich mir meinen Rucksack, knallte einen Schein auf den Tisch und stürmte nach draußen.
„Lenaya, warte doch!“ Hailey eilte mir hinterher. Verstört sah sie mich an, während sie die Eingangstür des Cafés schloss.
Ich strich mir das dunkle Haar aus dem Gesicht, welches mir der Wind ins Gesicht peitschte und presste fest die Lippen zusammen.
Äußerlich sah ich sicherlich wie versteinert aus. Ausdruckslos. Ohne jegliche Miene.
Aber innerlich brodelte es. Die Gefühle drohten, mich zu übermannen. Besonders groß war die Angst. Es fühlte sich fast so an wie heute Morgen beim Duschen, als würde mich ein dunkler Schatten überfallen.
„Hailey…“ Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ich hab Angst, dass ich irgendwie Psycho bin. Dass ich mir das alles nur einbilde…“
Hailey baute sich mit verschränkten Armen vor mir auf und schüttelte entschlossen den Kopf. „Das tust du nicht. Ich sehe es in deinen Augen. Du hast wirklich panische Angst. Die kann man sich nicht einbilden.“ Sie atmete tief durch, dann legte sie mir ihre Hände auf die Schultern. „Ich bin bei dir. Du kannst mir alles sagen. Alles, hörst du? Ich werde dir helfen. Alles wird gut...“
Die Sänfte ihrer Stimme, ihr wild entschlossenen Gesicht, ihre funkelnden lila Augen… Alles an ihr hätte mich fast dazu gebracht, ihr wirklich alles zu sagen.
Stattdessen brachen die Tränen aus mir heraus. Ich warf mich in Haileys Arme und hoffte, dass wirklich alles gut werden würde.

 

In der Schule schien Hailey meine Sorgen schon fast vergessen zu haben. Normalerweise wäre ich deswegen eingeschnappt gewesen, aber ich war ihr dafür ehrlich gesagt sogar etwas dankbar, dann musste ich nicht andauernd daran denken.
Hailey war richtig begeistert von der Tatsache, dass in unserer Stadt ein Modelcasting stattfinden würde. Sie erzählte mir, als wir uns einen Weg durch die Gänge bahnten, pausenlos davon.
„Stell dir das doch mal vor!“, schwärmte sie volle Begeisterung und fuchtelte damit so wild mit den Händen herum, dass sie jemanden den Ellbogen in den Rücken rammte. „In unserer langweiligen Stadt ist endlich mal was los und…“
Der, den sie gerammt hatte, drehte sich plötzlich blitzschnell zu uns um und knallte seine Spindtür zu.
Jetzt erkannte ich, dass es sich dabei um Ava handelte. Sie war das beliebteste und reichste Mädchen der Schule,  aber auch eine totale Zicke. Wir hatten zusammen Bio und Mathe, wo sie keine Gelegenheit ausließ, mich und die anderen zu demütigen.
„Geht´s noch, Ferder?!“, keifte sie und kniff ihren Lipgloss getränkten Mund zusammen. „Wegen dir bin ich verrutscht!“ Sie hielt die schwarze Mascara hoch und deutete dann empört auf ihr linkes Auge, wo allerdings kaum mehr als ein feiner Strich unterhalb der Wimpern zu sehen war.
Hailey, die bereits wieder weitergelaufen war,  drehte sich zu ihr um. „Dann ging sie einen Schritt auf Ava zu, schrie laut auf und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Oh mein Gott!“, brachte sie nur noch heraus.
Zuerst war ich selbst verwundert, weshalb Hailey sich erschrocken hatte, aber dann wanderten ihr Augen für ein winzigen Moment zu mir und ich begriff sofort, wieso.
Um mir ein Grinsen zu verkneifen, schaute ich auf den Boden, aber um mitzuverfolgen, was als nächstes passierte, hob ich doch den Kopf.
Ava schien verwirrt und schob sich die dunkelblonden, fast braunen Haare nah hinten. „Hä?“, machte sie und verzog ihre sorgfältig gezupften Augenbrauen zusammen.
Hailey starrte sie immer noch mit weit aufgerissenen Augen an, bevor sie flüsterte: „Du… du hast… einen Strich unter deinem Auge! Die Welt wird unter gehen!“, schrie sie dann und drehte sich zu einigen anderen Schülern um. „Hab ihr gehört?“
Sie formte ihre Hände zu einem Trichter.
„Achtung, Achtung, Ava McCole hat einen Strich unter dem Auge! Ich wiederhole: Ava McCole hat einen Strich unter dem Auge! Bitte verlassen sie schnellst möglich das Gebäude, bevor es zu weiteren lebensgefährlichen Situationen kommt!“
Jetzt konnte ich nicht mehr. Die düsteren Gefühle verschwanden mitsamt meiner miesen Laune. Ich lachte lauthals los und klatschte mit meiner Freundin ab.
Spätestens jetzt schien die Blondine verstanden zu haben, dass Hailey sie total verarscht hat. „Du bist so eine…!“ Sie stieß einen komischen Laut aus, dann raffte sie ihre Sachen zusammen und stolzierte davon, ihre Freundinnen, wo auch immer sie hergekommen waren, hinterher.
„Hast du das schon mal erlebt?“, fragte Hailey mich, und dieses Mal war ihre Fassungslosigkeit nicht gespielt. „Der McCole hat´s die Sprache verschlagen!“
Wir sahen uns an und mussten wieder lachen.
Nein, das hatte ich wirklich noch nie erlebt. Bisher war uns Ava immer überlegen gewesen.
Obwohl sie eigentlich eine typische Tussi war, trug sie kaum rosa oder pink.
„Trage feminin und staune, wie schnell du alterst!“
Das sagte sie jedes Mal, wenn sie ihre Bluse oder den Rock zurechtzupfte oder ihre hochgesteckten Haare überprüfte.
Da kam ich mir mit meiner dunklen Jeans, dem schwarzen Pulli und den schwarzen Converse doch irgendwie blöd vor. Aber ich wollte eben weder auffallen, noch Stunden im Bad verbringen.
Hailey sah mich grinsend an, dann gingen wir ins Klassenzimmer.

 

„Also?“ Sie sah mich mit einem seltsamen Blick an, den ich nicht deuten konnte.
Ich holte tief Luft, dann drehte ich mit zitterten und eiskalten Händen den Wasserhahn auf, während mir schon beim Anblick der rauschenden Wassers ein Schauer den Rücken herunterlief.
Ich biss mir so fest auf die Lippe, dass ich glaubte, Blut zu schmecken,  dann streckte ich zögernd meine Hand aus und berührte es. Es war eiskalt.
Dieses Mal kam die Angst so schnell und heftig, dass ich vor Schreck nach hinten taumelte.
Kaum hatte ich den Wasserstrahl berührt gehabt, war wieder dieser Schatten über mich hergefallen. Er schien wirklich alles Glück und Freude in mir aufzufressen.
Völlig verängstigt und verstört schlug ich mir eine Hand vor den Mund und starrte den Wasserhahn an. Ich konnte es nicht fassen, obwohl die nicht das erste Mal war, das ich es erlebte.
Das war stinknormales Wasser! Nicht mehr und nicht weniger.
Warum hatte ich dann so panische Angst davor? Warum? Warum, warum warum?
Mein Kopf schrie diese Wörter förmlich.
Ich konnte nur noch auf das immer noch laufende Wasser starren, die Hand vor den Mund gepresst.
Erst als Hailey ihre Arme um mich schlang, merkte ich, dass ich stoßweise atmete.
Neben meinem Schluchzen hörte ich noch ein anderes und ich musste nicht einmal genau hinhören, um zu wissen, dass es Hailey war.
Wir hatten uns auf die Mädchentoilette verzogen, damit ich Hailey ‚vorführen‘ konnte, wie Angst ich vor Wasser hatte.
Ich kam mir wirklich vor wie Versuchskaninchen. Aber ich verstand Hailey ja auch irgendwie, es war ja klar, dass das, was ich erzählt hatte, nicht spurlos an ihr vorbeiging.
Um die Uhrzeit, wenn Mittagspause war und alle aßen, war das Klo wie leergefegt. „Perfekt“, hatte Hailey dazu gemeint. „Dann haben wir keine Beobachter.“
„Lenaychen, ich… Scheiße, das ist… das ist einfach nur… schrecklich!“ Meine Freundin presste die Lippen aufeinander und sah mich an.
Ihr Gesichtsausdruck glich dem meinen, ein stilles Leiden stand in ihren Augen, sie wirkten ohne jeglichen Glanz und vor allem eines: total entsetzt.
Hailey war extrem blass und, obwohl sie es eigentlich immer war, viel es mir diesmal besonders auf.
„Du sahst aus, als wärst du deinem…“ Sie müsste sich räuspern, der Kloß in ihrem Hals konnte man ihr deutlich ansehen. „…als wärst du deinem Tod höchstpersönlich begegnet.“
Zitternd atmete ich die Luft aus, die ich angehalten hatte.
„So habe ich mich auch gefühlt“, flüsterte ich schwach. Dann füllten sich meine Augen erneut mit Tränen.
Ich schaute auf den schmutzigen, ehemals weißen Fließenboden und sah, dass meine Tränen bereits dorthin tropften.
Dann fiel mein Blick auf meinen Ring. Der silberne Schmetterling schien bläulich zu glitzern.
„Bist du daran schuld?“, fragte ich ihn flüsternd das, was ich gerade dachte.
„Was hast du gesagt?“ Hailey sah mich auffordernd an. Ich lief rot an und hoffte, sie es wirklich nicht gehört.
„Nichts“, hauchte ich und war kurz drauf so dermaßen von mir selbst enttäuscht, dass ich diesen verdammten Ring am liebsten in die Ecke werfen wollte.
Ich kannte Hailey nun schon seit drei Jahren.
Und seit drei Jahren wusste sie immer noch nicht das Wichtigste und Schlimmste über mich.
Wenn es wenigstens etwas ist, was man einem so leicht sagen könnte, dachte ich und drehte meinen Ring nervös herum, während Hailey nachdenklich in die Ferne starrte.
Warum sagte ich es ihr auch nicht? Hatte ich etwa Angst, dass sie es mir nicht glauben würde? Oder gar, dass sie es weitererzählen würde?
Nein, ich wusste, dass ich ihr vertrauen konnte.
Bestimmt lag es daran, dass ich mit der ganzen Situation immer noch nicht klar kam. Und das seit ganzen drei  Jahren!
Haileys Mund klappte auf, sie holte kurz Luft, um etwas zu sagen, da stach mir plötzlich ein unerträglicher Schmerz in den Rücken, als würde sich ein Messer darin bohren.
„Lenaya?“, fragte Hailey alarmiert und fasste mich am Arm. „Was hast du?“
Ich krümmte mich vor Schmerz nach vorne. Mir wurde heiß.
„Es… geht schon“, presste ich keuchend hervor. Damit hatte ich  jetzt so überhaupt nicht gerechnet, der Schock und Schmerz nahm mir den Atem.
Ich tastete an meinen Rücken, da spürte ich etwas Spitzes an meinen Schulterblättern.
Die Panik überfiel mich genauso schnell wie gerade eben, als ich das Wasser berührt hatte.
Ich musste hier so schnell wie möglich weg von hier. Hailey durfte es nicht sehen. Noch nicht. Und die Schule erst recht nicht.
Obwohl ich kaum noch richtig laufen konnte, riss ich mich von Hailey los und tastete nach dem Türknauf der Mädchentoilette.
„Lenaya? Wo willst du hin?! Du…“ Den Rest hörte ich nicht mehr. Ich hatte die Tür zugeknallt und rannte panisch und mit Tränen in den Augen den Schulgang entlang, obwohl die Schmerzen es kaum zuließen.
Einmal fiel ich schmerzhaft auf den Rücken, konnte mich gerade noch mit zusammengebissenen Zähnen aufrappeln und weiterrennen.
Die neugierigen Blicke der der wenigen Schüler, die auf dem Gang waren, ignorierte ich dabei ebenso wie das Rufen meines Namens. Und ich wusste ganz genau, wer mich rief.
Der Schmerz verstärkte sich, falls das überhaupt noch ging. Ich biss mir so heftig auf die Lippe, dass das Blut förmlich herausspritzte, weil ich nicht schreien wollte.
Hastig stieß ich die Eingangstür auf und rannte einfach geradeaus.
Taumelnd und betäubt vor Schmerz überquerte ich die leer gefegte Straße und erreichte eine Wiese.
Jetzt konnte ich endlich meiner Angst freien Lauf lassen. Mein Schrei ließ ein paar Vögel, die auf einer alten Buche saßen, aufschrecken und davonfliegen.
Ich riss mir meine Jacke vom Leib und sank auf das weiche Gras.
Der Schmerz verstärkte sich und da hörte ich das Reißen eines Stoffes.
Binnen weniger Sekunden verstärkten sich die Schmerzen noch einmal, ich schrie noch lauter und spürte wie mir die Tränen  in Bächen das Gesicht herunterliefen.
Mir wurde kurz schwarz vor Augen. Ich hörte abrupt auf, zu schreien, als der Schmerz langsam nachließ.
Es war vorbei. Endlich war es vorbei.
Ich warf mich nach vorne und fing an zu schluchzen. Das Gefühlschaos war wieder da, hatte sich sogar verstärkt.
Ich wusste ganz genau, dass es dieses Mal viel zu früh war. Es musste ungefähr erst halb eins sein.
„Scheiße“, flüsterte ich und wischte mir über die Augen.
Ich holte ein paar Mal Luft, atmete tief ein und wieder aus, das so lange, bis ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte.
Langsam rappelte ich mich auf und spürte etwas ganz Leichtes an meinem Rücken. Es fühlte sich an, als würde mir jemand übe den Rücken streichen.
Aber es war nicht so.
Mein Pulli war gerissen.
Aus meinen Schulterblättern waren sie gewachsen. Flügel. Wunderschöne Flügel, für die ich einen hohen Preis zahlen musste, ob ich wollte oder nicht.

Kapitel 3

Es war nicht immer so gewesen. Als ich zum ersten Mal merkte, dass irgendetwas nicht mit mir stimmte, hatte ich lediglich unfassbar starke Schmerzen an den Schulterblättern, die meinen gesamten Körper für ein paar Minuten lähmten.
Danach war für ein paar Tage Schluss gewesen.
Und dann hatte es so richtig angefangen.
Genau wie jetzt.
Mit einer Mischung aus Euphorie, Aufregung, Angst und Panik drehte ich langsam meinem Kopf so weit herum, wie nur ging.
Sie waren wunderschön. Atemberaubend. Abnormal.
Ich konnte sagen, was ich wollte, ich fand trotzdem nicht die richtigen Worte.
Die Flügel waren wie die eines Schmetterlings. Ein wenig spitz und reichten mir vom Kopf bis zu den Unterschenkeln.
Eine dünne, schwarze Linie zog sich an den Rändern entlang.
Aber das Tollste, das Beste und das Schönste waren die Farben.
Ein Meer aus Blautönen, besonders Türkis und hellblau.
Bei genauerer Betrachtung sah ich sogar ein leichtes grün.
Und dann war da dieses Funkeln. Die Flügel glitzerten mit der warmen Sonne um die Wette.
Ich seufzte. Sie waren wirklich wunderschön. Aber ich wollte dafür nicht jedes Mal diese unerträglichen Schmerzen erleiden.
Ich schritt langsam, mit immer noch wackeligen Beinen zu einem Baum und krallte mich mit meinen Fingern in die harte Rinde.
Leider war es noch nicht ganz vorbei. Im Gegenteil – es fing erst an.
Um es noch einmal zu realisieren, bevor ich nicht mehr sprechen konnte, flüsterte ich schnell: „Ich werde mich jetzt in einen… Schmetterling verwandeln.“
Die Tränen kamen wieder und ich hielt sie nicht zurück. Schluchzend wartete ich auf die höllischen Schmerzen, die mir nun bevorstanden.
Aber es kam nichts.
Nach ein paar Minuten sank ich erschöpft und ohne Tränenflüssigkeit mehr auf die Knie.
Tausend Fragen wirbelten durch meinen Kopf und ich hasste die Tatsache, dass ich sie nicht beantworten.
Warum verwandelte ich mich nicht ganz?
Warum war dies jetzt früher passiert?
Seit ich mich verwandeln konnte, hatte ich immer aufgeschrieben, wann es stattfand.
Da ich ja jeden Tag Tagebuch schrieb, war dies mein einziger Beweis, nicht verrückt zu sein und mir das nicht einzubilden.
Und es passierte jedes Mal zur selben Uhrzeit. Warum war es heute anders?
Ich fuhr mich über das glühend heiße Gesicht, dann durch die Haare und leckte mir über die blutigen Lippen.
„Hey? Was machst du da?“ Dieser Stimme riss mich aus meinen trübsinnigen Gedanken ich vor hoch und sah auf der anderen Straßenseite, vor der Eingangstür der Schule, eine männliche Gestalt – mehr konnte ich unter dem Tränenschleier nicht erkennen.
Die Panik schoss mir in alle Glieder, und noch bevor ich nachdenken konnte rappelte ich mich auf und rannte davon.
Ich hatte das Glück auf meiner Seite, die Wiese schloss sich an einen Wald an.
Er bestand aus hellen Laubäumen und ließ das Sonnenlicht, das durch die Blätter schien, funkeln.
Ich unterdrückte den Drang, stehen zu bleiben und einfach nur der Natur zuzusehen, was ich jetzt gerne getan hatte.
Aber ich sah ein, dass ich mich in einer unmittelbaren Gefahrbefand. Was, wenn mich dieser Typ so gesehen hatte? Mit Flügeln?
Ich verbot mir, den Gedanken weiterzuspinnen und rannte von einer gewaltigen Verzweiflung angetrieben immer tiefer in den Wald.
Hinter mir hörte ich keuchende Schritte. Ich kreischte erschrocken.
Bildete ich es mir ein oder hörte ich seinen Atem? „Bitte… warte“, flüsterte er jetzt. Das war keine Einbildung!
Allmählich ging mir die Luft aus.
Nein, schrie ich in Gedanken. Bitte nicht! Nicht jetzt!
Der Wunsch war so stark, dass ich zunächst gar nicht merkte, was dann geschah.
Ich spürte eine Hand auf meinem Arm. Ein harter Griff, dem ich mich nicht entwenden konnte.
„Neeeein!“ Mein schriller Schrei glitt in die stumme Umgebung des friedlichen Waldes. Keiner schien mich zu hören.
Keuchend wurde ich langsamer, ob ich wollte oder nicht.
Plötzlich verlor ich den Boden unter den Füßen für einen kurzen Moment wurde mir schwarz vor Augen. Die Hand ließ meinen Arm los. Der drückende Schmerz verschwand.
Ich merkte, dass ich immer noch lief und wollte mich umdrehen, doch ich konnte mich nicht bewegen.
Aber sehen, das konnte ich. Und was ich da sah, ließ mir die Luft weg.
Um mich herum waren immer noch die grünen Kronen der Bäume.
Doch dieses Mal schwebte ich ungefähr zehn Meter in der Luft.

 

Kennst du dieses Gefühl, wenn du gerade einschläfst, und du deine Umgebung kaum noch wahr nimmst?
Wenn du dann gleich im Land der Träume bist?
Wenn du das Gefühl hast, dass du schweben würdest in einer völligen Dunkelheit und es sich wohlig warm und geborgen anfühlt?
Genau dieses Gefühl beherrschte nun mein Herz.
Jegliche Anspannungen verschwanden. Ich vergaß mit einem Schlag all meine Sorgen, all meine düsteren Gefühle.
Ich fühlte mich so frei wie schon lange nicht mehr.
Kaum hatte ich keinen Boden mehr unter meinen Fußsohlen gespürt, konnte ich mich zwar nicht mehr bewegen, aber die Panik, die ich sonst gehabt hätte, gab es nicht.
Dieses unglaublich freie Gefühl nahm alle meine Körperzellen an, mir war egal, warum  ich auf einmal in der Luft schwebte.
Der Himmel strahlte ein wunderbar intensives blau aus, die Sonne wärmte mir den Rücken, der Wind blies meine Haare ins Gesicht, aber das war mir egal.
Ich konnte kaum genug davon bekommen. Gierig atmete ich die frische Luft ein und gab mich dieser unfassbar wohltuenden Freiheit hin.

 

Hinterher wusste ich nicht, wie lange ich mich nicht bewegen konnte, wie lange ich diesen Augenblick genossen hatte. Waren es nun nur wenige Sekunden, drei Minuten oder gar eine halbe Stunde?
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung,  aber es war mir völlig egal.
Irgendwann hatte ich mich jedenfalls wieder bewegen können. Einfach so, in der Luft.
Und wieder fragte ich mich nicht wieso, weshalb, warum.
Ich schaute nach unten.
Sofort nistete sich ein unglaublicher Schwindel in meinem Kopf ein, alles schein sich zu drehen.
Dennoch konnte ich die Gestalt erkennen, die sich fassungslos umschaute.
Er hatte hellbraune Haare und schien verzweifelt, denn er raufte sich mehrmals die Haare.
„Hey!“, schrie er dann plötzlich mit einer ohrenbetäubenden Lautstärke. „Komm sofort her!“ Der Mann stieß volle Wut einen Fluch aus.
„Irgendwann krieg ich dich noch!“, zischte er dann so leise, dass ich es fast nicht hörte.
Dann rannte er mit großen Schritten davon.
Ich hob schnell den Kopf. Der Schwindel verschwand wieder, so abrupt, dass ich mich fragte, ob ich Höhenangst hatte.
Auf einmal fühlte ich mich ganz komisch. Das freie Gefühl verschwand, mir wurde kalt.
Mein Verstand wurde klarer. Und plötzlich wurde mir alles schmerzhaft bewusst.
Jemand hatte mich gesehen – mit Schmetterlingsflügeln! Er hatte mich gejagt und ich war ihm fast nicht entkommen.
Ich spürte den Schmerz an meinem Arm wieder. Als ich ihn betrachtete, entdeckte ich einen roten Handabdruck.
Dann bemerkte ich wieder, wo ich hier eigentlich war. Panisch schaute ich mich um. Unter  mir – Luft!
Meine Flügel schlugen so schnell wie die eines Vogels. Ich flog – ohne etwas getan zu haben!
Diese grausame Erkenntnis ließ mich am ganzen Körper zitterten. Die Angst hatte mich wieder voll im Griff.
Hektisch zappelte ich herum.
„Hilfe!“, schrie ich aus Leibeskräften, doch dann wurde mir klar, was ich da tat. Wenn mich jetzt jemand hörte, würde er mich sehen.
Obwohl ich nicht glaubte, dass außer diesem seltsamen Typen noch jemand anderes im Wald war, hatte ich einen Fehler gemacht. Wenn mich jemand hier oben sah, dann…!
Wie kam ich hier wieder runter und warum war dieses herrliche Freiheitsgefühl nicht geblieben?
Fassungslos über die Situation, in der ich mich grade befand, knabberte ich an meinen Fingernägeln.
Wieso schlugen meine Flügel, ohne dass ich etwas getan hatte?
Plötzlich war eine andere Erkenntnis da, die mich fast erschlug. Wenn ich nach oben gekommen war, dann musste ich doch auch irgendwie wieder runterkommen können!
Aber wie sollte ich das anstellen?

 

- T A G E B U C H   V O N    L E N A Y A 
L O R I N E    C O L E M A N –

 

11. Mai 2010, 21:35 Uhr
Ich habe panische Angst. Vor mir selber.
Nach der Schule bin ich durch den  Leighton-Park gelaufen.
Er ist ziemlich klein und besteht eigentlich nur aus einer Wiese mit ein paar alten Grabsteinen, weil dort früher mal ein Friedhof war.
Und da ist es passiert.
Ich bekam unerträgliche Schmerzen in meinen Schulterblättern, dass ich nach vorne fiel, weil meine Beine zusammen sackten.
Es tat so furchtbar weh, dass ichheulen musste und mir wünschte, dass es aufhörte.
Bevor es aufhörte, hörte ich noch das Reißen eines Stoffes und ich war mir ziemlich sicher, dass es von meinem Pulli kam.
Zitternd war ich aufgestanden und was sah ich????
Flügel.
Flügel, die aus meinen Schulterblättern gewachsen waren.
Nein, es war keine Einbildung. Wirklich nicht!!!
Aber in diesem Moment zweifelte ich wirklich an meinem Verstand. Ich muss auch jetzt schon total zusammenreißen, das zu schreiben, weil ich es aus meinem Hirn verbannen will!
Sie waren eigentlich ziemlich schön. Grün, mit bläulichem Schimmer und erinnerten mich an die Flügel eines Schmetterlings, den ich mal beobachtet habe.
Aber trotzdem: Warum wachsen mir Flügel?? Ich verstehe es nicht.
Ich habe noch nie an Übernatürliches geglaubt, umso schlimmer ist es.
Außerdem hatte ich richtig Schiss, dass mich jemand so sah.
Jetzt ist mir was eingefallen. Das liegt doch bestimmt alles an diesem verdammten Ring, den ich gefunden habe!!! Der Schmetterling hat nämlich die gleiche Farbe wie die Flügel, die ich hatte.
Ich habe ihn gerade in meine Nachttischschublade geworfen. Nie nie wieder werde ich den anziehen.
Ich bin echt durcheinander. Wenn ich mir das ganze also – rein theoretisch gesehen – WIRKLICH NICHT eingebildet habe, warum sind mir dann Flügel gewachsen??? Das kann doch nicht sein!!
Ehrlich gesagt zweifle ich gerade wieder an meinem Verstand. Es KANN einfach nicht sein!!!

 

 

Ruhig bleiben, Lenaya. Sonst kommst du hier erst recht nicht wieder runter!
Leider klappte das mit dem sich-selber-beruhigen auch nicht wirklich.
Ich war ein reinstes Nervenbündel, die Tränen liefen mir in Bächen die Wangen herunter und ich wünschte, ich könnte das Chaos aus Gefühlen unterdrücken, um mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Ich versuchte, die Schläge der Flügel zu kontrollieren, aber es gelang mir nicht.
Ich spürte sie nicht so, wie meine Arme oder Beine, ich konnte sie nicht bewegen.
Plötzlich kam mir ein beängstigender Gedanke. Wenn die Flügel jetzt verschwanden, würde ich herunterfallen und…!
Wie wild zappelte ich ihn der Luft herum, da sauste ich plötzlich mit einer unfassbar schnellen Geschwindigkeit geradeaus.
Panisch und erschrocken schrie ich auf. Der Wind ließ meine Tränen erkalten.
Ich flog über die Kronen der Bäume, da sah ich das weiße Schulgebäude. Abrupt stoppte ich, ohne etwas getan zu haben.
Mein Atem ging schwer. Was war das gerade? War es mein Willen gewesen, der mich zu meinem Ziel gelenkt hatte?
Nur wie kam ich jetzt auf den Boden?

Kapitel 4

Jetzt stand ich der Gefahr wirklich Auge um Auge gegenüber.  Ich schwebte über einer Straße! Jeden Moment konnte ich gesehen werden.
So wie von diesem komischen Typen gerade eben. Was hatte er überhaupt mit „Irgendwann krieg ich dich noch“ gemeint? Das machte mir ziemlich Angst.
Hastig schob ich die Gedanken zur Seite. Wie hatte ich es grade eben geschafft, zu fliegen? War es wirklich mit meinem Willen geschehen? Aber das wäre ja… eigentlich unmöglich.
Moment, stoppte ich mich selber. Wenn man mich mal so ansieht, ist ja anscheinend alles möglich.
Das Gefühl, wie eine Marionette, bloß von unsichtbaren Fäden gezogenen in der Luft zu hängen, machte mich ganz wirr.
Also versuchte ich, meine Gedanken auf meinen Wunsch zu konzentrieren.
Ich will auf den Boden!
Mit einem gewaltigen Schub raste ich auf einmal zum Boden. Noch bevor ich schreien konnte, stand ich bereits wieder auf den Füßen, und das ganz ohne hinzufallen oder wehzutun.
Ich fröstelte. Das war ja richtig komisch.
Hastig schaute ich, ob meine Flügel noch da waren, aber sie waren verschwunden.
Erleichtert atmete ich auf.
Aber warum hatte ich mich nicht ganz in ein Schmetterling verwandelt?  Wenn ich das tat, wurde ich ganz klein; warum waren mein Flügel also zuerst groß?
Das ist doch unlogisch, dachte ich verwirrt. Wenn ich mich in einem Schmetterling verwandele, warum schrumpft nicht zuerst mein Körper und dann kommen die Flügel?
Drei Jahre war eine lange Zeit, doch ich verstand so manche Sachen immer noch nicht.
Mit einem Mal kam mir ein Gefühl hoch, dass ich fast gar nicht von mir kannte. Es war die Wut.
Wieso war ich mit meinen Gefühlen ständig alleine? Wieso gab es keinen, der mich über diese Sache aufklärte?
Ich sah mich um. Konnte ich so aufgelöst überhaupt in die Schule?
Kaum hatte ich dies gedacht, ging die Eingangstür auf und ich erkannte Hailey, die auf mich zu rannte.
„Lenaya! Wo warst du, verdammt nochmal?!“, schrie sie mich an und ihre Wut war kaum zu übersehen.
„Ich…“
Sie ließ mich nicht ausreden.
„Und was hattest du da für Schmerzen? Geht es dir wieder gut? Scheiße, ich hab mir voll die Sorgen gemacht! Ich wäre fast zu ‘nem Lehrer gerannt. Zu ‘nem Lehrer! Das mache ich sonst nie!“
Ich rieb mir die kalten Hände und trat von einem Fuß auf den anderen. „Sorry, ich… ich hab zurzeit… Rückenschmerzen und ich fand es… äh, peinlich wenn du mich so siehst…“
Haileys Blick wurde weicher, ihre Wut schien ihr wie aus dem Gesicht gepustet zu sein.
„Lenaychen…“, murmelte sie bedrückt, dann nahm sie mich ganzvorsichtig in den Arm. „Das braucht dir doch nicht peinlich sein. Ich hatte total Angst und wollte gerade raus, da hat mich ausgerechnet die Heugenwood, dieses Biest erwischt, und naja…“ Sie löste sich von mir und schaute mich mit einem glücklichen Lächeln an. „… ich hätte fast Nachsitzen müssen, weil ich ja schon mal abgehauen bin, aber ich hab ihr dann eine richtig geile Ausrede aufgetischt, da konnte sie einfach nicht nein sagen…“
Sie hakte sich bei mir unter und wir gingen wieder ins Schulgebäude.
Was genau Hailey mir erzählte, hörte ich nicht. In mir herrschte ein viel zu großes Chaos, um das mitzubekommen.
Als ich merkte, dass Hailey wieder von etwas anderem erzählte, machte sich eine große Erleichterung in mir breit. Endlich war ich nicht mehr in Erklärungsnot!
Doch irgendwie fühlte ich mich auch missverstanden und… alleingelassen von meiner besten Freundin.
War sie wirklich so naiv, dass sie mir die Lüge geglaubt hatte? Wenn sie mir so etwas gesagt hätte, wäre ich misstrauisch geworden.
Glaubte sie mir meine Ausreden vielleicht gar nicht? Schien ihr das als unwichtig?
Ich wusste, dass Hailey mir immer zuhörte und mir half, aber wieso hatte sie jetzt sofort das Thema gewechselt?
Zum Glück hatte ich noch nicht überlegt, Hailey von meinem Geheimnis zu erzählen, denn jetzt war ich mir nicht mehr sicher, ob sie mich wirklich ernst nahm und es mir glaubte.

Kapitel 5

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich noch kriegen werde!“, tönte er triumphierend und grinste mich an.
Ich wollte laut schreien, doch aus meiner Kehle kam kein Ton.
Die Flügel, fiel es mir siedend heiß ein. Ich kann doch fliegen!
Ich versuchte, mich auf die Flügel zu konzentrieren, doch da packte mich der Mann mit beiden Händen am Hals und drückte fest zu.
Als er sah, dass er mir damit den Atem nahm und ich vor Schmerzen röchelte, wurde sein Grinsen noch breiter. „Du denkst wohl, dass du mir entkommen kannst, kleine Lenaya?“, zischte er und kam mir dabei gefährlich nahe.
Ich roch seinen Atem, Pfefferminze, und starrte den Mann, der mich schon einmal verfolgt hatte, mit einer Angst an, die schlimmer war als die Angst vor dem Wasser.
Seine dunklen Augen verfolgten mich mit schnellen Bewegungen, schienen jeden einzelnen Punkt meines Gesichts anschauen zu wollen, obwohl ich mich nicht bewegte.
Die wundervolle Umgebung, ein Park umgeben von blühenden Kirschbäumen und Wiesen, wurde mit einem Mal grässlich und farblos.
Er drückte noch fester zu und ich musste würgen. „Lass mich los!“, wollte ich keifen.
„Du kommst mit mir!“, rief er mit einem drohenden Unterton. „Ich bin ja mal gespannt, was du alles so drauf hast.“
Er lachte bitterböse und jagte mir damit einen Schauer nach dem anderen den Rücken herunter.
Ich wollte wieder schreien, ich wollte mir aus Verzweiflung auf die Lippe beißen, ich wollte ihn schlagen, ich wollte nach ihm treten, ich wollte so vieles in diesem Moment und dennoch geschah... nichts.
Er sah mich auf einmal mit einem anderen Blick an. Ganz kurz wurde es weich, dann fassungslos und verwundert. „Die Flügel…sie sind irgendwie… anders… Lenaya? Lenaya!“
Plötzlich wurde alles dunkel um mich herum.

 

„Lenaya… Lenaya!“  Die Stimme klang anders, irgendwie… höher und weiblicher, und sie kam mir bekannt vor.

 

„Lenaya, verdammt, jetzt wach doch mal auf, der Film ist gleich zu Ende!“
Mit einem Schlag spürte ich einen harten Stuhl unter mir, meine Arme unter meinem Kinn.
Und… Hailey Stimme. Ich hörte Haileys Stimme.
Mit aller Kraft riss ich die Augen auf und sah eine durchdringende Dunkelheit vor mir, mit schemenhaften Umrissen.
Ich hob den Kopf und nahm verschwommen ein bläuliches Licht wahr und hörte eine gelangweilte Stimme, die monoton aus Lausprechern zu schallen schien.
Haileys Hand lag auf meiner Wange. „Du schwitzt ja ganz“, stellte sie beunruhigt fest. „Hattest du einen Albtraum?“
Jetzt wurde mir erst klar, dass wir wohl in Bio saßen und ich eingeschlafen sein musste. Und dann, zu meiner großen Erleichterung, musste das, was ich gerade in diesem Park erlebt hatte, bloß ein schlimmer Albtraum gewesen sein.
Mein Herz klopfte immer noch so schnell, als würde ich einen Marathon laufen und ein paar Haarsträhnen klebten vom Schweiß an meiner Strin.
„Ich musste dich beinahe ohrfeigen, damit du endlich mal aufwachst“, wisperte Hailey mir zu, als ich nicht antwortete und ich sah im Licht des Filmes, dass sie mich skeptisch musterte.
„Du hast die ganze Zeit den Kopf geschüttelt und wirre Zeug gemurmelt. Ein wahres Wunder, dass der Zep das nicht mitbekommen hat!“
Ich atmete tief durch. „Sorry. Ich hab wohl heute zu wenig Schlaf gekriegt.“
Bei unserem Biolehrer Zepper, oder von Hailey immer nur ‚Zep‘ genannt, war es wirklich schwer, unbemerkt zu schlafen. Sogar während eines Filmes, wo alles dunkel war.
Der Abspann des Filmes lief und das grelle Neonlicht ging wieder an. Geblendet hielt ich mir die Hände vor die Augen und dachte über den Traum nach. Wenn dieser Typ wirklich so gefährlich ist, dann…
Dann bin ich ja bei unserem Zusammentreffen im richtigen Leben gerade noch an einer Katastrophe vorbeigeschlittert.
Allmählich ließ die undurchdringliche Hitze nach und auch mein Herzschlag fing an, regelmäßig zu klopfen.
Um mich selbst zu beruhigen, dachte ich an das, was meine Mom früher immer zu mir gesagt hatte, nachdem ich wegen eines Albtraumes weinend bei ihr im Zimmer gestanden hatte.
„Albträume spiegeln lediglich unsere Ängste wider. Doch manchmal steckt auch ein Fünkchen Wahrheit in ihnen.“

 

„Kommst du mit? Bitte, bitte, bitte!“ Flehend sah sie mich an. „Ich will dort auf keinen Fall alleine hingehen!“
Mist, bei so einem Blick konnte man gar nicht anders als einzuwilligen.
Hailey hatte ihre Unterlippe vorgeschoben, ihre lila Augen funkelten und sahen so groß wie Murmeln aus.
„Na schön“, murrte ich und hielt meiner Freundin die Eingangstür auf. Wir waren gerade dabei, die Schule zu verlassen und natürlich hatte Hailey vor gehabt, mich so lange zu überreden, bis ich nachgeben würde.
Hailey machte einen Luftsprung und quietschte vergnügt.
„Juhu, ich freu mich so!“ Sie hakte sich bei mir unter und wir bogen um die Ecke in Richtung Einkaufszentrum.
„Außerdem lenkt dich das auch ab. Als ob das mit dem Wasser nicht schlimm genug wäre, hast du auch noch furchtbare Rückenschmerzen  und einen Albtraum.“
Bei diesen Worten musste ich unwillkürlich wieder an diesen Typen denken, der mich fest im Griff hatte. Wenn Hailey mich nicht geweckt hätte, was wäre dann wohl noch alles passiert? Als ich mir die Frage stellte, war die Neugierde größer als die Angst. Und das machte mich, wie so oft in letzter Zeit, total verrückt.
„Dieses Modelcasting ist doch der perfekte Ausgleich zu dem, was wir alles ach so Spannendes in der Schule erleben.“ Hailey verdrehte mit genervtem Blick die Augen, dann geriet sie wieder ins Schwärmen. „Und dann sind da auch noch so tolle Jury-Mitglieder! Diese berühmte italienische Modedesigner, Moesha Repkins, DER neue Coverstar der Modemagazine und dann noch diese unglaublich talentierte Stylistin… Hach, das wird soo cool!“
Sonderlich begeistert war ich immer noch nicht. Aber Hailey hatte Recht, es würde mich endlich mal von diesen ganzen Dingen ablenken, von denen ich endgültig die Schnauze voll hatte.
Und das war doch gut so!

 

Zugegeben: Als wir in der Festhalle des Einkaufzentrums angekommen waren, wo das Casting stattfand, sah es doch gar nicht mal so schlecht aus.
Überall waren lila Trennwände aufgestellt, was aussah, als würden wir nicht in einer Halle mit glänzend weißem Boden, sondern in einem von vielen Gängen stehen.
Zwar wuselten kreuz und quer irgendwelche Leute herum und wirkten dabei ziemlich gestresst, aber dennoch gefiel es mir, was sie aus der eigentlich total langweiligen Halle gemacht hatten.
„Wow!“, staunte nun auch Hailey nach einer kurzen, sprachlosen Pause und verrenkte sich fast den Hals, um alles zu sehen. „Viel geiler, als ich es mir vorgestellt habe!“
Ich nickte zustimmend. Vielleicht würde es mir doch ein wenig Spaß bereiten, bei diesem Casting mitzumachen, obwohl mir jetzt klar würde, dass es ein… Model-Casting war.
Gerade war mir diese Erkenntnis gekommen, da nahm jemand meine Hand und drehte mich einmal im Kreis.
„Wundervoll!“, hörte ich eine theatralische Stimme. „Perfetto.“
Verwundert starrte ich auf einen kleinen Mann mit dunklen Locken und Dreitagebart, modisch gekleidet mit einer weißen Jeans und einem blauen Hemd in Schlangenoptik und unzähligen bunt glitzernden Ringen an den Fingern.
„Alessio Bedretti!“, hauchte Hailey, ganz angetan von diesem Typ, der mir in etwa bis zum Hals ging.
„Welche eine Freude, welch eine Freude!“, strahlte mir der Mann, dem Akzent nach zu urteilen, Italiener, entgegen. „So eine natürliche Schönheit gibt es selten. Diese Haarfarbe…. Wundervoll!“ Er drehte sich vergnügt im Kreis und breite dabei die Arme aus, als wolle die ganze Welt umarmen.
Hailey und ich wechselten einen irritierenden Blick. Keine Frage, bei Alessio Bedretti saßen nicht alle Schrauben ganz locker. Aber irgendwie machte ihn gerade das sympathisch.
„Ihr wollt beim Casting mitmachen? Wunderbar,  wunderbar“, flötete er jetzt und bedeute uns mit einer Handbewegung, ihm zu folgen.
Wir eilten ihm hinterher.
Als ich daran dachte, was er gesagt hatte, musste ich lächeln. Eine Schönheit hatte mich, bis auf meine Mutter natürlich, noch niemand genannt. Und ich hatte mich auch selbst noch nie als eine solche empfunden.
Der Italiener, der, nachdem was Hailey mir vorhin erzählt hatte, ein berühmter Modedesigner war, führte uns quer durch die vollgestopfte Halle.
Ich stieß beinahe mit einer Gruppe aus Männern mit Headsets zusammen und fiel einmal der Länge nach über ein Wirrwarr aus Kabeln, dass auf dem Boden lag, rappelte mich aber trotz dem Schmerz in den Knien gleich auf, um nicht aufzufallen. Allerdings hatte es bei diesem Gewusel sowieso niemand bemerkt.
Endlich blieb der kleine Mann stehen. Hailey schien ein Aufschrei zu unterdrücken, als sie sah, wo wir waren: In einer Garderobe voller Schuhe, Kleidern und Accessoires.
Alles schimmerte in den verschiedensten Farben und Formen und ich sah allein schon beim Hin- und Herschweifen, dass mir das meiste ziemlich gut gefiel.
„Normalerweise müsstet ihr euch noch vorstellen und anmelden. Aber ich finde, das ist nicht nötig.“ Alessio schenkte mir ein warmes Lächeln, dann wanderte sein Blick zu Hailey. „Du scheinst ein Gespür für Mode zu haben. Dein Outfit ist hervorrangend aufeinander abgestimmt.“
Hailey lief rot an und verbarg schüchtern ihre Arme hinter dem Rücken. Hailey und schüchtern? Dieser Alessio musste wirklich ein hohes Tier zu sein, um das hinzukriegen.
Aber ihr heutiges Outfit war auch wirklich ziemlich cool. Unter ihrem schwarz-rot gestreiften Jackett trug sie ein weites, weißes Top mit goldenem Ethnomuster und lässige, schwarze Used-Jeans und Bikerstiefel.
„Helfe deiner Freundin mit einem Outfit. Ich will, dass ihr mich umhaut!“, fuhr der Mann immer noch begeistert fort. „Und beeilt euch bitte ein wenig. Die anderen Teilnehmer sind schon fertig!“
Gesagt, getan. Bevor wir uns auf die Berge aus Kleidern stürzten, führten wir ein kleines Freudentänzchen auf und kreischten wie die kleinen Kinder.
Ich kam mir vor wie in einer anderen Welt. Eine Welt ohne Angst, Wut und Verzweiflung. Eine Welt ohne Verwandlung, Flügel und Geheimnisse. Am liebsten würde ich für immer in dieser Welt versinken.

Kapitel 6

„Wir müssen etwas nehmen, das zu deinen Augen passt“, war das einzige was Hailey noch zu mir sagte, bevor sie in der Welt der Mode beziehungsweise in einem Kleiderhaufen verschwand.
Ich hockte mich auf den Stuhl vor einem Spiegel und betrachtete mich darin.
Die Pickel auf meiner Stirn und dem Kinn störten mich das erste Mal, seit ich sie hatte.
Komisch. Aber sonst war es mir nie besonders wichtig gewesen, mich zu schminken oder so etwas.
Das lag bestimmt daran, dass ich nicht wusste, für wen ich das tun würde. Für mich jedenfalls nicht.
Ich schüttelte entschlossen den Kopf und stand auf. Nein, mit solchen Problemen wollte ich mich nicht herumschlagen. Es gab wichtigeres im Leben als irgendwelche Pickel, die sowieso irgendwann wieder verschwanden.
„Hailey?“, rief ich, bevor ich wieder daran dachte, was das ‚Wichtige‘ war. „Hast du was gefunden?“
„Oh ja“, ertönte es gedämpft hinter mir. „Das hab ich.“
Ich drehte mich um und sah meine Freundin, die gerade hinter einer vollgestopften Kleiderstange hervorkam.
„Unglaublich, dass man sich hier die tollsten Designersachen raussuchen kann! Da klauen doch bestimmt alle.“ Hailey wischte sie den Schweiß von der Stirn. Sie trug unzählige Kleider, die sie nun auf einen Stuhl fallen ließ.
„Ich glaube, hier gibt es etwas, dass du nehmen könntest“, meinte sie lachend und zog ein schwarzes Cocktailkleid mit grünem Glitzer hervor.
„Viel zu ausgeschnitten“, war mein Kommentar.
So ging es lange weiter, bis ich ein wunderschönes türkisgrünes Kleid mit kurzen Ärmeln fand, dass nicht zu kurz oder zu ausgeschnitten war.
Hailey fand es zu schlicht, aber mein Argument, es mit auffälligen Accessoires ‚aufzupimpen‘,  stimmte sie um.
Ich fand silberne Armreifen mit grünen Steinen und Hailey hielt mir schwindelerregende, schwarze High-Heels vor die Nase, bei denen ich automatisch den Kopf schüttelte.
Dafür entdecke ich schwarze Sandalen mit einem wesentlich flacheren Absatz, die mir gefielen.
„Ich glaube, ich hab es kapiert!“, rief Hailey auf einmal und sprang auf. „Wenn man hier mitmacht, geht es nicht nur um sein Aussehen, sondern auch um den Sinn für Mode. Daher diese tollen Sachen!
Jetzt verstehe ich auch, warum alle meinen, es wäre ein ‚neueres Konzept‘!“
Das leuchtete auch mir ein. Ich hatte mich schon gewundert, warum man uns mit all diesen Kleidern alleine ließ. Aber ich glaubte, dass man hier eh nicht ungesehen wieder herauskommt, obwohl ich vorhin einen anderen Eindruck hatte.
„Machst du jetzt eigentlich auch mit, oder spielst du nur Stylistin?“, fragte ich sie neckisch und grinste. Wenn ich für längere Zeit mit jemandem redete, konnte ich aufblühen. Redete ich dagegen mit Hailey, geschah dies sofort nach ein paar Minuten.
„Keine Ahnung“, gab diese jetzt auf meine Frage zurück und strich andächtig über den glänzenden, roten Stoff eines Rockes. „Ist es nicht ein wenig komisch, dass wir uns nicht anmelden mussten und die anderen Teilnehmer alle schon weg sind? Obwohl Alessio total nett war…“
Ich zuckte mit den Schultern. „Eigentlich schon. Aber bestimmt müssen wir das später machen. Ich geh mal kurz aufs Klo, okay?“
Seit einiger Zeit hatte ich einen unangenehmen Druck auf der Blase.
„Verirr dich nicht“, gab Hailey grinsend zurück.

 

So schwer war es nicht, einen Weg zu den Toiletten zu finden. Ich kannte die Halle bereits, weil dort einige Veranstaltungen stattgefunden hatten, auf denen ich war.
Als ich fertig war und die Halle betrat, beschlich mich das komische Gefühl, mich beobachte jemand.
Es kam aus meiner Magengegend, dort wo sonst immer das Panikgefühl bei der Berührung von Wasser auftauchte.
Ich hielt in meiner Bewegung inne und sah mich unauffällig um. Die Toiletten lagen in einem kleinen Gang, wo wenig Betreib herrschte. Wer also sollte mich beobachten?
Während ich weiterlief, versuchte ich mir dieses dumme Gefühl auszureden. Vielleicht starrt mir auch nur irgendein Mädchen hinterher, dachte ich verzweifelt und merkte selber, dass es nicht stimmte.
Der Blick brannte fast auf meinem Rücken und ich überwand meine Angst, indem ich mich blitzschnell umdrehte.
Doch da war niemand.
Ich wischte mir die schweißnassen Hände an meinen Leggins ab und schüttelte den Kopf.
Hier war niemand, der mich beobachtete, und ich stand trotzdem vor dem Durchdrehen.
Das konnte doch alles nicht wahr sein!
Ich ertappte mich dabei, wie sich meine Augen mit Tränen füllten, ob ich es wollte oder nicht.
Außerdem hörte ich mein Herz rasend schnell und unregelmäßig klopfen.
Dieses verdammte Gefühl verschwand einfach nicht, also beschleunigte ich meinen Schritt und bahnte mir ein Weg durch Technikgerümpel,  Menschen und Gänge.
Und da sah ich ihn.
Er stand ungefähr drei Meter vor mir und starrte auf ein Handy.
Er war es. Ich war mir so sicher, dass mir ganz heiß wurde vor Aufregung.
Seine kurzen hellbraunen Haare waren mit Gel hochgekämmt, allerdings standen einzelne Haarsträhnen vom Kopf ab, was aussah, als wäre er gerade aufgestanden.
Er trug eine lässige schwarze Jeans und ein rotes T-Shirt, unter dem seine Bizeps hervortraten.
Und dann, ganz plötzlich und ruckartig, als hätte er meinen Blick gespürt, drehte er seinen Kopf zu mir um. „Lenaya.“
In diesem Moment wurde ich von Erkenntnissen fast erschlagen:
Er hatte fast dieselben grünen Augen wie ich.
Er kannte meinen Namen und hatte ihn mit einer unglaublich beängstigenden Sänfte ausgesprochen.
Er war es, der mich durch den Wald gejagt hatte. Und dieses Mal war es nicht nur ein Gefühl.
Nein, dieses Mal war es die Wahrheit.

Kapitel 7

Was dann geschah, ging wie von selbst und ohne darüber nachzudenken.
Ich rannte los.
Einfach nur weg von hier, war mein einziger Gedanke. Und als ich schnelle Schritte hinter mir hörte und ich mich nicht umdrehen musste, um zu wissen, wer es war, brach all das, was ich in den letzten Minuten verdrängt hatte wieder auf.
Die Verfolgung im Wald. Seine Hand auf meinem Arm. Ein fester Griff, dem ich mich nicht entwenden konnte.
Der Traum. Seine Hände auf meinem Hals.
Ich sah, wie mich einige Leute anschauten, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen, als ich mit tränenüberströmtem Gesicht an ihnen vorbeizischte.
Und, ehrlich gesagt, wäre ich es auch gewesen, wenn ich so jemanden gesehen hätte.
Endlich sah ich die Eingangstür der Halle.
Sie war schwer wie Blei und es kostete mich einiges an Kraft, sie aufzustoßen.
Als es mir endlich gelang, wagte ich doch noch einen schnellen Blick über die Schulter.
Er war fast bei der Tür, die gerade wieder ins Schloss fiel.
Kaum ausgeatmet tat ich etwas völlig Unüberlegtes, aber dennoch richtig genial.
Ich gab der Tür einen heftigen Tritt nach hinten und hörte daraufhin gleich ein lautes Klatschen.
Wieder blieb ich stehen und drehte mich diesmal ganz um. Er taumelte gerade nach hinten und hielt sich die Nase. Ich sah das Blut trotzdem.
„LENAYA!“, schrie er mit so einer lauten und durchdringlichen Stimme, dass ich eine Gänsehaut bekam und zusammenzuckte.
Er sah mich durch die Glastür an, mit einem Blick, der unglaublich viel aussagte. Neben Wut, Verzweiflung und Entsetzen spiegelte sich dort auch etwas anderes wider. Was genau es war, erfuhr ich wohl nie, denn ich hatte keine Zeit dafür.
Ich wusste nur, dass ich mich von seinem Anblick nicht ablenken lassen durfte.
Und so drehte ich mich um rannte weiter.
Ich überquerte die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten und erntete dafür ärgerliches Hupen und Bremsenquietschen ein.
Aber es war mir egal.
Die Umgebung war mir bekannt. Wenn ich nicht so durcheinander gewesen wäre, hätte ich mich bestens ausgekannt.
Und so klaffte irgendwo in meinem Kopf ein Loch der Orientierungslosigkeit.
Hastig wandte ich mich um und rannte keuchend und mit einem stechenden Schmerz in der Seite auf einen kleinen Park zu. Die verschiedenen Formschnitte und Blumen ließen mich kalt, obwohl sie wunderschön aussahen und ich zu gerne stehen geblieben wäre.
Hinter mir waren keine Schritte zu hören. Obwohl, ich könnte sie wahrscheinlich sowieso nicht hören, weil ich nur meinen Herzschlag und mein Keuchen hörte.
Also holte ich noch das letzte aus meinem Körper heraus, was es herauszuholen gab und beschleunigte meine Schritte.
Kaum hatte ich den Park verlassen und eine weitere Straße überquert, machte ich einen furchtbaren Fehler.
Ich dachte, wenn ich in diese Gasse einbog, würde ich beim Star-Café wieder herauskommen, doch ich irrte mich.
Es war eine Sackgasse.
Und hinter mir waren auf einmal wieder die keuchenden Schritte zu hören.
„Warte doch!“, keuchte er und im nächsten Moment spürte ich seine Hand auf meiner Schulter.
In meinem Kopf spüre ich einen kurzen Stich, als mir bewusst wird, dass ich das, was gerade passierte, schon einmal erlebt hatte. Und zwar am selben Tag.
Ich wollt nicht wissen, was das bedeutete, ich wollte in diesem Moment nur das, was unerklärlicherweise danach geschehen war. Meine Flügel.
Nichts wünschte ich mir gerade mehr, doch sie kamen nicht. Wie hätte ich sie auch herbeirufen können? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ich das steuern konnte.
Kurz vor der roten Backsteinwand bremste ich ab und bleib schließlich keuchend davor stehen.
Er hatte mich losgelassen, als ich langsamer geworden war.
Meine Lunge und mein Rachen brannten fürchterlich, als hätte jemand mir die Luft einfach abgeschnürt.
Aber noch schlimmer war das Gefühl tief in mir drinnen. Er hatte mich gekriegt. Wie ich es befürchtet hatte.
Und dieses eine Mal, wenn ich sie unbedingt wollte, waren meine Flügel nicht erschienen.
„Lenaya… Verdammt, beruhig dich doch mal!“ Er raufte sich aufgebracht die Haare. Ich hatte doch noch einen Blick gewagt und sah, dass das Blut in Bächen über seine Lippen lief und langsam vom Kinn auf sein Shirt tropfte.
Und das alles nur wegen mir…
Ganz kurz drohte, ein drückendes Schuldgefühl mich zu übermannen, doch es verschwand gleich wieder. Was blieb, war die kalte Angst vor ihm.
Er musste nur seine Hände auf meinen Hals legen und…
An den Gedanken daran wurde mir schwarz vor Augen und die Tränen liefen mir wie von selbst die Wangen herunter.
„Jetzt komm schon, ich tu dir nichts. Ich will nur mit dir reden!“, rief er aufgebraust und starrte mich wütend an.
Diese Erklärung klang so einfach und plausibel, dass ich sie am liebsten geglaubt hätte.
Aber die Verfolgungsjagd im Wald ließ alle meine Hoffnungen zerspringen wie ein Teller in tausend Scherben.
Unzählige Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, ich dachte an meine Eltern, Hailey und immer wieder an diese verdammten Flügel.
Ich konnte nicht entkommen. Er hatte sich breitbeinig vor mir aufgebaut, ein Ausweg erschien zwecklos.
Plötzlich war die Angst ebenso aufgebraucht wie meine Tränen. Ich spürte, wie sie langsam trockneten und meine Haut davon spannte.
Er holte tief Luft, bevor er herausplatzte: „Du kannst dich in einen Schmetterling verwandeln.“
Mein Mund klappte auf, ohne dass ich etwas sagte. Fassungslos ballte ich meine Hände zu einer Faust. Das konnte niemals sein. Ich hatte gedacht, er hätte nur meine Flügel gesehen.
Ich wollte gerade zu meinem nächsten Satz ansetzen, da hörte ich, wie er seufzte und als ich zu ihm schaute, schüttelte er den Kopf.
„Also“, setzte er an und sah mir dabei in die Augen. Es war, als hätte ich in den Spiegel geschaut. Genau dasselbe helle, funkelnde grün.
Obwohl wir uns nur für wenige Sekunden so anblickten, kam es mir vor, als wäre es viel länger.
Und in diesem winzigen Moment bekam ich das Gefühl, dass ich bekommen hatte, als ich mit meinen Flügeln einfach abgehoben war. Freiheit.
Aber dies verschwand gleich darauf wieder.
Ihm dagegen schien das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Er wurde blass und riss die Augen auf.
Dann kam er langsam näher und starte mir geradewegs in die Augen.
„Ach du Scheiße“, murmelte er bestürzt und griff sich in die Hosentasche.
Das, was er dort hervorzog, ließ mich vor Panik fast laut aufschreien.
Also doch, dachte ich, denn sprechen konnte ich nicht mehr.
Dafür hatte ich aber wieder meine Kräfte und frische Luft in meinen Lungen zurück.
Kaum war ich zur Seite gesprungen, spürte ich einen kurzen, spitzen Stich in meinem Arm.
Es war die Nadel einer kleinen Spritze mit durchsichtiger Flüssigkeit, die er in meinen Arm stach.
Ich wollte meinen Arm zurückreißen, doch er hielt mich fest im Griff, aus dem ich mich nicht entwenden konnte.
„Nein!“, flüsterte ich und meine Lippen begannen zu beben. „Nein.“
„Notfall. Es ist ein Notfall gewesen“, murmelte er, mehr zu sich, als zu mir selbst.
Er zog Spritze hastig aus meinem Arm. Ich starrte mit aufgerissenen Augen auf den Tropfen Blut, der aus der Stelle quoll.
„Deine Augen“, war das einzige, was er so flüsterte, als wäre es etwas Weltbewegendes.
„Was?!“
Dass ich es geschrien hatte, war mir egal. Ich merkte, wie sich etwas in meinem Kopf einnistete.
Er hob die Hand und schaute sich unruhig um. „Es war echt ein Notfall, wirklich.“
Das, was sich in meinem Kopf eingenistet hatte, breitete sich nun in meinem ganzen Körper aus. Es war eine wohlige Wärme, die durch mich hindurchströmte und sie schien mir zu sagen, dass ich einfach fallen lassen sollte.
Ich spürte, wie meine Beine unter mir nachgaben, dann folgten meine Arme, die schwerelos wurden.
Bevor alles dunkel und leicht wurde, spürte ich noch, wie sich starke Arme um mich schlangen und er flüsterte: „Sie waren blau.“

 

„Das hättest du trotzdem nicht tun sollen“, riss mich eine raue, aber warme, weibliche Stimme aus dem Gefühl der Leichtigkeit. Aber ich war viel zu müde, um meine Auen auch nur ein Spalt weit zu öffnen.
„Verstehst du es nicht? Wenn du das gesehen hättest… Außerdem wäre sie freiwillig sowieso nicht mitgekommen, so hysterisch wie sie war!“
Das war doch die Stimme, von diesem Typ, der mich im Wald verfolgt hatte…
Mit einem Schlag hörte ich nicht nur die Stimmen, sondern fühlte auch, wie sich etwas Weiches um mich schmiegte, vermutlich lag ich in einem Bett.
Ich versuchte, mich nicht zu bewegen und lauschte angestrengt den Stimmen, obwohl ich so hörte, als würden meine Ohren mit Watte ausgestopft worden.
„Was hätte ich gesehen? Willst du es mir nicht sagen, mein Junge?“ Die Stimme wurde auf einmal alt und schwach, ich hörte, wie etwas auf Holz plumpste, das zu Knarzen begann.
„Wenn sie aufwacht, siehst du es selber“, brummte der Typ fast ein bisschen genervt. Gleich darauf hörte ich ein Schnipsen, es schien direkt vor meinem Gesicht zu sein.
Erschrocken zuckte ich zusammen und riss die Augen auf.
Vor mir stand er, allerdings in schwarzer Jogginghose und ausgeleiertem Sweatshirt.
Ich war mir todsicher, dass er es war, der mich durch den Wald gejagt und von dem ich geträumt hatte.
Hatte er mich erwischt und mich gefangen genommen?
Die Angst kroch mir den Rücken herauf und mir wurde mit einem Schlag eiskalt.
Angestrengt versuchte ich etwas zu sagen, aber meine Zunge fühlte sich an wie kiloschwerer Zement.
Er beugte sich ein wenig vor und starrte mir mit gerunzelter Stirn in die Augen. Kaum drei Sekunden später ging er kopfschüttelnd aus dem Raum.
Erleichtert, dass sein Blick nicht mehr auf meinem lag, sah ich mich um.
Ich lag tatsächlich auf einem hohen, schmalen Bett mit weißem Bezug.
Der Raum war klein und die Wände waren in einem hässlichen Grauton gestrichen, die allerdings dunkle Holzregale, Bilder und  bunte Teppiche bedeckten.
Bei einem der Bilder blieb mein Blick voller Faszination kleben. Dort war eine schmale, blasse Hand abgebildet, die einen silbernen Ring trug. Um sie herum waren lauter bunte Schmetterlinge.
Eine dunkle Vorahnung erfasste mich, doch bevor ich sie zu Ende gedacht hatte, wischte ich den Gedanken weg und meine Augen wanderten weiter.
Gegenüber von dem Bett, auf dem ich lag, saß eine alte Frau auf einem brüchigen Holzstuhl und lächelte mich aus müden dunklen Augen an. Ihre Haare waren hellgrau und umspielten ihr schmales, faltiges Gesicht.
Sie trug ein blaues, bodenlanges Kleid, das ihre zierliche Figur betonte.
„Willkommen bei uns, Lenaya“, begrüßte sie mich und musterte mich durchdringlich.
„Wo bin ich?“, konnte ich nach einem rauen Räuspern krächzen.
Die Frau stand langsam auf, als würde es ihr viel Kraft kosten und ging  auf mich zu. „Es tut mir sehr leid, dass wir uns nicht anders begegnen konnten.
Wir haben sehr lange nach dir gesucht…“
Sie machte eine Pause, als müsste sie ihre Kräfte wieder sammeln und lächelte dann wieder. „Ich habe meinem Enkel Marcius aufgetragen, dich zu suchen, als wir herausfanden, in welcher Stadt du wohnst.
Dass du ausgerechnet in diesem Zeitpunkt, als du ihn gesehen hast, deine Flügel bekommen hattest, war sehr unpassend, aber…“
„Moment!“, rief ich und erschrak über meine eigene Stimme, die sich seltsam rau anhörte. „Wer seid ihr? Warum…“ Ich hustete wegen der Trockenheit meines Mundes husten. „Warum habt ihr mich gesucht?“ Ich richtete mich auf und war bereits fast so groß wie die Frau, die auf den ersten Blick größer schien.
Die Frau seufzte und ihr Blick wurde abwesender. „Ich bin Emalia.
Wir sind Schmetterlingsmenschen. Genau wie du.“

Kapitel 8

Es war wie ein Schlag in den Magen.
Die Erkenntnis bohrte sich so tief in mein Innerstes, dass ich das Gefühl hatte, zu platzen.
Wir sind Schmetterlingsmenschen. Genau wie du.
Der Begriff erschien mir so seltsam vertraut, obwohl ich ihn noch nie gehört hatte.
Mein Atem setzte mitsamt dem Herzschlag aus und ich wusste nicht ob ich bleich wurde oder rot anlief.
Die unbändige Hitze wollte aus mir heraus, meine Wangen fingen an, zu glühen.
Ich war nicht einmal mehr in der Lage, etwas darauf zu erwidern. Aber ich hätte sowieso nicht gewusst, was ich dazu sagen sollte.
Natürlich hätte ich diese Frau auch für verrückt erklären können, doch ich tat es nicht. Obwohl ich es mir eigentlich wünschte, gab es nichts, was gegen sie sprach.
Wie hätte sie wissen können, dass ich mich in einen Schmetterling verwandeln konnte? Eigentlich konnte das niemand wissen.
Also musste doch irgendetwas daran dran sein.
Fast hätte ich laut aufgelacht, wäre die Situation nicht so verdammt ernst.
Mein Kopf versuchte nämlich, wie so oft, verzweifelt eine Lösung nach allem zu suchen, aber das, was mein Bauch sagte, interessierte ihn nicht.
Das alles schwirrte mir in nicht einmal einer Minute im Kopf herum, während ich diese Frau namens Emalia regungslos anstarrte.
„Du hast schon richtig gehört, Lenaya“, sagte Emalia und lächelte wieder. „Du bist ein Schmetterling. Du und die Natur, ihr seid verbunden miteinander wie ein Fisch mit dem Wasser. Wir alle sind mit der Natur verbunden.“
Sie hob die zittrige Hand und legte sie mir auf die Schulter. Ich spürte einen elektrischen Schlag an der Stelle und zuckte erschrocken zusammen, während sich meine Lungen wieder mit Luft füllten.
Eigentlich waren es diese extrem kurzen Momente, bei denen man nicht wusste, ob sie wirklich geschehen waren, aber ich glaubte, für genau diesen winzigen Moment ein warmes Kribbeln in meinem Körper zu spüren.
Emalia nahm ihre Hand von meiner Schulter weg und meine Lippen fingen an zu zitterten.
„Lenaya… Ich wollte von Anfang an nicht, dass ich es dir so sagen muss. Aber es ging nicht anders.
Ich…“ Sie stockte und in ihren Augen, die bei genauerem Hinsehen eher dunkelgrün waren, schimmerten Tränen. „Ich hätte es anders machen sollen. Doch ich wusste nicht, wie…“
Ich konnte immer noch nicht sprechen. Der Schock fraß sich tief in meine Hautzellen und ich war viel zu sehr damit beschäftigt, nicht in Tränen auszubrechen oder einfach nur zu schreien.
Ich war kein Mensch großer Wut- oder Heulausbrüche, aber wer würde in solch einer Situation nicht so reagieren wie ich?
Also ließ ich diese Emalia weitersprechen, während ich mir zitternd die Arme um die Knie schlang, obwohl es nicht kalt war.
„Wir haben dich bereits seit deiner Geburt gesucht. 16 Jahre lang. So lange haben sie es geschafft, uns aufzuhalten…“ Emalias Blick wurde wütend und ihre Augen funkelten.
Wen meint sie mit uns? Und wen mit sie?
Meine Gedanken flatterten durch meinen Kopf wie ein Schwarm aufgeschreckter Schmetterlinge.
Schon wieder diese Tiere.
„Bis vor ein paar Tagen haben wir endlich herausgefunden, wo du wohnst.
Ich habe Marcius aufgetragen, dich zu finden und mit dir zu reden.
Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist, als er sich einen Spaß erlaubte, und dir absichtlich Angst einjagte. Er begreift den Ernst der Lage immer noch nicht…“
Ich hatte kaum etwas verstanden, von dem, was sie zu mir sagte, doch eines wusste jetzt hundertprozentig. Die Angst hatte einen Namen. Marcius.
Eine ungeheure Welle der Wut kam auf mich zu geschwappt und ob ich es wollte oder nicht, ballte ich die Hände zu Fäusten und kniff die Augen zusammen.
In diesem Moment stürmte jemand in das Zimmer und schlug die Tür mit einem lauten Krachen wieder zu.
In meinem Kopf dröhnte es und der Schlag hallte in meinen Ohren nach.
Marcius.
Er hielt eine Flasche Bier in der Hand und stellte ein Glas Wasser auf den winzigen Nachttisch, neben dem Bett.
Dann ließ er sich auf einen Stuhl fallen, der empört knarze und trank die Flasche in einem Zug aus.
Ich beobachtete ihn wortlos und versuchte, meine Wut nicht zu zeigen.
Aus den Augenwinkeln nahm ich Emalia wahr, die auf das Glas deutete.
Hastig schnappte ich es mir und trank es in wenigen Schlucken aus. Danach ging es mir schon viel besser und mein Hals war nicht mehr trocken.
„Wo bin ich überhaupt?“, war die erste Frage der gefühlten Tausenden in meinem Kopf, die mir einfiel.
Die alte Frau schaute aus dem Fenster, in eine wunderschöne Landschaft, die ich noch nie gesehen hatte. Die saftig grünen, blühenden Wiesen verliefen bergab bis zu einem kleinen See, dessen türkisgrünes Wasser in der Sonne einladend funkelte.
Mein Herz wurde sofort leichter, als ich diese unberührte Natur sah. Was würde ich nur geben, um hinauszugehen und es zu genießen; all das, was ich erlebt hatte, zu vergessen?
Dann allerdings entdeckte ich etwas Ungewöhnliches, dass mich wieder in die Realität zurückholte.
Direkt vor der Fensterscheibe flog ein Schwarm Schmetterlinge. Irgendwie lösten sie in mir etwas aus, was ich sonst nur bei Hailey und meiner Mutter verspürte: Geborgenheit.
Ihre Flügel hatten die unterschiedlichsten Blautöne, die man sich vorstellen konnte und einer stach besonders heraus.
Seine Flügel waren deutlich größer als die anderen und funkelten in einem so intensiven dunklen Blau, dass mir der Mund faszinierend offen stand.
Ich hörte zwar die raue Stimme Emalias, die weitersprach, doch ich nahm sie nicht wahr.
Meine Gedanken waren nur noch auf diese Schmetterlinge gerichtet.
Der große Schmetterling schien die Scheibe nicht zu stören. Als wäre sie nie da gewesen, flog er durch sie hindurch direkt in meine Richtung.
Seine Flügel schlugen so rhythmisch im Takt, dass man meinen könnte, er würde tanzen.
Ich verspürte den Drang, aufzustehen und mit ihm zu tanzen,  doch ich fühlte mich zu schwach und ausgelaugt. So blieb ich stumm auf dem Bett sitzen, beugte mich dennoch ein wenig nach vorne, um alles besser zu sehen.
Die Flügel des Schmetterlings funkelten immer mehr, es sah aus wie helle Sterne, die in alle Richtungen schossen.
Obwohl sie zitterte, streckte ich die kalte, aber dennoch schweißnasse Hand aus und fing eines der Sterne auf.
Prompt durchströmte meine Hand eine angenehme Wärme, die mit einer unglaublichen Wucht durch meinen ganzen Körper schoss.
Meine Energie kam zurück, das spürte ich ganz deutlich und ich stellte mir nicht die Frage, wieso und weshalb.
Ich nahm nichts mehr um mich herum wahr, vergaß sogar meine Gefühle und meine verwirrten Fragen, die mir im Kopf herumschwirrten.
Es gab nur mich und diesen wunderschönen Schmetterling, der nun direkt vor meiner Nase tanzte.
Gerade dann, als ich den Finger ausgesteckt hatte, damit er sich auf ihn setzen konnte, spürte ich einen heftigen Ruck an meiner Schulter.
Mit einem Mal waren sowohl die Schmetterlinge als auch das Gefühl der Geborgenheit und Kraft verschwunden. Erschöpft sank ich zurück in das Kissen.
„Es ist ernst“, hörte ich Emalias Stimme wie aus der Ferne, doch dieses Mal klang sie überhaupt nicht warm und freundlich.

 

„Sie gehören nicht zu uns. Hörst du, Lenaya? Sie gehören nicht zu uns.“
Während sie dies sagte, lief sie mit eiligen Schritten im Zimmer herum, als schien sie zu überlegen und wirkte dabei überhaupt nicht mehr wie eine alte, zerbrechliche Frau.
Auch Marcius´ Gesichtsausdruck hatte sie verändert. Er bewarf mich nicht mehr mit amüsierten Blicken, sondern schaute mir immer nur prüfend in die Augen, während ich in seinem Gesicht keinerlei Gefühle erkennen konnte.
Obwohl ich verstand, dass er mich nicht umbringen wollte oder ähnliches, war die Angst vor ihm nur um ein paar Zentimeter gesunken.
Ich wusste einfach nicht, wie ich mit der gesamten Situation umgehen sollte und so hielt ich es für das beste, weiterhin abzuwarten, bis diese Leute mir alles erzählt hatten.
Emalia schüttelte verzweifelt den Kopf, während sie weitersprach: „Sie wollten dich auf ihre Seite ziehen. Schon wieder haben sie es getan…“
Erst beim dritten Anlauf hatte ich es geschafft, mich wieder aufzurichten und mich gegen die Wand hinter dem Bett zu lehnen.
Wieder im Bett zu liegen, kam mir so schwach und hilflos vor, und obwohl ich es gerade auch war, wollte ich nicht so wirken.
Ich wollte gefasst und ruhig gegenüber Emalia und sogar über ihrem Enkel sein, doch bereits bei der ersten Silbe merkte ich, dass ich versagte.
„Ich.. verstehe das alles überhaupt nicht. Wieso habt ihr die Schmetterlinge nicht bemerkt? Was ist so schlimm an ihnen? Und was meinen Sie mit ‚auf ihre Seite ziehen‘?“, fragte ich mit heiserer Stimme und fuhr mir mit der Zungenspitze über die rissigen Lippen. Das Glas Wasser hatte nicht gereicht, um meine Trockenheit zu stillen, doch ich wagte es nicht, nach einem weiteren zu fragen, denn dieser Moment war viel zu entscheidend, um nach so etwas zu fragen.
„Du bist echt schlecht im Erklären, Grandma“, mischte sie Marcius ein und stand auf.
Ich knüllte die Bettdecke krampfhaft zu einem Knäuel zusammen, weil mich die ganzen Gefühle verwirrten und ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte.
Und als ich in das Gesicht von ihm sah, wusste ich, dass ich keine wirkliche Angst mehr vor Marcius selbst hatte.
Nein, ich hatte Angst vor der gesamten Situation. Vor das, was diese seltsamen Menschen mir alles zu sagen hatten.
Und vor dem, was ich gerade eben, vor nicht einmal zwei Minuten erlebt hatte.
„Hör gut zu, okay?
Du bist ein Schmetterlingsmensch, genau wie Grandma und ich. Das bedeutet, du bist zwar ein Mensch, hast jedoch auch die Gene von einem Schmetterling in dir. Kannst du mir soweit folgen?“
Sein letzter Satz klang ziemlich genervt und gehetzt, also nickte ich hastig und starrte wieder zu ihm hoch.
„Seit über fünfzehn Jahren sind die Schmetterlingsmenschen in zwei Spezies gespalten.
Nenn sie Gut und Böse, Held und Schurke, ist mir echt egal. Wir nennen sie allerdings Frühlings- und Winterschmetterlinge.“ Er wendete seinen Blick von mir ab und schaute zu Emalia, die nun zusammengekauert auf der Bettkante hockte, wie ein kleines Kind bei dem Schimpfen der Eltern.
Ich wurde aus dieser Frau einfach nicht schlau.
„Wir alle“, fuhr Marcius fort und deutete mit dem Zeigerfinger auf mich, Emalia und schließlich sich selbst, „gehören der Jahreszeit Frühling an. Verstehst du? Wir haben grüne Augen und grüne Flügel und lieben diese Jahreszeit.
Die Winterschmetterlinge haben eisblaue Augen und blaue Flügel. Und jetzt rate mal, wen du vorhin gesehen hast.“
Er machte eine lange Pause und verschränkte dann ungeduldig die Arme, als ich immer noch nicht antwortete.
Ich konnte es mir denken, aber ich wollte es nicht laut aussprechen, sowohl aus Angst etwas Falsches, aber auch aus Angst, die Wahrheit zu sagen.
„Die Winterschmetterlinge, verdammt!“,  zischte er wütend und hockte sich wieder auf den Stuhl.
„Und… und was wollten sie von mir?“, fragte ich kleinlaut. Ich fühlte mich unwohl bei diesen Menschen, die so anders waren als alle anderen, aber dennoch so wie ich.
Aber trotzdem wollte ich endlich all das wissen, was ich schon seit drei Jahren, seit meiner ersten Verwandlung wissen wollte.
„Wir leben in einem jahrelangen Krieg.“ In Emalias Stimme lag eine drückende Trauer, obwohl ihr Gesicht wie versteinert war.
Sie stand langsam auf und strich sich das Kleid glatt. „Er wurde allein nur wegen deiner Geburt angefacht. Irgendetwas schlummert in dir, dass für alle Schmetterlingsmenschen wichtig ist.
Was genau es ist, wissen nur die Winterschmetterlinge. Aber eines wissen auch wir: Um das zu bekommen, was sie wollen, müssen sie dich endgültig zu einem Winterschmetterling verwandeln, dich endgültig auf ihre Seite ziehen.“
So langsam konnte ich der ganzen Geschichte folgen, aber es war immer noch unglaublich, dass sie mir das erzählten. Meine Hand krallte sich so tief in die Decke, dass sich meine Nägel in meine Handflächen bohrten.
Emalia hatte das Wort endgültig bedeutungsvoll betont. Mir schwante eine Vorahnung, die so furchtbar war, das
„Verstehst du jetzt endlich, was sie vorhin versucht haben?“, rief Marcius ungeduldig dazwischen.
Ich verstand.
Und plötzlich fiel mir aus heiterem Himmel auch wieder ein, was beim Casting geschehen war. Marcius musste mich mit irgendetwas betäubt haben. Und bevor alles dunkel geworden war, hatte er noch etwas zu mir gesagt.
„Sie waren blau.“
Von einer unglaublichen Panikwelle ergriffen, schlug ich mir die Hand vor den Mund.
Mein Kopf war wie ein riesiges Puzzle. Als ich mich das erste Mal verwandelt hatte, waren alle Puzzleteile verwirrt durcheinander gewirbelt, aber nun, nach drei Jahren, setzten sich viele wie von selbst wieder zusammen.
Obwohl ich immer noch vieles nicht verstand, wurde mir nun einiges klar, und zwar so schlagartig, dass ich wohl nach hinten gekippt wäre, wenn die Wand nicht hinter mir wäre.
Diese… Winterschmetterlinge wollten mich selbst zu einem verwandeln.
Was hatte Marcius gesagt? Winterschmetterlinge haben eisblaue Augen und blaue Flügel.
Prompt dachte ich an das, was ich heute Morgen auf meinem Rücken gesehen hatte. Meine Flügel waren nicht grün gewesen. Sie waren türkisblau.
Und nun verstand ich auch endlich, wieso Marcius mich so erschrocken und ängstlich angesehen hatte. Meine Augen waren blau geworden.
„Sie haben es doch schon geschafft“, brach es schließlich tonlos aus mir heraus, dann folgten die Tränen, die sich, seit ich aufgewacht war, angesammelt hatten.

Kapitel 9

Emalia bedeutete Marcius mit einem Nicken, aus dem Zimmer zu gehen. Er schwirrte ohne weitere Worte ab, blickte aber noch kurz zu mir herunter.
Dann kam die alte Frau mit langsamen Schritten zu dem Bett, auf dem ich kauerte und setzte sich neben mich.
„Lenaya…“, begann sie mit zitternder, tränenerstickten Stimme und legte ihre blasse Hand auf meine, die auf meinen angezogenen Knien ruhte. „Du weißt nicht alles über uns. Über dich.
Es gibt noch einiges, was wir dir erzählen müssen. Aber nicht jetzt…“
Der Schmerz in mir drin war zu stark, um gleich etwas darauf zu antworten. Ich konnte nicht aufhören, zu schluchzen und die Angst bedeckte meinen ganzen Körper, ähnlich bei der Sache mit dem Wasser, wie ein großer Schatten, der mich aufessen wollte.
Obwohl mir diese furchtbare Angst alle Gedanken nahm, wusste ich, dass das Heulen mir nicht half.
Nicht einmal bei meiner ersten Verwandlung war dieses Gefühl so intensiv gewesen.
Mein Gehirn versuchte wieder einmal, verzweifelt, alle Möglichkeiten nach einem Ausweg zu suchen, doch es gab keinen. Ich war wie Gefangen in einer Situation, die ich nie mehr rückgängig machen konnte.
Ich wusste jetzt mehr, die Unklarheit über diese ganzen Dinge war zum Teil verschwunden, aber was half es mir?
Die Tataschen waren so hart auf den Boden geknallt worden, dass man den Knall fast hören konnte.
Ich hätte mich beinahe in diesen… Winterschmetterling verwandeln lassen, ohne zu wissen, was ich da getan hatte.
Wenn ich so überlegte, fiel mir auf, dass ich eigentlich gar nicht mehr durch meinen eigenen Kopf gehandelt hatte. Es ging einfach von alleine, ohne darüber nachzudenken…
„Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen“, drang Emalias Stimme wieder an mein Ohr.
Ich zuckte erschrocken, über das, was sie gesagt hatte, zusammen und riss den Kopf zu ihr herum. „K-können Sie… Ge-Gedanken lesen?“
Mit bebenden Lippen und Stimme, der jedes Mal ein Schluchzen entwich,  fiel es mir schwer, richtig zu sprechen, aber ich hörte meine Fassungslosigkeit dennoch heraus.
Du “, gab die Frau zurück und drückte meine Hand. „Kannst du  Gedanken lesen, wohl eher.“
Sie schüttelte mit einem Anflug von Lächeln den Kopf. „Nein, das kann ich nicht. Aber ich habe es an deinem Gesichtsausdruck abgelesen.
Weißt du, Lenaya…“ Sie seufzte und atmete tief ein und wieder aus, was allerdings nicht so klang, als hätte sie es schwer, zu atmen, sondern eher so, als bräuchte sie für das, was sie sagen wollte, viel Luft.
„Ich war, als ich es erfahren hatte, in einer ähnlichen Situation wie du.  Mir wurde ebenfalls lange die Wahrheit über mich verschwiegen.
Und auch ich habe mir Vorwürfe gemacht.“
Ihre Augen schienen ins Leere zu wandern, als würde sie sich an das erinnern, was sie mir gerade erzählt hatte.
„Doch es war falsch“, redete sie nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich allerdings nicht ungeduldig wurde, weiter.  „Verstehst du? Ich konnte nichts dafür, dass mir niemand etwas gesagt hatte. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung und auch keine Zweifel, dass mir meine Familie etwas verschwieg.
Und genauso geht es dir nun.
Also bitte, unterstelle dir keine Fehler, für die du nichts kannst. In Ordnung?“
Ihr Ton war bei dieser Bitte nicht scharf geworden, sondern immer noch sanft geblieben, was mich ein wenig beruhigte.
Die Tränen schienen aufgebraucht; ich wischte sie mir mit dem Ärmel meines Pullis weg und versuchte, tief durchzuatmen.
„Und…“ Ich merkte, wie meine Stimme langsam zurückkehrte. „bin ich… bin ich denn zuhause überhaupt noch sicher?“, die Frage auszusprechen fiel mir schwer, denn ich wollte mir nicht aausmalen, wie die Antwort lauten könnte.
Was, wenn Emalia mir nun sagen würde, dass ich nie wieder nach hause gehen konnte und wir fliehen mussten? Was machte ich dann? Niemals könnte ich meine Mutter und Hailey einfach so zurücklassen…
Ich verkniff mir weitere Gedanken und schaute Emalia erwartungsvoll an.
Diese schien mit sich zu kämpfen. Wollte sie mich vor der Wahrheit bewahren? So wie die letzten Jahre?
„Natürlich gibt es dafür keine Garantie“, platzte sie nach weiterem Zögern heraus und schaute mich bedauernd an. „Aber sie trauen sich meistens nicht, bei normalen Menschen wie deiner Mutter aufzutauchen.“
Die Antwort ließ mein Herz schneller klopfen und mir einen eiskalten Schauer den Rücken herunter jagen.
„Meine Mutter… ist kein Schmetterlingsmensch? A-aber…“
Emalia unterbrach mich: „Dazu kommen wir morgen. Ich… ich denke, du hast nun ziemlich viel über uns und über dich erfahren, das musst du erst noch verarbeiten.“
Ich gab ihr Recht. Irgendwie sehnte ich mich nach meinem Bett, denn die Müdigkeit drückte immer noch auf mir, aber auf der anderen Seite wollte ich unbedingt noch mehr über all diese Dinge erfahren.
Auf einmal nahm sie wieder meine Hand und strich andächtig über den Schmetterlingsring.
Mit einem Mal bildete sich in meinem Kopf eine neue Frage.
Der Ring hatte auf jeden Fall etwas mit der Verwandlung zu tun, klar, das war mir schon länger klar geworden.
Aber konnte ich mich nur durch ihn verwandeln oder hätte ich es auch schon, bevor ich ihn gefunden hätte, gekonnt?
Ich hatte mir die Frage schon einmal gestellt, fiel mir plötzlich wieder ein. Damals hatte ich den Ringe einfach wegwerfen wollen, weil ich dachte, dass dies alles nur durch ihn geschehen war.
Wenn ich mich nur durch den Ring in einen Schmetterling verwandeln konnte, was geschah dann, wenn ich ihn nie wieder anziehen würde?
Bisher war mir dies nie wirklich gelungen, außer beim Sport in der Schule. Es schien zwischen meinem Finger und diesem Ring wie bei einem Magneten und Metall zu sein: Sie zogen sich immer wieder an und waren kaum zu trennen.
Diese Gedanken belagerten meinen Kopf, während Emalias knochiger Finger auf den Flügeln des Schmetterlings liegen blieben und sie ihre Lippen bewegte, ohne etwas zu reden.
Dann zog sie ihre Hand weg und sagte zu mir: „Siehst du das Bild dort?“ Emalia deutete auf das Bild mit der Hand, dem Ring und den vielen Schmetterlingen um sie herum.
Jetzt erkannte ich es: Der Ring sah genauso aus wie meiner, nur schimmerten seine Flügel bläulich.
„Es ist das einzige uns bekannte Bild, das Hinweise über dich und die Schmetterlingsmenschen enthält. Wir können nur vermuten, was…“
Sie verstummte, als ich schwungvoll aufstanden war und dabei fast umgekippt wäre vor Schwindel und pochenden Kopfschmerzen.
Doch Emalia hielt mich am Arm fest und nach wenigen Sekunden verschwand immerhin das Gefühl, dass alles schwanken würde.
Ich hielt meine Hand neben das Bild. Idiotisch, denn ich wusste ganz genau, dass es mein Ring war, der dort abgebildet war.
„Aber bei meinem Ring sind die Flügel grün…“ Ich drehte mich langsam zu der Frau um.
Sie lächelte wieder ein wenig unbeholfen, es sollte wohl aufmunternd wirken, tat es allerdings nicht. „Dies ist ein Zeichen dafür, dass die Winterschmetterlinge es noch nicht geschafft haben.“
Es war das Letzte, was ich noch zu hören bekam, dann sackten meine Beine mit einem Mal wie Wackelpudding weg und in dem Moment, als ich auf dem Boden aufprallte, versank die Welt in ein dunkles Nichts.

Kapitel 10

Dieses unbedeutende, dunkle Nichts fühlte sich wunderbar warm und gemütlich an.
Bevor ich eine sanfte Berührung auf meinem Haar wahrnahm, hatte ich nichts gespürt.
Aber nun hörte ich sogar, wie jemand meinen Name flüsterte.
Meine Augen gingen wie von selbst auf und ich sah meine Mutter auf der Bettkante sitzen.
„Lenaya!“, rief sie nun und die Erleichterung war ihr ins Gesicht geschrieben. „Oh Gott, ich habe mir solche Sorgen gemacht, als ich dich im Bett liegen sehen habe!“
Sie nahm meine kalte, blasse Hand und schüttelte immer wieder den Kopf, sodass ihre Locken wirr vom Kopf tanzten.
Täuschte ich mich oder glitzerten in ihren Augen die Tränen?
Dann fiel mir erst auf, dass ich in meinem Zimmer lag. Die freundlichen weißen Möbel, die wir durch die alten ersetzt hatten, erkannte ich wohl unter tausenden.
„Wie geht es dir?“,  fragte Mum mit flackernden Augen und musterte mich besorgt. Dann legte sie mir ihre Hand auf die Stirn. „Du könntest Fieber haben“, stellte sie fest, „und ganz bleich bist du auch!“
Ich wollte erwidern, dass ich doch immer bleich und mir gerade einfach nur warm war, doch ich war viel zu müde, um auch nur den Mund zu öffnen.
„Ich bin eine Rabenmutter!“, murmelte sie jetzt und biss sich heftig auf die Lippe. „Ich merke nicht, wie schlecht es meinem Kind geht…“
„Bist du nicht“, konnte ich schwach widersprechen und versuchte, meine Augen offen zu halten.
Ich sah äußerlich zwar bestimmt aus wie eine Leiche, aber mein Kopf funktionierte immer noch bestens.
Meine Mutter hatte mich nicht vernachlässigt, ich war es gewesen, die sich vor ihr abgeschottet hatte. Und langsam bereute ich das.
Wo war die Lenaya abgeblieben, die kein Blatt vor den Mund nahm und sich von niemandem etwas sagen ließ?
Genau, sie war kurz nach meiner ersten Verwandlung verschwunden.
Mum stand hektisch auf. „Ich… ich mache dir einen Tee! Und ich hole ein Thermometer…“
Schon war sie aus dem Raum gerannt.
Ich verstand meine Mutter. Sie hatte gerade genug um die Ohren, und nun lag ich auch noch wie ein Häufchen Elend in meinem Bett.
Dad hatte uns die Villa überlassen, aber weil sie zu groß für zwei war, hatte er uns vorgeschlagen, ein paar Zimmer zu vermieten.
Das hatten wir auch dann getan, als uns keine andere Möglichkeit mehr blieb, woanders hin zu ziehen. Mums Eltern waren tot und auch ansonsten hatte sie keine verwandte, zu denen wir ziehen konnten.
Die Mieter hatten sich schnell gefunden: Ein altes Ehepaar, die McEvans, waren in den Gang im zweiten Stock gezogen. Dort hatten sie alle Zimmer, die sie brauchten.
Eigentlich wollte Mum, wenn sie genug Geld hatte, mit mir in eine kleine Wohnung ziehen, aber in diesem Dorf gab es nichts, was uns ansprach. Außerdem schien sie an der Villa zu hängen…
Für weitere Gedanken blieb kein Platz, die Müdigkeit überrollte mich und ich war sofort eingeschlafen.

 

Es schien Morgen zu sein, als ich aufwachte. Obwohl sie gerade erst aufgegangen war, strahlte die Sonne mir mit einer angenehmen Wärme ins Gesicht.
Ich richtete mich auf und ließ meinen Blick durchs Zimmer wandern.
Auf meinem Nachttisch stand eine dampfende Tasse Tee, als hätte sie jemand gerade erst hingestellt, sowie ein Teller mit einem Brötchen und Marmelade. Ich musste lächeln. Mum musste wohl hier gewesen sein.
Von dem leckeren Waldbeerentee trank ich ein paar Schlucke, das Brötchen ließ ich allerdings liegen; ich hatte einfach keinen Appetit.
Irgendwie kam mir die ganze Situation seltsam vor. Ich war nicht krank, das wusste ich ganz genau, aber ich hatte ein komisches Gefühl, dass mir das Denken hinderte. Es fühlte sich an wie das Gefühl, dass man etwas vergessen hatte, aber nicht wusste, was.
Mit einem Mal erfasste mich ein Wunsch, so klar wie der Himmel draußen.
Ich sprang schwungvoll auf und merkte  dabei nur ganz am Rande, dass ich schwankte und die Sicht für einen kurzen Moment verschwamm.
Entschlossen wankte ich zum Fenster und riss es auf.
Die Erleichterung durchströmte mich, ich atmete die frische Morgenluft tief ein.
Dann betrachtete ich die Landschaft. Dort, wo wir wohnten, gab es nur eine kleine Landstraße, ansonsten waren wir von Feldern und Wiesen umgeben.
Die angenehme kühle Luft gab mir mein Kraft zurück, ich atmete sie eine Weile mit geschlossenen Augen ein, dann tapste ich zu meinem Kleiderschrank und zog wahllos irgendetwas Dunkles heraus.
Unter der Dusche erfasste mich wieder das panische Angstgefühl, doch ich ließ es völlig kalt.
Erst als ich merkte, dass ich bereits seit einer ganzen Weile unter dem Wasserstrahl stand, ohne mich einzuseifen, wurde mir klar, dass etwas nicht mit mir stimmte.
Im selben Moment dieser Erkenntnis war das Angstgefühl wieder da, genauso wie all das, was ich gestern erlebt hatte.
Einzelne Szenen tauchten vor meinem Auge auf und dann hörte ich Emalias Stimme: „Wir sind Schmetterlingsmenschen. Genau wie du.“
Genau wie du.
Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Dann löste ich mich aus meiner Starre und wusch mir, so schnell ich nur konnte, meine Haare.
Die Gedanken rasten in derselben Geschwindigkeit in meinem Kopf herum, dass ich gar nicht merkte, wie mir, nicht nur wegen der Angst vor Wasser, die Tränen kamen und sich mit dem Wasser vermischten.
Ich hatte ein Buch gelesen, in dem jemand etwas über sich selbst erfahren hatte und es total gelassen nahm.
Aber so war ich nicht. Ich konnte mich nicht so schnell an neue Situationen gewöhnen. Ich brauchte jedes Mal viel Zeit zum Nachdenken.
Wie sollte ich mit dieser Situation umgehen? Mich freuen?
Das einzige, was ich tat, war bitterlich schluchzen. Die Angst vor dem Wasser war noch ein zusätzlicher Schmerz, der sich in mir breit gemacht hatte.
Aber der eigentliche Schmerz war viel stärker. Drei Jahre hatte ich auf so eine Erklärung gewartet – und nun war sie gekommen und mich haute es deswegen vollkommen aus den Socken.
Eigentlich verständlich. Dennoch, ich kam mir in diesem Moment irgendwie selbst fremd vor.

 

Nachdem ich mich angezogen hatte, versuchte ich, die Ereignisse in meine hintersten Gehirnwinkel zu schieben. Natürlich gelang mir dies nicht besonders gut. Dafür wuchs meine Sehnsucht nach der Natur erneut.
Ich stand wieder an meinem Fenster und starrte gedankenverloren hinaus.
Das Lied eines Vogels lockte mich, genauso wie der Geruch von Lavendel und anderen Blumen.
Auch wenn ich kein ‚Schmetterlingsmensch‘ gewesen wäre – einfach die Natur zu bewundern tat unglaublich gut.
Ich beschloss, einen kleinen Spaziergang zu machen.
Kaum hatte ich die Tür hinter mir zugezogen, fühlte ich etwas Merkwürdiges in meinem Bauch, eine Art Kribbeln und Ziehen.
Für jedes andere Mädchen vermutlich nur eine typische ‚Mädchensache‘, aber ich glaubte, dass dieses Gefühl etwas ganz anderes war.
Mit hastigen Schritten und Panik in den Gliedern überquerte ich die kleine Landstraße und stand wenig später auf einer grasgrünen Wiese, umringt von Büschen und Laubbäumen, die das Licht der Sonne wunderschön aussehen ließen.
Erleichtert sah ich mich um. Hier schien die Welt noch unberührt zu sein. Keine Abgase, keine Häuser, keine Menschen.
Meine Kraft kehrte zurück. Sie drang in alle meine Körperzellen ein und gab mir das Gefühl von Geborgenheit und Vertrauen.
Ich schloss genießerisch die Augen und drehte mich mit ausgestreckten Armen um die eigene Achse.
Doch dann durchzuckte mich ein stechender Schmerz wie ein Blitz.  Er bohrte sich tief in meine Beine hinein, sodass ich zusammensackte.
Die Kraft, die ich eben durch den wundervollen Anblick bekommen hatte, wurde mir so schlagartig entzogen, dass ich den Boden unter den Füßen verlor.
Doch das war noch nicht alles.
Es ging weiter, das wusste ich. Denn das, was gerade wieder mit mir geschah, passierte mir schließlich seit drei Jahren.
Es war wieder soweit. Ich verwandelte mich in einen Schmetterling.

 

Um es mir selbst vorzustellen und klarzumachen, stellte ich mir den Schmerz immer als Wunderkerze vor. Funke um Funke zog sich der Strahl weiter, bis sie irgendwann von alleine erlosch.
So war es bei meiner Verwandlung auch. Anfang war es nur ein Funken des Schmerzes, den ich spürte und oftmals auch noch gar nicht richtig wahrnahm. Doch dann wurde aus dem Funken ein Strahl, heller und intensiver denn je.
Es begann oft im Bauch mit einem Funken, ging dann weiter zu den beinen und dann besetzte diese ‚Wunderkerze‘ meinen gesamten Körper.
Während mein geistiges Ich an diese Wunderkerze dachte, lag mein Körper zuckend auf dem Boden und schien innerlich in Flammen aufzugehen.
Mehrere Knochenbrüche waren ein Nichts dagegen. Ich konnte nicht einmal schluchzen, so weh tat es.
Aber meine Gedanken, die rasten so wild umher, dass ich sie kaum ordnen konnte.
Nur ein Gedanke war so klar wie das Wetter: Es soll aufhören!!!
Die Wiese schien sich zu drehen, ich spürte nichts mehr, außer den höllischen Schmerzen, und dann, ganz plötzlich und viel zu schnell, um alles zu realisieren schien es meinen menschlichen Körper überhaupt nicht mehr zu geben.
Doch eines sah ich noch für einen winzigen Moment: Ein paar Meter vor meinen Augen stand ein Mann. Das strahlende, helle Blau seiner Augen konnte ich sogar von dieser Entfernung erkennen.
Aber ich konnte nicht darüber nachdenken. Die Welt wurde mit einem Mal riesig groß und dann waren die Schmerzen verschwunden.
Das, was ich nun fühlte, war furchtbar. Ich konnte meine Beine nicht bewegen, nicht mit dem Gesicht zucken, ich war unfähig, mich zu bewegen.
Das einzige, was funktionierte, waren die Flügel. Sie schlugen von alleine, ohne das ich etwas tat.
Es war so absurd, dass ich nicht mehr wusste, was gerade eigentlich geschehen war.
Aber das, was ich sah, war immer noch am schlimmsten. Der Mann kam direkt auf mich zu und ich konnte mich kaum regen.
Er schien jünger zu sein, als ich auf den ersten Blick dachte. Höchstens ein paar Jahre älter als ich. Dunkle, kurze Locken kringelten sich um sein schmales Gesicht und die Augen funkelten immer noch.
Als er ungefähr einen halben Meter vor mir stand, und mich mit gerunzelter Stirn betrachtete, bekam ich es doch mit der Panik zu tun.
Wie von selbst fingen meine Flügel an zu schlagen und ich hob ab. Dieses Mal verspürte ich jedoch kein Freiheitsgefühl dabei.
Die grünenden Bäume und die frische, blumige Luft waren dennoch so verlockend, dass ich beschloss, mich irgendwo dort niederzulassen.
Wie bescheuert das klang!
Wieso verstand ich nicht, was ich mich da gerade widerfuhr? Wenn der Typ mich bei meiner Verwandlung gesehen hatte, hatte ich ein ernsthaftes Problem.
Aber nein, ich war immer noch wie erstarrt von dem, was mir gerade widerfahren war. Der Schmerz pochte immer noch in meinen Erinnerungen und übertraf damit alle anderen Gedanken, für die auf einmal kein Platz mehr war.
Ich versuchte mich auf den schnellen, unkontrollierten Flügelschlag zu konzentrieren und sie irgendwie zu lenken, doch es gelang mir nicht.
Ein heftiger Wind kam auf und ließ mich frösteln. Dabei wurde ich hin fortgetragen und ehe ich begreifen konnte, was gerade geschah, waren die Augen des Typs plötzlich nur wenige Zentimeter von mir entfernt.
Ich nutzte meinen starren Blick, um ihn genauer zu mustern.
Seine Nase war etwas gekrümmt und zu groß, was einen guten Kontrast zu seinem sonst so perfekten Gesicht bot.
Die Lippen waren zusammen gekniffen und erinnerten mich an den Ausdruck, den Hailey mal hatte, als sie dieses widerliche Kartoffelpüree unserer Schulcafeteria gegessen hatte.
Die Augen waren nicht mehr strahlend, wie ich sie zuvor gesehen hatte. Sie betrachteten mich so normal, als wäre ich kein Schmetterling, sondern einfach nur Lenaya.
Und mit einem Mal fühlte ich mich auch wieder wie Lenaya. Ich spürte den Flügelschlag nicht mehr, ich konnte meine Augen in alle Richtungen drehen und die Welt bekam wieder ihre normale Größe.
Dann traf mich ein stechender Schmerz mitten in die Brust. Ich wollte aufschreien, aber es ging nicht.
Sekundenlang besetzte der Schmerz meinen Körper, während sich die warme Morgensonne vor meinen Augen drehte.
Ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Meine Haare wirbelten wirr vor meinen Augen und meine Arme hingen seltsam verdreht vor meinem Blickwinkel.
Meine Haare und meine Arme? Bildete ich mir das ein?
Gerade als es mir klar wurde, plumpste ich mit einem lauten Knall auf den Boden. Einen Schmerz verspürte ich dabei jedoch nicht.
Völlig perplex starrte den Junge an. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet und sein Gesicht war glühend rot geworden.
Ich musste nicht an mir herunter schauen, um zu wissen, dass ich kein Schmetterling mehr war.
Mein Herz klopfte rasend schnell und ich rang nach Atem. Was war gerade passiert?
Mit einem Satz war ich ausgesprungen und ignorierte das Taubheitsgefühl in den Beinen und der leichte Schwindel hinter meiner Stirn.
Wie erstarrt blickte ich dem Jungen in die Augen. Er hat alles gesehen, hämmerte es in meinem Kopf. Auf einmal kam ich mir nackt vor; und sein intensiver Blick war so stechend, dass mir fast schlecht davon wurde.
Das alles geschah in kürzester Zeit, was mich wunderte. Es kam mir so vor, als wäre es eine Ewigkeit gewesen.
Sein Blick wurde weicher und nicht mehr ganz so stechend.
„Hey“, sagte er auf einmal vorsichtig und rieb sich die Hände.
Mein Atme stockte und ich klappte den Mund auf und wieder zu, unfähig etwas zu sagen, obwohl ich es wollte. Aus seinen Händen sprühten grünliche Funken, die ganz langsam auf Gras fielen. Ich glaubte, meinen Augen nicht zu trauen.
Was tust du hier eigentlich, Lenaya?!
Immerhin schien mein Gehirn noch zu funktionieren. Renn weg, so schnell du kannst!
Aber ich konnte nicht. Alle meine Muskeln waren bis zum Zerreißen angespannt, doch ich konnte mich nicht bewegen.
Selbst das Luft holen wurde plötzlich so schwer als hätte ich Steine auf der Brust liegen, die mich daran hinderten, zu atmen.
„Du brauchst keine Angst zu haben.“ Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, doch irgendetwas daran irritierte mich. Es wirkte nicht echt; seine Augen lächelten nicht mit, strahlten mir jedoch wieder hell entgegen.
„Du bist eine von uns. Ein Schmetterlingsmensch.“
Er war auch ein sogenannter… Schmetterlingsmensch?
Die angenehme Morgenbrise verwandelte sich mit einem Schlag in einen eisigen Lufthauch. Die Härchen an meinen Armen stellten sich auf.
Das konnte doch nicht sein. Warum begegnete mir schon wieder ein Schmetterlingsmensch? Ausgerechnet hier und jetzt? Niemals war das ein Zufall.
Wieso lauerten mir diese Menschen alle auf? Wieso machten sie mir so Angst?
Die Panik verhalf mir dazu, mich endlich wieder bewegen zu können. Ein letztes Mal schaute ich in die glitzernden Augen des Typs und rannte mit hastigen Schritten davon.

 

 

- T A G E B U C H   V O N    L E N A Y A  

L O R I N E  C O L E M A N -

 

11. Mai 2010 16:00 Uhr

Mum hat eine Panikattacke live mitgekriegt. Natürlich hat sie sich ziemliche Sorgen gemacht, beinahe geweint. Als sie gefragt hat, wieso ich das habe, konnte ich nur blöd herumstottern.

 

Es ist schon wieder passiert. Fürchterliche Schmerzen, dann wurde die Welt riesengroß. Keine Ahnung, was das
war, aber nach ein paar Minuten ist es verschwunden. Ich glaube, ich bin wirklich Psycho.

Über die Sache mit dem Ring weiß ich auch nichts mehr. Wollte ihn nach der Sache mit den ‚Flügeln‘ auszeihen, aber irgendwie ging es nicht. Es war, als wäre mein Finger ein Magnet, der den Ring anzog.
Der Ring hat etwas damit zu tun, da bin ich mir sicher.
Dad meinte, vor uns habe hier nur eine alte Frau gewohnt, die schon seit zwei Jahren gestorben ist. Den Namen wusste er auch nicht.
Das alles ist doch nicht mehr zum Aushalten! Keiner kann mir helfen, keine kann etwas Konkretes sagen!
Verkrieche mich jetzt hinter einem Buch, in dem das Leben der Hauptperson noch in Ordnung ist.

Kapitel 11

„Lenaya, da bist du ja!“ Mum stand vor mir und breitete die Arme aus. „Wo warst du denn? Du sollst dich doch schonen, du hattest gestern immerhin 39 Grad Fieber!“ Sie schloss ihre Arme um mich.

Ich bemühte mich, regelmäßig zu atmen, aber mir gelang es nicht.  Das Blut pochte laut in meinen Ohren; meine Hände schwitzten und die Füße waren eiskalt.

Dennoch genoss ich die Wärme die von meiner Mutter ausging und atmete gierig den Duft ihres Parfüms ein, das sie schon seit meiner Kindheit  benutzte.

Auch wenn ich kein Kind mehr war, brauchte ich meine Mutter noch. Von ihr ging eine Geborgenheit aus, die mich vor allen Gefahren zu schützen schien. Umso härter war es, dass es Gefahren gab, bei denen niemand mich schützen konnte, auf die ich ganz allein gestellt wurde.

Und obwohl mir dies schon sehr lange klar war, waren die Momente, in denen ich dieses Gefühl von Sicherheit bekam, immer kürzer geworden.

Mum löste sich von mir und lächelte mich mit warmem Blick an. „Also? Wo warst du?“

Ich brauchte nicht lange, um die Antwort zu finden. Schließlich hatte ich sie mir vor der Haustür gut überlegt. „Ich war ein wenig Spazieren.“

Sie glaubte mir nicht. Ich konnte es wie von selbst an ihrem Blick ablesen. Denn genau so hatte sie ausgesehen, als Dad sie nach mehreren Versuchen erneut um Verzeihung wegen seinem ‚Ausrutscher‘ mit dieser Amy oder wie sie hieß, bat.

Er war vor ihr auf die Knie gefallen, das Gesicht schmerzhaft verzogen. „Maddy, bitte, verzeih mir! Es wird nicht mehr vorkommen…“

Immer, wenn Mum mich mit diesem Blick ansah, hatte ich seine erstickte Stimme im Ohr und die Szene vor den Augen.

Auf eine Weise war es ihm recht geschehen, denn er war ja selber schuld an dem Desaster, aber irgendwie hatte er mir auch Leid getan.

 

Jetzt drehte Mum sich um,  zog mich ins Haus und schloss die Tür. Dann packte sie mich sanft, aber bestimmt an den Handgelenken und blickte mir geradewegs in die Augen. „Lenaya, wenn du bei deinem Freund warst, kannst du mir das ruhig erzählen, hörst du?“

Ich warf ihr einen erschrockenen Blick zu und hatte dummerwiese sofort wieder das Bild von diesem Typen auf der Weise und direkt danach das von diesem Marcius im Kopf. „Wie kommst du darauf, dass ich bei… einem, äh, meinem Freund gewesen bin?“, fragte ich sie mit einer Stimme, die mir fremd vorkam. In meinem Kopf verdrängte ich die Bilder sofort.

Mum ernste Miene wurde zu einer Anspielung auf ein Lächeln, wodurch ein paar kleine Falten unter ihren Augen zum Vorschein kamen.

„Nun“, sagte sie und das Lächeln wurde breiter, während sie meine Haare zurechtzupfte, „du siehst aus, als hättest du in einem Heuhaufen herumgetobt. Und deine Klamotten sitzen auch alle ein wenig schief“, fügte sie verschmitzt hinzu und betrachtete mich vergnügt von oben bis unten.

Mir war zwar überhaupt nicht nach scherzen, aber Mums Lächeln war ansteckend und ich erwiderte: „Du warst doch auch mal 16, oder?“

Im Flur zog ich mir Jacke und Schuhe aus und drehte mich um. „Außerdem habe ich gar keinen Freund.“

Mum strich mir grinsend übers Haar. „Natürlich war ich auch mal 16. Das waren vielleicht Zeiten…“ Für einen kurzen Moment glitt ihr träumerisch Blick in die Ferne, aber sie wurde schnell wieder ernst und warf sich entschlossen die rote Lockenpracht nach hinten. „Genug gescherzt. Du bist krank und musst ins Bett. Ich hoffe, beim nächsten Mal hältst du es noch aus, bis du wieder gesund bist.

Ich habe dich übrigens gar nicht gehört, als du gestern gekommen bist. Außerdem dachte ich, du hättest keinen Schlüssel…“

Das hatte ich auch gedacht. Doch dann wurde mir mit einem Mal wieder klar, was gestern alles geschehen war. Das Casting, die Verfolgungsjagd, diese seltsame alte Frau namens Emalia, die Geschichte über die Schmetterlingsmenschen, und letztendlich das dunkle schwarze Loch, in das ich gezogen wurde.

Wie war ich in mein Bett gekommen? Hatte ich das ganze vielleicht nur geträumt?

Mir wurde glühend heiß und ich schüttelte leicht den Kopf. Nein, das konnte niemals sein und das wusste ich auch. Wahrscheinlich hatte ich das Geschehene einfach nur verdrängt, weil ich nicht mehr daran erinnern werden wollte.

Mum hatte meinen abwesenden, nachdenklichen Blick wohl bemerkt, als sie mich fragend anschaute. „Lenaya, ist wirklich alles in Ordnung? Dich bedrückt doch irgendetwas!“, stellte sie beunruhigt fest und ballte ihre Hände zu Fäusten, um sie im nächsten Moment wieder aufzulösen.

Ich schluckte. „Ich bin einfach nur müde“, murmelte ich schwach und ging langsam die Treppe hoch.

„Wenn es dir wieder besser geht, würde ich gerne mal mit dir reden!“, rief Mum mir hinterher. Ich drehte mich aber nicht um. „Ich mache mir Sorgen um dich.“

 

Nach der Begegnung mit meiner Mutter war ich noch aufgelöster und verzweifelter als davor.

Wie sollte ich ihr eines Tages erklären, dass ich mich in einen Schmetterling verwandeln konnte? Dass die Angst vor dem Wasser unerträglich war und es von Tag zu Tag schlimmer wurde?

Natürlich wusste Mum von meiner Angst. Sie und Dad hatten es noch am selben Tag bemerkt, als es zum ersten Mal passiert war.

Zum Glück war ich damals klug genug gewesen, um die Zähne zusammenzubeißen und die Panikattacken zu verbergen. Dies war mir allerdings nur dadurch gelungen, dass Dad erst abends wieder nach Hause kam und Mum alle Hände voll mit der Zurechtfindung, Einkaufen und Haushalten zu tun hatte.

Wäre dieser ganze Mist damals nicht geschehen, hätte ich mich schon ein wenig vernachlässigt gefühlt. Aber von diesem Tag an hatte ich gespürt, dass ich die Sorte von Mensch war, die lieber allein gelassen werden wollte; die sich lieber in ihrem Zimmer verkroch und las, anstatt draußen mit Freunden abzuhängen.

Aber dann, wenn der Frühling sich durch seine ersten warmen Sonnenstrahlen und dem Geruch von Blumen zeigte, wurde ich hinaus gelockt wie eine Biene an den Blütenstaub.

Wieso habe ich mich vorhin nicht so frei und verbunden mit der Natur gefühlt, fragte ich mich, als ich auf meinem Bett lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, ein Buch auf dem Bauch, auf das ich mich einfach nicht konzentrieren konnte.

Hatte dieser mysteriöse Typ alle positiven Gefühle, die ich mit der Natur verband zerstört, wie ein Teller, der in tausend Scherben zerbrach?

Ich atmete tief ein und wieder aus. So fühlte es sich jedenfalls an. Abrupt. Viel zu schnell, um alles zu realisieren. Aber das lag wohl eher daran, dass ich weggerannt war.

Und dann war da noch die Sache mit Emalia und Marcius. Was sollte ich davon nur halten?

Vielleicht waren sie in der ganzen Sache gar nicht Guten, sondern die Bösen. Schließlich hatte mich dieser Fiesling mit irgendetwas betäubt. Ging man so mit Gleichgesinnten um?

Wütend schnaubte ich und legte das Buch auf meinen Nachttisch. Wohl kaum.

Dieser Marcius war mir einfach nicht geheuer, zumal ich ja auch wenige Stunden vor dem Zusammentreffen beim Casting von ihm geträumt hatte.

Das konnte doch nichts Gutes bedeuten.

„Du denkst wohl, dass du mir entkommen kannst, kleine Lenaya?“

Allein wenn ich schon an diese fiese, zischende Stimme dachte, lief mir ein eiskalter Schauer den Rücken herunter.

Wenn ich wieder mit diesen Leuten zusammentraf (was ja sicherlich noch passierte), musste ich auf jeden Fall auf der Hut sein.

 

Da das Fieber bereites am frühen Abend gesunken war und es mir am nächsten Morgen wieder gut ging, dufte ich wieder in die Schule, worüber ich ziemlich froh war.

Endlich ein wenig Ablenkung, das hatte ich nach der stundenlagen Grübeleien wirklich nötig.

Hailey war unauffindbar. An ihrem Spind war sie nicht. Auch nicht auf dem Klo, wo sie häufig vor dem Unterricht war und ihr Make-Up und die Kontaktlinsen auffrischte.

Schließlich hatte ich zu viel Zeit dafür gebraucht, sie zu suchen, dass ich fünf Minuten zu spät in den Unterricht kam. Mathe bei Miss Heugenwood, etwas Besseres konnte mir wohl nicht passieren.

Ich murmelte unter dem strengen Blick der grauhaarigen Lehrerin eine Entschuldigung und verzog mich hastig auf meinen Platz in der letzten Reihe.

Haileys Platz neben mir war leer und gab mir einen schmerzhaften Stich.

Zu gerne hätte ich ihr alles erzählt, was gestern geschehen war. Sicherlich war sie verärgert und wütend auf mich, dass ich das Casting so plötzlich verlassen hatte.

Aber dann musste ich mir eingestehen, dass ich ihr das alles wohl niemals erzählen konnte. Auch wenn ich genau wusste, dass sie es niemandem weiterzählen und mir glauben würde, irgendetwas in mir hinderte mich daran, ihr anzuvertrauen.

Gedankenverloren kaute ich auf meinem Stift herum und machte mich gar nicht erst die Mühe, mich auf den Unterricht zu konzentrieren.

So merkte ich auch gar nicht, dass Hailey hereingekommen war.

Erst als ich für einen Moment aufsah, nahm ich aus den Augenwinkeln einen roten Haarschopf wahr.

„Hailey“, begann ich vorsichtig mit flüsternder Stimme. „Ich…“

„Spar dir deine Entschuldigungen!“, zischte Hailey mit eiskalter Stimme, während sie hastig etwas in ihr Heft schrieb. „Du hast mich einfach sitzen gelassen…“ Jetzt hörte sie sich eher traurig als wütend an.

Ich konnte sie gut verstehen. Wenn sie mich bei etwas Wichtigem sitzen gelassen hätte, würde ich vielleicht auch so reagieren.

Dennoch war die Reaktion für Hailey sehr ungewöhnlich. Wie aus Reflex zuckten meine Schultern, als hätte mich eine Faust nur knapp verfehlt.

In Gedanken ermahnte ich mich. Du bist vielleicht ängstlich! Ein Streit mit einer Freundin ist doch ganz normal. Schaffe es aus der Welt und gut ist.

Ausgerechnet in dem Moment, als ich den Mund öffnete, hörte ich die barsche Stimme von Miss Heugenwood. „Miss Colemann, Ihnen ist hoffentlich bewusst, dass all das, was wir gerade machen, Stoff in der nächsten Prüfung ist, oder?“

Sie starrte mich mit ihrem kalten, ausdruckslosen Blick an. Mein Herz setzte vor Schrecke einen Schlag aus.  Ich biss mir kurz auf die Lippe, ehe ich brav antwortete: „Ja, Miss Heugenwood.“

„Dann passen Sie und ihre Sitznachbarin jetzt gefälligst auf!“

Die Mathelehrerin schüttelte noch einmal missbilligend den Kopf, dann drehte sie sich um und wanderte langsam zum Pult.

Mein Herzschlag beruhigte sich endlich wieder und ich atmete erleichtert auf.

Hailey schob mir gerade mit dem Fuß etwas zu. Ich hob überrascht die Augenbrauen und mir fiel nichts ein, was ich darauf sagen sollte.

Es war meine Umhängetasche, die ich gestern beim Casting dabeihatte. Ich musste sie vergessen haben, als ich Marcius…

„Wenn du keinen Bock mehr auf das Casting hattest, hättest du mir das ruhig schreiben können.“ Hailey war sich schnaubend die langen Haare zurück und legte ihren Kuli beiseite. Dann drehte sie ihren Kopf zu mir und funkelte mich wütend an.

Ich stockte. Haileys Augen waren von einer seltsamen, dunklen Farbe, bei der ich nicht sagen konnte, ob sie eher bräunlich oder grünlich waren.

„Ich habe dir gefühlte tausend SMS geschrieben, aber du machst dir ja nicht die Mühe, darauf zu antworten!“, flüsterte Hailey etwas leiser, als die Heugenwood mit zusammengekniffenen Augen in unsere Richtung starrte.

„Oh man, Hailey“, stieß ich mit aufgerissenen Augen hervor und rutschte auf meinem Stuhl herum. „Mein Handy ist doch in der Tasche!“ Ich zeigte mit dem Finger auf die schwarze Tasche, die Hailey mir vorhin zugeschoben hatte.

„Gib es doch zu, dass du nicht auf dem Klo warst!“ Nun hatte meine beste Freundin es so laut ausgesprochen, dass sich alle Schüler zu uns umdrehten.

Ich wurde noch blasser. In meinem Gehirn schien sich ein Hebel herumzudrehen.

Natürlich, ich hatte Hailey gesagt, ich würde aufs Klo gehen!

Wo ich ja auch gewesen war, aber sie musste denken, ich hätte mich klammheimlich aus dem Staub gemacht, als ich nicht mehr kam.

Und dann noch die SMS, auf die ich nicht geantwortet hatte – Hailey hatte nur eins und eins zusammenzählen müssen, um zu glauben, ich hätte sie sitzengelassen.

„Du bist einfach gegangen – dabei wusstest du, wie wichtig es mir war.

Und dir schien es doch auch gefallen zu haben!“ Haileys Stimme wurde lauter, ihre Augen glasiger, aber ihr Gesichtsausruck immer wütender.

Ihre Wangen waren dunkelrot angelaufen und auf ihrem blassen Hals hatten sich hektische rote Flecken gebildet.

Die eine Hand hatte mittlerer Weile wieder den Kuli umschlossen, während sich die andere immer wieder zu einer Faust ballte.

Mein gesamter Körper war bis zum Zerreißen angespannt und stand auf großer Alarmbereitschaft. So hatte ich meine Freundin noch nie erlebt.

Je länger ich die schnaubende und wütende Hailey ansah, desto panischer wurde ich.

„So… so war das doch alles gar nicht!“, schrie ich in derselben Lautstärke zurück. Aus den Augenwinkeln nahm ich einige überraschte Gesichter wahr.

Ich konnte selbst kaum glauben, was ich da gerade tat. Wutausbrüche und Lautwerden, das passte nicht zu mir. Aber ich wollte das Missverständnis aus der Welt schaffen; ich wollte Hailey nicht wegen so etwas verlieren – da waren mir die anderen völlig egal.

Ich spürte, wie das Adrenalin in meine Adern gepumpt wurde. Ein völlig neuer Zustand, den ich bis jetzt sehr selten hatte. Aber es fühlte sich sehr gut an.

Ich rief etwas leiser: „Ich war wirklich – “

„Jetzt ist endgültig Ruhe!“, schnitt mir eine keifende Stimme das Wort ab, die noch lauter war als die von Hailey.

Miss Heugenwood.

Sie stand vor unserem Tisch und donnerte ihr Buch mit einem lauten Knall auf unseren Tisch.

Ich zuckte erschrocken zusammen. Vor lauter Gefühlschaos hatte ich gar nicht gemerkt, dass die Lehrerin vor uns stand.

„Hailey Ferder – vor die Tür! Coleman – in den Extraraum! Was fällt euch eigentlich ein, mitten in der Stunde laut herum zu streiten?!“, schrie uns Miss Heugenwood aufbrausend an und ihr faltiges Gesicht verzog sich zu einer grässlichen Fratze.

Während ich im Lauf der Rede immer kleiner wurde, schien Hailey das nicht auf sich sitzen lassen zu wollen. Sie sprang empört auf, ihre rote Mähne wild herum schwingend und protestierte lautstark: „Aber ich kann doch nichts…“

Die Mathelehrerin beugte sich blitzschnell nach vorne. Jetzt stand sie Hailey so nah gegenüber, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Ich hielt den Atem an. Jedes Geräusch schien in diesem Moment zu viel; im Klassenzimmer war es mucksmäuschenstill.

„Du wagst es, mir zu widersprechen?“, zischte Mrs Heugenwood und ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

Hailey sagt kein Wort mehr. Sie starrte die Lehrerin mit aufgerissenen Augen an, ihre Wangen wurden blass.

Dann wurde ihr Blick wieder wütend und sie stampfte mit entschlossenen Schritten auf die Tür zu, die sie mit einem lauten Knall ins Schloss fallen ließ.

Mrs Heugenwood warf noch einen weiteren bitterbösen Blick auf die Tür. Dann ging sie langsam zurück zu ihrem Pult. Die Absatzschuhe klackerten bei jedem Schritt laut in der Stille.

Ich sprang genauso hastig wie Hailey gerade eben auf. Der Stuhl fing klappernd um.

Das Blut schoss mir in die Wangen, als ich die Blicke der anderen auf mir spürte. Schnell stellte ich den Stuhl wieder auf und eilte in den Extraraum, den jedes Klassenzimmer besaß.

Dort ließ ich mich schwer atmend auf einen alten, braunen Stuhl nieder und verhinderte den Sturzbach auch Tränen nicht, der mir von den Wangen lief.

So, wie ich die Heugenwood kante, würde sie mich frühestens in einer Viertelstunde wieder in den Unterricht holen.

Ich hatte also genügend Zeit, um mich in Gedanken ausgiebig zu ohrfeigen.

Die erste Ohrfeige war für den verdammten Tag, an dem ich diesen Schmetterlingsring gefunden hatte.

Die zweite Ohrfeige war für dieses bescheuertere Casting, das mich in seinen Bann gezogen hatte. Wäre ich dort nicht hingegangen, hätte mir Marcius auch nicht auflauern können.

Die dritte Ohrfeige war für meine Naivität, diesem blauen Schmetterling bei Emalia blind vertraut zu haben (oder waren sie vielleicht doch die Guten in der Geschichte?).

Die vierte Ohrfeige war für meine Dummheit, nicht tiefer in die Felder gelaufen zu sein. Obwohl, wenn dieser Typ mich verfolgt hatte, wäre das sowieso egal gewesen.

Die fünfte Ohrfeige war für das Gefühl, dass die anderen mehr wussten als ich und ich im Dunkeln tappte, weil ich mir all die Geschehnisse nicht erklären konnte.

Die sechste Ohrfeige war für meine Feigheit, Mum und Hailey nichts von meinem Geheimnis erzählt zu haben. Und das seit drei Jahren.

Die siebte Ohrfeige war für diesen Streit und dafür, dass ich Hailey schon wieder anlügen musste und einfach abgehauen war, ob ich wollte oder nicht.

Die achte Ohrfeige verpasste ich mir in Wirklichkeit und war erstaunt, dass es kaum wehtat, ob wohl es so laut geklatscht hatte wie das Buch von Miss Heugenwood.

Aber als ich meine glühenden Wangen berührte, fühlte es sich an, als hätte ich hunderte Ohrfeigen auf einmal bekommen.

Kapitel 12

 

Der restliche Schultag ging genauso weiter. Hailey ignorierte mich und jeder wütende Blick, den sie mir zuwarf, ließ das Messer noch ein wenig tiefer in mein Herz bohren.

 

Der wütende Blick warf schlimmer als das Ignorieren, denn es gab mir die Bestätigung, dass sie den Streit nicht bereute wie ich. Und das konnte eigentlich nur bedeuten, dass ich sie schon längst verloren hatte.

 

Ich hatte mal in einem Buch über jemanden gelesen, der die Beziehungen zu anderen als Fäden sehen konnte. Ich brauchte diese Gabe nicht, um zu wissen, dass das Band zwischen mir und Hailey gerissen war.

 

Um jene Bänder zu reparieren bräuchte ich Kleber.

 

Und genau diesen Kleber suchte ich bereits den ganzen Tag lang; die Schule war unwichtig.

 

Es war ganz einfach: Ich musste Hailey nur alles über mich erzählen. Das war der Kleber, der den Riss wieder verschließen konnte.

 

Deshalb suchte ich verzweifelt und ohne große Hoffnung einen anderen Kleber. Denn ich konnte es ihr einfach nicht erzählen.

 

Nicht, bevor ich nicht einmal selber wusste, was dort täglich mit mir geschah.

 

Aber ich hielt es nicht aus, dass wir so zerstritten waren. Obwohl sie fast in allen Fächern neben mir saß, vermisste ich sie.

 

In den Pausen war sie bei ein paar Freundinnen. Besonders glücklich sah sie zwar nicht aus, aber ich war dennoch enttäuscht. War ich so schnell Geschichte geworden?

 

Ich konnte weitere Tränen nur sehr schwer verhindern, als ich hinter meiner Spindtür hervorlugte und sie sah. Vielleicht verbarg sich hinter meinen Gefühlen auch ein bisschen Neid, denn ich hatte niemanden außer sie und konnte nur alleine in den Gängen herumlungern.

 

 

 

Irgendwie hatte ich es geschafft, die Schule zu überstehen. Es war zwar nicht ganz einfach, aber dafür hatte ich in Geschichte einen Beschluss gefasst: Sobald ich alles, aber auch wirklich alles über mich und die Schmetterlingsmenschen erfahren hatte, würde ich Hailey die ganze Wahrheit erzählen. Und dann könnte sie mich endlich verstehen und mir vielleicht auch verzeihen.

 

Natürlich hatte ich Zweifel, dass ich mir das viel zu einfach vorstellte, aber ich bemühte mich, meine Zweifel zu vergessen.

 

Während ich das Schulgebäude hinter mir ließ, kreisten meine Gedanken schon wieder um den Typen von gestern und mir wurde kalt.

 

Wenn ich mir diese Funken nicht eingebildet hatte, was bedeuteten sie dann?

 

Und wer war er? Einer der Guten oder einer der Bösen?

 

Wobei mir sofort die Frage kam, wer hier eigentlich Gut und wer Böse war.

 

Ich beschleunigte meinen Gang und vergrub die Hände in die Taschen meines schwarzen Pullis. Aber beides war nicht nötig: Die Kälte verschwand dadurch nicht und ich konnte so schnell laufen, wie ich wollte; vor diesen Problemen konnte ich einfach nicht wegrennen.

 

„Wie wahr“, ertönte hinter mir eine leise Stimme. Für eine gefühlte Minute war ich wie erstarrt, selbst mein Herzschlag setzte aus, nur um dann schneller zu werden.

 

Aber es war sicherlich nur ein paar Sekunden gewesen. Ich drehte mich langsam und zitternd um. Ich hatte es doch gewusst, hämmerte es in meinem Kopf.

 

Vor mir stand Marcius und grinste mich hämisch an.

 

Die Schockstarre trat wieder ein, diesmal benetzte eine unangenehme Gänsehaut meinen Körper und ich war nicht einmal in der Lage, zu schlucken.

 

Sämtliche Alarmanlagen in meinem Kopf standen auf rot. Dieser Typ war mir nicht geheuer, egal was er mir noch erzählen würde.

 

„Was ist wahr?“, platzte es unwillkürlich aus mir heraus, al ich er nicht mehr aushielt. Eine leise Vorahnung, dass ich vermutlich laut gesprochen hatte, erfasste mich.

 

Er ging einen großen Schritt auf mich zu. Nun standen wir uns so nahe gegenüber, dass uns nur noch wenige Zentimeter trennten. Ich wich nicht zurück und schaute auch nicht weg, ich wollte nicht ängstlich herüberkommen und ich konnte auch gar nicht wegen dieser Starre.

 

Marcius schaute mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an und sagte: „Dass du vor deinen Problemen nicht wegrennen kannst“, antwortete er meine Frage. „So laut, wie deine Gedanken in der Gegend herumfliegen, kann man gar nicht anders, als sie zu hören.“

 

Mein Mund klappte auf, ohne dass ich etwas sagte und ich ballte meine Hände in den Taschen krampfhaft zu Fäusten. Gedanken? Ich hatte es also wirklich nur gedacht? Aber wieso konnte er sie dann hören?, fragte ich mich entsetzt und vor lauter Nervosität wurde mir wärmer. Meine Augen waren weit und starr aufgerissen.

 

Hatte er vermutlich auch das gehört, was ich davor gedacht hatte? Über diesen Typ im Wald? Und überhaupt, als er mich verfolgt hatte? Wusste er nun alles, was ich jemals gedacht hatte? Kalte Angst machte sich einen Moment lang i mir breit.

 

Die Realität schien sich in letzter Zeit immer mehr von meinem Horizont zu entfernen. Gedanken lesen, das gab es doch eigentlich nur in Büchern.

 

„Dann liest du definitiv zu viel.“ Dass er diesen Satz nun voller Spott gesagt hatte, war mir egal. Der Inhalt war viel schlimmer.

 

Natürlich hatte ich es schon davor gewusst, aber jetzt wurde es mir noch einmal klar. Die Starre war verschwunden und ich trat einen Schritt zurück. „Du kannst Gedanken lesen!“, schrie ich und merkte wie schrill meine Stimme klang.

 

Marcius zuckte zusammen und warf hastig Blicke in alle Richtungen. „Geht’s vielleicht noch lauter?!“,  zischte er leise und zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen.

 

Aber bis auf eine alte Frau auf der anderen Straßenseite, die verwundert den Kopf hob, hatte mich niemand gehört.

 

Er wandte sich wieder mir zu und runzelte genervt die Stirn. „Ja, ich kann Gedanken lesen. Gerade du müsstest ja eigentlich wissen, dass es manche Dinge nicht nur in Büchern gibt.“

 

Ich ließ die Schultern sinken und starrte auf den Boden. Bisher hatten zu diesen Dingen aber nicht das Gedanken lesen gehört.

 

„Aber deswegen bin ich nicht hergekommen“, redete Marcius weiter und ich spürte seinen durchbohrenden Blick.

 

„Meine Grandma wollte unbedingt, dass ich dir alles erkläre, was es zu erklären gibt und… was wir alles wissen. Sie selber hat wieder ihre Atemprobleme bekommen und kann nicht.

 

Naja, ich hab zwar wirklich keinen Bock darauf, aber mir bleibt ja nichts anderes übrig.“ Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und kickte eine Coladose mit lautem Scheppern weg.

 

Wenn er das konnte, hatte er doch bestimmt all das gehört, was ich beim Casting gedacht hatte, bei Emalia, im Wald…

 

Dann weiß er ja mehr über mich, als ich dachte, schoss es mir panisch durch den Kopf und ich unterdrückte mühsam den Drang, einfach wegzurennen.

 

Doch im selben Moment wurde mir klar, was Marcius da gerade von sich gegeben hatte. Er konnte meine Fragen beantworten! Ich musste nicht mehr warten!

 

Zwar wäre er wirklich der Letzte gewesen, von dem ich Antworten wolle, aber ich wollte endlich Antworten.

 

„Wir… wir könnten…“, begann ich vorsichtig, aber mir fiel kein Ort ein, wo man ungestört war.

 

„In den Park?“, vollendete Marcius meinen Satz und sah mich fragend an.

 

Im ersten Moment klang das nicht schlecht. Aber im zweiten Moment sah ich den blühenden Park mit seiner großen Blumenwiese und dem kleinen See vor mir und – einen Schmetterling.

 

Ich hörte, wie ich mir fieberhaft etwas zusammenstammelte, doch meine Gedanken schrien: Du wirst nur von der Umgebung abgelenkt werden und nicht zuhören! Du wirst dich wieder verwandeln…

 

„Du wirst dich nicht verwandeln“, unterbrach mich seine entschlossene Stimme und ich schaute zu abrupt ihm auf.

 

„Niemand wird sich in meiner Gegenwart verwandeln können.“  Marcius´ Gesicht war sehr ernst, als er das sagte. Er hat es schon wieder getan…

 

„Wie… wie meinst du das?“, fragte ich verwirrt und erschrocken zu gleich und während wir uns langsam in Bewegung setzten, schaute ich ihn abwartend von der Seite an. Seine Nase hatte einen leichten Höcker, ansonsten war sie eher lang und schmal. Die stechend grünen Augen waren von dunklen, aber langen Wimpern umrahmt und starrten in ein Loch.

 

Er ließ sich mit der Antwort Zeit, biss sich mehrmals auf die Lippe und fuhr sich durch das mit Gel hochgestellte, braune Haar, ohne dabei verlegen zu wirken.

 

Ich ertappte mich dabei, wie ich ihn ununterbrochen anstarrte. Als ich es bemerkte, stolperte ich beinahe über meine eigenen Füße und wandte mich wieder ab. Was tat ich da nur? Natürlich, er sah nicht schlecht aus, aber hatte ich nicht schon genug Probleme?

 

Beinahe hätte ich Marcius´ Antwort verpasst. „Ich erzähle es dir wenn wir… alleine sind“, sagt er mit rauer Stimme und blickte geradeaus.

 

Ich warf einen hastigen Blick über die Schulter. Hinter uns, nur ein paar Meter entfernt, liefen zwei Jungen, die allerdings mit einem lautstarken Gespräch beschäftigt waren.

 

In Gedanken versuchte ich meine wichtigsten Fragen zu ordnen und hoffte, dass alle beantwortet wurden. Ich hielt es nicht mehr aus, auf heißen Kohlen zu sitzen, ich wollte endlich Gewissheit und Antworten!

 

Kaum hatte ich mich versehen, waren wir bereits im Park. Obwohl sich der Tag wieder super für einen Spaziergang eignete, waren nur ein paar alte Leute mit ihren Hunden unterwegs.

 

Ich genoss die frische Luft, den Duft von Gras und das Gefühl, dass hier die Welt noch vollkommen in Ordnung war.

 

Marcius steuerte auf den kleinen Spielplatz im Süden des Parks zu, dessen alte Geräte verlassen im Rindenmulch lagen. Dieser Teil wurde noch nicht erneuert und das Klettergerüst hatte sogar eine Absperrfahne, weil es einsturzgefährdet war.

 

Ich zog verwundert die Augenbrauen zusammen. Ein Spielplatz? War dies etwas sein Ernst?

 

Tatsächlich, er setzte sich gleichgültig auf eine der alten, verrosten Schaukel und deute mit einer Armbewegung, mich auf die andere zu setzen.

 

Ich warf meinen Schulrucksack auf den Boden und ließ mich auf die Schaukel fallen, die empört quietschte.

 

„Also“, begann er gedehnt und schaute mich gelangweilt an. „Was willst du wissen?“

 

Dafür musste ich nicht lange überlegen. „Was hast du vorhin gemeint?“, fragte ich wie as der Pistole geschossen. Obwohl es gerade wichtigeres gab, das interessierte mich im Monet brennend.

 

„Naja…“, fing er langsam an und starrte auf seine Hände. „Wenn ich in der Nähe bin, kann sich niemand in einen Schmetterling verwandeln. Niemand weiß, wieso, aber mein Körper scheint so etwas wie eine Mauer zu sein, gegen den die Magie abprallt.“

 

Das klang einerseits plausibel und logisch, andererseits total verrückt und seltsam. Darum kommentierte ich seine Antwort lieber nicht.

 

Die Entschlossenheit, meine Fragen zu beantworten, war größer als die Angst vor Marcius und ich merkte, wie fest meine Stimme klang. „Aber wieso funktioniert dann dieses Gedanken lesen? Hat das nicht auch etwas mit… ähm mit Magie zu tun?“ Das Wort auszusprechen fiel mir schwer. Vor über drei Jahren hätte ich Marcius für einen Verrückten aus der Psychiatrie gehalten, der mir etwas über Magie und Schmetterlingen weismachen wollte und jetzt?

 

Jetzt steckte ich mitten drin.

 

Mein Gegenüber zuckte mit den Schultern und beugte sich nach vorne. „Ich habe keine Ahnung. Jeder Schmetterlingsmensch hat eine magische Gabe, die ihn besonders macht. Bei dir ist das wohl eine sehr besondere, deswegen haben wir nach dir gesucht.“

 

Eine sehr besondere. Seine Worte hallten dröhnend in meiner Ohren nach. Was konnte das nur sein? Ich hatte nie etwas Weiteres an mir bemerkt.

 

Oder war es gar… Nein, unmöglich. Das hatte doch sicher überhaupt nichts mit diesen Schmetterlingen zu tun. Oder?

 

Ich unterdrückte ein Zittern und verschränkte die Arme. Dass mir abwechselnd heiß und kalt wurde, lag bestimmt nicht am Wetter.

 

Aber was tat ich hier eigentlich? Was interessierte mich ein Junge, der mich verfolgt, betäubt und entführt hatte? Ich wollte Erklärungen, sofort!

 

Erbost riss ich meinen Kopf zu Marcius und machte den Mund auf, doch da unterbrach er mich bereits. „Ja, ja, ja, für dich klingt das alles super-kriminell, hinterhältig und was weiß ich noch alles.“ Er machte abfällige Handbewegungen und schnaubte wütend. Dann blitzte er mich mit seinen auffallenden Augen an. „Aber das ist es alles nicht. Weißt du eigentlich, wieso Grandma mir dieses Zeug mitgegeben hat? Weil wir wussten, was mit dir geschieht, wenn deine Gefühle zu stark werden!“

 

Ich nickte düster. Ich wusste, was dann geschehen würde. Dass dies allerdings mit meinen Gefühlen zu tun hatte, war mir neu.

 

Ich wollte gerade nachhaken, da sprach Marcius auch schon weiter. „Also du bei uns warst… Da sind sie gekommen. Wir konnten sie zwar nicht sehen, aber wir haben gesehen, wie sich deine Augenfarbe geändert hat.“  In seiner Stimme schwang ein seltsamer Tonfall bei, so als würde es ihm erst jetzt klar werden.

 

Und meine schwere Last an Fragen wurde wieder leichter. Ich wusste nun, was es sich mit diesen blauen Schmetterlingen auf hatte.

 

 „Wieso…“ Ich ignorierte diese Heiserkeit in meiner Stimme. „Wieso ist es denn so schlimm, ein Winterschmetterling zu sein?“

 

„Die Winterschmetterlinge sind bösartig, aggressiv, hinterhältig, kalt. Sie streben nach Macht und wollen alles auslöschen, was sich gegen sie stellt. Reicht dir das?“

 

Fürs erste, ja. Ich musste an den Kerl mit den eisblauen Augen denken. Er musste einer von diesen Winterschmetterlingen gewesen sein. Aber er wirkte gar nicht so, wie Maricus es mir beschrieben hatte.

 

Viel schlimmer war aber die Tatsache, dass ich nichts davon gemerkt hatte, als ich blaue Augen bekommen hatte. Und vermutlich hätte ich auch nichts davon gemerkt, wenn ich ein Winterschmetterling geworden wäre.

 

Ich erinnerte mich an den großen, dunkelblauen Schmetterling bei Emalia, der mich zum Aufstehen verführt hatte… Eine Gänsehaut überzog meinen Körper.

 

Wenn das, was Marcius mir erzählte stimmte, dann waren die Winterschmetterlinge wirklich die Bösen.

 

„Bei dir muss irgendjemand von ihnen ständig in der Nähe gewesen sein, damit er dir Stück für Stück… hinüberziehen kann.“ Marcius wippt ein wenig hin und her. Die Schaukel gab ein kreischendes Quietschen von sich.

 

„Es gibt Dinge, die sich niemand erklären kann. So wie das hier.

 

Ich habe zwar noch nie so eine ‚Mutation‘ mitbekommen, aber ich weiß von Grandma, dass sie eindeutig bevorsteht, wenn derjenige blaue Augen bekommt. Es hängt bestimmt mit den Prophezeiungen zusammen, dass du noch nicht zum Winterschmetterling mutiert bist.“

 

Meine Ohren saugten seine Worte gierig ein, aber mein Gehirn kam nicht mehr ganz mit. „Was denn für Prophezeiungen?“, warf ich schnell dazwischen und beugte mich interessiert ein Stück zu Marcius nach vorne.

 

Er winkte mit einer Wegwerfenden Handbewegung ab. „Ach, irgend so ein Mist, das irgend so ein Typ vor ein paar hundert Jahren von sich gegeben hat. Wundert mich, dass es überhaupt stimmt.“

 

„A-aber… Wenn ich durch jemand anderes blaue Augen bekomme, dann beobachtet mich doch ständig jemand, oder?“ Bei dem Gedanken an einen heimlichen Beobachter wurde mich übel. Unwillkürlich sah ich mich um, aber es war immer noch vollkommen still um uns herum.

 

„Ich hab keine Ahnung, ehrlich…“ Marcius hob die Hände.

 

Schon wieder keine richtige Antwort.  Verzweifelt hielt ich mich an den verrosteten Eisenketten fest, als könnte es etwas an der ganzen Gesichte ändern.

 

Doch dann riss ich mich zusammen. Meine lästigen Fragen konnten beantwortet werden, da war kein Platz für irgendwelche dummen Gefühle. „Vor drei Jahren, als ich diesen Ring gefunden habe… Da habe ich mich kurz danach auch zum ersten Mal verwandelt. Hätte ich es ohne den Ring nicht getan? Was hat dieser Ring überhaupt damit zu tun?“

 

Marcius drehte sich eine wenig in der Schaukel herum. Er streckte die Beine aus, zog sie wieder an und kratzte sich am Kinn. Ich hätte nicht erwartet, dass er meine Frage zu beantworten versuchte und, was noch wichtiger war, dass er nicht so gemein schaute, wie bei unseren vorigen Begegnungen.

 

Während er überlegte, sammelte ich die Antworten, die er mir bisher gegeben hatte:  Er hatte mich nicht aus Spaß betäubt, sondern weil ich kurz davor war, mich in einen... Winterschmetterling zu verwandeln. Ich konnte mich in seiner Nähe nicht verwandeln, weil die ‚Magie‘ gegen ihn abprallte. Das klang ziemlich seltsam und ich wusste nicht, ob ich das einfach so glauben sollte. Aber wenn ich mich nun wirklich nicht verwandeln würde, hätte ich den Beweis.

 

„Wir sind von Anfang an Schmetterlingsmenschen. Da ändert ein Ring nichts. Normalerweise  - “, Marcius unterbrach sich und betonte das Wort, während er mich abfällig anschaute. „Normalerweise können wir uns schon viel früher verwandeln. Bei dir muss sich das durch irgendwas verzögert haben. Und ich habe echt keine Ahnung, was das mit einem Ring zu tun hat. Da müsste ich Grandma fragen…“

 

Aha, er hat in manchen Dingen auch keine Ahnung. Na, das war ja ein toller Trost.

 

Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatte. „Wieso… wieso bekomme ich manchmal nur meine Flügel?“ Dass diese nicht mehr grün waren, verschwieg ich lieber und starrte auf den Boden. Irgendwie kam ich mir mit meiner Fragerei ganz schön dumm und naiv vor. Dabei konnte ich das alles ja gar nicht wissen.

 

„Ach, das ist alles eine Frage der Übung“, sagte er leichthin. Die ich nicht habe, vollendete ich seinen Satz in Gedanken und man konnte ihm ansehen, das er etwas ähnliches dachte.

 

Plötzlich ging ein Ruck durch Marcius‘ Körper. Er schnappte erschrocken nach Luft und schoss so schnell in die Höhe, dass die Schaukel nach hinten geschleudert wurde.

 

Ich zuckte zusammen. Meine Gedanken bildeten wirre Fragen, doch aus meinem Mund kam kein Ton.

 

„Ich… muss gehen“, presste Marcius mühsam hervor und krümmte sich nach vorne.

 

Er fiel wie in Zeitlupe nach vorne und ich war wie erstarrt und konnte nichts tun, außer zu zusehen.

 

In dem Moment, in dem er auf dem Boden aufschlagen sollte, war er verschwunden.

 

Zurück blieb ein Mädchen mit Tränen in den Augen, welches frierend feststellen musste, dass sie sich kein Stück besser fühlte als vor wenigen Stunden.

 

Kapitel 13

Eine Stunde später saß ich immer noch auf der Schaukel. Um mich herum ging langsam die Sonne unter einzelne orange Wolken versuchten sich vor die Sonne zu schieben. Aber dies nahm ich nicht wahr.

Alles, aber auch wirklich alles, hatte sich in meinem Leben innerhalb weniger Tage verändert. Zoff mit der besten Freundin, Konfrontationen mit der Herkunft und der Frage, was ich eigentlich war.

Ich wollte kein Schmetterlingsmensch sein. Ich wollte mir nie wieder in einen Schmetterling verwandeln. Ich wollte auch nicht normal sein, ich wollte mich einfach nur bemühen, normal zu leben. Wie konnte ich das, wo ich bei jeder Berührung von Wasser ausflippte und die Natur mich anzog wie eine Biene die Blüte?

Marcius‘ Antworten haben mich zwar ein Stück weitergebracht und mich erleichtert, aber es war noch nicht vorbei.

Und wenn ich nicht selber etwas tat, würde es das auch nie werden.

Wo ist eigentlich die Lenaya vor drei Jahren abgeblieben?, fragten mich meine Gedanken auf einmal und ich wurde wütend. Dieses fröhliche, selbstbewusste Mädchen, dass sich von niemandem etwas sagen ließ und ihr eigenes Ding durchzog. WO WAR SIE?

Ich seufzte und fing an, zu schaukeln. „Sie ist gestorben“, murmelte ich mit erstickter Stimme. „Sie ist gestorben, während der Schmetterling ist geboren worden ist. Verdammte Scheiße.“

Ich stieg bei jeder Bewegung höher und sah hinter den Kronen der Bäume die untergehenden Sonne, die noch immer ihre warmen Strahlen auf mich warf und mich auf eine seltsame Weise beruhigte.

Die Schaukel quietschte, je höher ich wurde. Ich schloss die Augen, sobald sie nach hinten schwang und genoss das Achterbahngefühl, dass mir in den Magen schoss.

Tief ein und ausatmend schaukelte ich und hörte den Vögeln zu, die von Ast zu Ast hüpften und ihre Lieder sangen.

Irgendwann bewegte ich mich nicht mehr. Kaum war die Schaukel zum Stillstand gekommen, stieg ich ab.

Wenn mir niemand klare Antworten geben konnte, musste ich sie eben selber suchen. Und ich fing direkt bei mir zu Hause damit an.

Entschlossen schnappte ich mir meinen Rucksack und verließ den Park. Irgendetwas fühlte sich dabei anders an.

Mein Inneres war keine schüchterne graue Maus mehr. Sogar die Angst, die verdammte, kalte Angst war verschwunden.

Wer hätte gedacht, dass die Natur, die gefährliche Droge, einen heilen konnte? Oder war es nur ein Zustand wie bei richtigen Drogen? Ein Zustand, bei dem man sich so selbstbewusst, so stark, so… gut fühlte? Dann würde dieser Zustand nicht für immer bleiben. Aber dann gab ich mir wieder die Drogen, ganz einfach. Irgendwann würde die Angst schon von alleine verschwinden. Irgendwann.

 

Als ich ins schwachbeleuchtete Wohnzimmer trat, saßen dort Mum und das alte Ehepaar McEvans und erzählten sich Geschichten, die offensichtlich ziemlich amüsant waren.

Alle Muskeln in Mums Gesicht hatten sich zum Lachen verzogen, sie sah richtig glücklich aus. Irgendwie bogen sich auch meine Lippen zu einem kleinen Lächeln, als ich sie so sah.

„Hallo, Lenaya!“, begrüßte sie mich freudig und zog mich an sich. „Warst du wieder bei deinem Freund? Es ist ja schon reichlich spät!“ Sie versuchte, streng auszusehen, aber musste wieder loskichern.

„Ähm, hallo, was… gibt es denn so Lustiges?“, versuchte ich mit rauer Stimme ihrer Frage zu übergehen und betrachtete dann die McEvans. Sally McEvans war eine kleine, faltige Frau mit dunkel gefärbten, kurzen Locken und funkelnden blauen Augen. Robert dagegen war größer und schlanker, und sah deutlich jünger aus als er war.

„Ach, wir erzählen uns alte Geschichten aus dem Dorf“, antworte Sally und lächelte mich an.

Ich erwiderte ihr Lächeln und ließ mich neben Mum auf die schwarze Couch fallen. Auf ein bisschen Geplauder hatte ich eigentlich keine Lust, aber ich hatte in letzter Zeit so selten mit den McEvans geredet, das war ich ihnen das schuldig. Sie waren immer so nett zu mir gewesen, ich mochte sogar behaupten, dass sie für mich so etwas wie Großeltern waren.

Außerdem – was hätte ich denn sonst getan? Ich hätte mich in mein Bett gekrochen und mir wie auf Endlosschleife alle Fragen gestellt, für die es keine Antworten gaben, welch eine wunderbare Beschäftigung.

„Lenny sieht ganz ausgehungert aus, wir essen lieber.“ Mum stand auf und lächelte in die Runde. „Wollt ihr mit uns essen? Ich mache Lasagne!“

Bei dem Gedanken an Essen knurrte mein Magen. Und auf einmal fühlte ich mich ausgelaugt; hinter meiner Stirn kündigten sich Kopfschmerzen an.

Das alles war ein Grund mehr dafür, dass ich mich nicht so hängenlassen sollte.

„Ja, das wäre schön!“, hörte ich Sally antworten und Robert ging mit Mum in die Küche, um ihr beim Kochen zu helfen. Er war früher einmal ein begnadeter Koh gewesen und half uns immer gerne, ein leckeres Essen zu kochen. Ich erinnerte mich an den wunderschönen Sommertag vor ein paar Jahren, an dem wir alle zusammen gegrillt hatten. Dort war alles noch völlig normal gewesen: Ich hatte einen Dad, eine beste Freundin und den festen Glauben an die physikalischen Gesetze. Und jetzt? Jetzt hatte ich all das verloren.

Ich bemühte mich, nicht schon wieder so traurig zu werden und atmete tief durch. Als ich Sallys forschenden Blick auf mir spürte, schaute ich hastig auf.

„Alles klar mit dir, Lenaya? Du bist so… still“, stellte die alte Frau fest und beugte sich ein wenig vor, um mich zu mustern. Auf ihrer Stirn lagen tiefe, skeptische Falten.

„Ach, ähm…“ Ich wurde nervös und in meine Wangen schoss das Blut. Ich presste meine Lippen zusammen, damit ich nicht sagte: Mein Leben hat eine 180-Grad-Wendung gemacht und ich weiß nicht einmal alles über mich selbst, aber ansonsten geht es mir ganz gut.

Doch die arme Frau konnte ja nichts dafür. Noch bevor mir die richtigen Wörter auf der Zunge lagen, fragte sie, jedes einzelner Wort betonend: „Ist es wegen den… Schmetterlingsschatten?“

Ich erschrak mindestens so sehr wie heute Mittag, als Marcius hinter mir gelaufen war und auf meine Gedanken geantwortet hatte.

Wenn ich mich erschrak, konnte ich es nicht verbergen. Ich spürte, wie ich blass wurde und die Hände in das weiche Couchleder krallte. Mein Kiefer öffnete sich, schloss sich aber sofort aber sofort wieder, als ich merkte, dass es mir die Sprache verschlagen hatte. Schmetterlingsschatten.  Sofort sah ich die blaugrünen Flügel eines Schmetterlings vor mir, die auf meinem Rücken saßen. Im nächsten Moment waren es die blauen Schmetterlinge, die wie in einem Tanz betörend auf mich zu flatterten. Schmetterlingsschatten. Das Wort klang bedrohlich, düster und irgendwie geheimnisvoll. Es bohrte sich wie der spitze Dorn einer Rose in mein Gedächtnis und echote sich dort immer wieder mit Sallys Stimme.

Dass Worte heftiger treffen konnten als Schläge, war mir klar, aber dass ein einziges Wort es schaffte, mich völlig aus der Fassung zu bringen – das hätte ich niemals erwartet.

Diese Schockreaktion dauerte bestimmt nur wenige Sekunden, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich mich einigermaßen entspannen konnte.

Sally hob die überrascht die Augenbrauen hoch. Sie vermutete bestimmt, dass ich das Wort noch nie gehört hatte, aber dass mich womöglich alles, was das Wort Schmetterling enthielt, so erschrecken würde, konnte sie ja nicht ahnen. „Du hast es nicht mitbekommen? Es steht doch in allen Zeitungen des Bezirks!“ Sie holte schwer atmend Luft, als müsse sie eine längere Geschichte erzählen, lehnte sich zurück und begann mit besorgte Miene zu berichten: „Innerhalb einer Woche wurden drei Mädchen in deinem Alter hier im Umkreis angegriffen und schwer verletzt. Sie… sie alle sprachen von großen Schatten, die hinter ihnen auftauchten. Sie sahen aus wie Schmetterlinge. Aber es seien eindeutig Hände gewesen, die sie geschlagen und… vergiftet hatten. Die Polizei hat immer noch keine Spur, aber sie vermutet, dass es noch weitere diese Angriffe geben wird. Und die Zeitungen haben diesen Fall Schmetterlingsschatten genannt. Schrecklich, oder?“

Je mehr Sally erzählte, desto starrer wurde ich wieder. „Ähm. Ja“,  brachte ich geschockt heraus. „Le-leben die M-mädchen denn n-noch?“

„Ja, sonst würde man die Info mit den Schmetterlingen ja nicht wissen.“ Sally lächelte mich an. Es war kein spöttisches, sondern einfach nur ein freundliches Lächeln.

Das gute an ihr war, dass sie einem viel Zeit zum Nachdenken gab. Sally schien zu bemerken, wenn man über etwas nachdachte und hörte auf, zu reden. Ihre Worte hallten in meinen Gedächtniszellen nach, während ich sie ausdruckslos anstarrte.

Das konnte kein Zufall sein. Irgendeine Vorahnung sagte mir, dass dies etwas mit mir und den Schmetterlingsmenschen zu den haben musste. Anders konnte es auch gar nichts sein. Ich hatte noch nie etwas von Vorfällen gehört, in denen Schmetterlinge vorkamen, und jetzt, wo ich wusste, dass ich auch ein solcher war, gab es einen Artikel.

In derselben Sekunde, als mir das auffiel, sprang ich abrupt vom Sofa auf. Sally schaute erstaun zu mir hinauf.

„Ich, ähm, gehe mal auf die Toilette“, beeilte ich mich zu sagen und lief hastig in den Flur. Ich musste irgendwie an die Zeitung von heute herankommen, dort stand bestimmt dieser Artikel. Mum las die Zeitung immer morgens und warf sie dann in den Papiermüll.

Ich atmete einmal tief ein und wieder aus, dann ging ich in die Küche mit der weißen Einrichtung, wo Mum und Robert gerade die Lasagne in den Ofen schoben.

Mit einem Schritt war ich beim Papiermülleimer und kramte die Zeitung vom Donnerstag heraus.

„Ähm, Layla?“, hörte ich Mums Stimme hinter mir.

„Ich muss etwas in der Zeitung nachlesen. Für… für die Schule!“ Wer hätte gedacht, dass die Schule mir mal etwas nutzen konnte. Ich drehte mich zu Mum um, die mich fragend anschaute.

Noch bevor sie etwas sagen konnte, verließ ich das Wohnzimmer und tappte in mein Zimmer hinauf.

 

Es war stand genauso dort, wie Sally es mir berichtet hatte. Nur dass sie ein kleines Detail vergessen hatte. Ein kleines, aber ziemlich wichtiges Detail.

Die Polizei geht von einem Serientäter aus, da alle drei Mädchen im Alter von 16 bis 18 Jahren waren. Besonders auffallend ist auch, dass sie alle grüne bzw. blaue Augen haben.

Zufälle gab es nicht. Nicht hier, nicht jetzt. Die Erkenntnis packte mich wie eine eiskalte Hand am Hals. Sie suchen mich. Und sie sind näher, als Emalia gedacht hat.

Verängstigt sah ich mich in meinem Zimmer um. War ich dort überhaupt noch sicher?

Von der Panik ergriffen stand ich auf und durchsuchte jeden Winkel meines Zimmers nach Kameras und anderen verdächtigen Dingen. Ich warf Taschen und Bücher durcheinander und hob jeden Gegentand an. Doch es gab nichts Außergewöhnliches, alles war so wie immer. Der Schreibtisch, dessen Umrisse man vor lauter Schulhefte, Bücher und anderem Kram kaum noch erkennen konnte. Die Schränke und Kommoden, die ein wenig ordentlicher aussahen als der Schreibtisch.

Und nicht zuletzt der Kleiderschrank, an dem der große Spiegel hing. Ich sah mich mit glasigen Augen – grünen Augen!

Ich hätte erleichtert sein können, dass ich in meinem Zimmer nichts Verdächtiges gefunden hatte und  meine Augen nicht wieder dieses unnatürliche blau hatten, doch ich war es nicht. Viel zu groß war die Angst, dass sie mich finden konnten. Was auch immer sie mit mir vorhatten, ich musste es dringend herausfinden, bevor es zu spät war.

 

Obwohl mir der Appetit bei all diesen gemischten Gefühlen und Gedanken gehörig vergangen war, so knurrte mir doch der Magen, als ich das große Stück Lasagne auf meinem Teller liegen sah.

Mum saß gegenüber von mir und hatte gerade den ersten Bissen genommen. Ihre Augen weiteten sich so groß wie Münzstücke und sie verschluckte sich. Panisch wedelte sie hustend mit den Händen herum, bis Robert ihr lachend auf den Rücken schlug. Sie fasste sich wieder einigermaßen. „Das… das ist einfach unglaublich!“, japste Mum fassungslos und strahlte. „Robert, du, du… ach, mir fehlen die einfach Worte.“

Ich musste lächeln. Ja, mit Robert Hilfe machte man einfache Speisen wirklich zu  etwas Einzigartigem, aber dass Mum sich deswegen verschluckte?

Dann musste ich mich wohl selbst davon überzeugen. Tatsächlich – der Geschmack von Tomate, Käse und frischen Kräuter benebelte alle meine Sinne, so intensiv war er. Ich musste seufzen. Es schmeckt  wirklich herrlich, so herrlich, dass ich all meinen Kummer schlagartig vergaß.

Auch die anderen waren ziemlich angetan von dem Essen und innerhalb kurzer Zeit waren die Teller leer.

Ich lächelte satt und zufrieden, doch dann hatte diese Wunder-Wirkung bereits nachgelassen und ich wurde wieder an alle das erinnert, was mich bedrückte.

Wie von selbst glitt mein Blick in alle Ecken des geräumigen Wohnzimmers, doch dort war niemand. Ich unterdrückte ein Seufzen. Allmählich wurde ich wohl paranoid.

Mum und die McEvans plauderten ausgelassen miteinander, während meine Gedanken Karussell fuhren. Es war einfach nicht Auszuhalten! Irgendetwas musste ich doch tun können!

Wenn ich wenigstens wüsste, was es mit diesen Schmetterlingsmenschen auf sich hatte. Waren sie vielleicht nicht so bekannt wie Vampire oder Werwölfe, sodass niemand sie wirklich kannte? Gab es keine Erzählungen über sie, Legenden oder Gedichte?

Vielleicht sollte ich mal in der Bibliothek… Ach nein, das ist doch unlogisch. Als ob die kleine Bibliothek alte Schriften über Leute hatte, die sich in Schmetterlinge verwandeln können. Da ging wohl die Fantasie mit mir durch.

„Lenaya?“, schreckte mich jemand aus meinen Gedanken. Es war Mum, die mich anlächelte und sich ihre roten Locken aus dem Gesicht strich. „Was meinst du, würdest du auch ein Gläschen mittrinken?“

Ich spürte, wie die Hitze in mein Gesicht schoss. Verwirrt blickte ich auf meine Hände, dabei sah ich die Weingläser die auf dem Tisch standen. Mum schien in der Zwischenzeit die Teller weggebracht und die Gläser geholt zu haben.

„Ähm, okay“, antwortete ich noch immer ein wenig irritiert. So leicht schaffte man es also, die Welt um sich herum komplett auszublenden, obwohl die anderen nicht einmal einen Meter von mir entfernt waren. Ich versuchte, mich ein wenig zu entspannen und mir die lockere Stimmung nicht zu vermiesen.

Mum sprang auf und ging in die Küche, um den Wein zu holen. „Wir haben gar keine Flasche mehr da“, hörten wir sie im nächsten Moment rufen.

„Im Keller steht glaube ich noch eine“, sagte eine Mädchenstimme und ich begriff erst eine Sekunde später, dass ich es gewesen war. Schon war ich aufgesprungen und in Richtung Keller gelaufen.

Ich musste wohl unter Stimmungsschwankungen leiden, denn mit einem Mal hielt ich es im Wohnzimmer nicht mehr aus.

Im Keller herrschte eine angehnehme Kühle, die mich ein wenig beruhigte. Tief durchatmend quetschte ich mich in den kleinen, etwas verstaubten  Vorratsraum und heilt Ausschau nach der Weinflasche. Erst jetzt fiel mir auf, dass Mum mich nur etwas Alkohol erlaubte, wenn sie sich Sorgen machte. Natürlich hatte sie allen Grund dazu, wenn sie wüsste, was mir in den letzten Tagen alle widerfahren war. Doch ich konnte es ihr nicht erzählen. Niemals würde sie mir so etwas glauben, außer sie wäre vielleicht selber ein Schmetterlingsmensch. Aber davon hätte ich doch etwas gemerkt, oder?

Während mein Inneres mit sich selber Überlegungen machte, entdeckte mein Äußeres die Weinflasche, dessen Flaschenhals unter einem Regal hervorlugte.

Ich bückte mich und ergriff sie, dabei stieß sie jedoch gegen einen Widerstand. Holz knarrte.

Holz? Nichts bestand hier aus Holz, nicht einmal die Regale. Ehe aus Langeweile als aus Interesse legt ich mich kurzerhand auf den Bauch und erhaschte einen Blick auf ein Stück Wand mit einem schmalen, hellen Schlitz. War das etwa eine Tür? Mein Herz klopfte schneller. Eine Tür hinter einem Regal? Das klang irgendwie absurd und wie aus einem schlechten Film.

„Lenaya? Hast du sie?“, rief Mum mir von oben. Ich atmete die angehaltene Luft aus. Um diese Tür musste ich mich wohl später kümmern.

 

Der Wind zerrte am Fenster, der Regen prasselte aufs Dach. Ein Blitz erhellte für einen Moment mein gesamtes Zimmer. Alles gehörte zu einem typischen Gewitter, aber ich lag zusammengekauernd unter meiner Bettdecke und versuchte, mich selbst zu beruhigen.

Was war nur los mit mir? Hinter jedem Schatten, den ich sah, vermutete ich etwas, das sich auf mich zubewegte. Einmal war es sogar ein Schmetterling…

Ich presste mir die Hand auf den Mund um nicht laut zu kreischen.

Völlig absurd, wenn ich daran dachte, dass ich heute MITTAG noch wild entschlossen gewesen war, alles über mich zu erfahren und die alte Lenaya wieder zu beleben.

So wie es aussah war diese wohl endgültig tot.

Der einzige Grund, wieso ich meine brennenden und ständig zufallenden Augen das antat war weil ich wartete. Ich wartete, bis ich unten Geräusche hörte, die mir verrieten, das Mom ins Bett ging. Doch dann hatte es angefangen zu donnern. Wie konnte ich unten Geräusche hören, wenn es so laut um mich herum und dennoch so still in meinem Zimmer war?

Man konnte sich das vorstellen wie bei einer Matheaufgabe: Man probierte jede noch so kleine Möglichkeit aus, um ein bisschen nach vorne zu kommen. Genau das tat ich jetzt, um einen Schritt nachvorne zu kommen.

Diese Tür im Keller ließ mich einfach nicht in Ruhe. Es mochte sein, das sich hinter ihr so etwas Banales wie eine Besenkammer befand, aber ich musste mich an jeden Strohhalm klammern und je eher ich nach unten kam, desto besser.

Der nächste Donner grollte über mir und ich stand auf. Mein Wecker zeigte kurz nach elf, das müsste reichen.

Ich schaltete das Licht an und suchte im Kleiderschrank nach diesen Plüschpantoffeln im Hello-Kitty-Design, die Mom mir letztes Jahr gekauft hatte. Ich zog sie nur an, wenn ich krank und mir kalt war, weil sie wirklich grässlich aussahen. Aber sie eigneten sich ziemlich gut, um sich lautlos durchs Haus zu schleichen, denn die weichen Sohlen verschluckten meine Schritte.

Innerhalb kurzer Zeit war ich im Keller angekommen. Ich wusste gar nicht, wieso die Leute in diesen Horror-Filmen immer mit Taschenlampen herumlaufen und das dann auch noch total langsam. Ich dagegen war beinahe gerannt und hatte einfach in jedem Raum, den ich betrat das Licht angeschaltet. Und mir war kein sechsäugiges Monster, ein Geist oder gar ein… ein Schmetterling begegnet.

Jetzt stand ich mit vor Aufregung glühenden Wangen vor dem Regal im Keller und fragte mich, wie ich es am lautlosesten wegschieben konnte. Aber im nächsten Moment fiel mir ein, dass draußen ja ein heftiger Sturm wütete, also ergriff ich mit beiden Händen eine Seite des brüchigen Holzes und schob es mit aller Kraft  nach vorne. Ich war verwundert, wie schwer es war, obwohl nicht allzu viel in ihm stand.

Doch noch viel verwunderter war ich, als ich kleines Rechteck hinter dem Regal sah, dass dieselbe graue Farbe hatte wie die Wände. Es war kaum größer als ich und hatte einen silberglänzenden, aber sehr kleinen Griff.

»Krass«, stieß ich aus. Aus meinem Gesicht schlich sich der Anflug eines Lächelns. Aber in mir drinnen herrschte eine nervöse Anspannung.

Ich legte meine Finge auf den Griff und öffnete die Tür. Schon als sie nur einen Spalt weit geöffnet war, kam mir ein stickiger Geruch entgegen, als hätte jemand jahrelang nicht gelüftet.

Als ich den Raum vor mir sah, war ich doch ein wenig überrascht, denn mit so etwas hätte ich in einem stinknormalen Keller nicht gerechnet.

Er war nicht übermäßig groß und vollgestopft mit mehreren Bücherregalen, einem kleinen, staubigen Holztisch und einem roten Sessel.

An den wenigen freien Stellen waren die Wände mit Teppichen bedeckt, deren Aussehen ich kaum erkennen konnte, denn das einzige Licht, das in diesem Raum gab, war ein schwacher Schein des Abstellraumes.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht vor Staunen den Unterkiefer fallen zu lassen. (Bescheuerte Formulierung, weiß jemand was Besseres? :D)

In unserem Keller befand sich doch tatsächlich so etwas wie eine kleine, wenn auch sehr verstaubte Bibliothek!

Vorsichtig setzte ich einen Fuß in den Raum. Im nächsten Moment blieb mein Herz beinahe stehen und mir brach schlagartig der Schweiß aus vor Schreck, als die Holzdielen unter mir verräterisch knarzten.

Aber kaum eine Sekunde später atmete ich zischend aus. »Lenaya, was bist du nur für ein schreckhaftes Mädchen!«, sprach ich das, was ich dachte, flüsternd aus. Wieso erschrak ich bei jeder kleinen Bewegung so sehr, nur eil es so still um mich herum war? Wer würde mich hier unten schon hören, bei diesem Gewitter?

Ich ging weiter. Auf dem uralten Holztisch fand ich etwas, das aussah wie eine Taschenlampe. Eine Taschenlampe in einem solch uralten Raum, auf der noch nicht einmal eine Staubschicht lag? Irgendjemand musste hier in den letzter Zeit gewesen sein.

Aber was soll‘s.

Zuerst flackerte ihr heller Schein ein wenig, dann strahlte sie genügend Licht aus, um alles in dem Zimmer erkennen zu können.

Mein Blick wanderte zu einem der Teppiche, doch dabei entdeckte ich ein dickes Buch, das auf dem roten Ohrensessel lag.

Neugierig ging ich näher. Band 2: Alles über Schmetterlingsmenschen.

Manchmal, besonders seit dem Beginn der Schmetterlings-Sache war ich mir selbst fremd. Bei einem kleinen Geräusch zuckte ich zusammen und jetzt starrte ich ausdruckslos auf die verschnörkelten, ausgeblichenen Zeilen, während in mir drinnen wirre Gedanken umherflogen, ohne das ich sie wirklich beachteten konnte.

Schon wieder diese Schmetterlingsmenschen! Allmählich wurde ich wirklich von der ganzen Sache verfolgt.

Doch dann breitete sich ein gieriges Lächeln auf meinem Gesicht aus und ich hievte das schwere Buch auf den Tisch. Staub wirbelte auf und funkelte im Schein der Taschenlampe.

Wenn es hier nur Bücher über Schmetterlingsmenschen gab, dann würde ich in Kürze alles, aber auch wirklich alles über sie und somit auch über mich erfahren.

Als ich mir vorstellte, dass die Last, die auf meinem Schultern lag, abheben würde als hätten sie Flügel, strömten unzählige Glücksgefühle durch mich hindurch. Ich lächelte.

Mein Verstand sagte mir zwar, dass ich mich nicht zu früh freuen sollte, doch ich gab mich der Illusion hin. Einfach mal vor dem Fernseher sitzen und an nichts denken, was einen Probleme bereitete.  Einfach mal mit Hailey shoppen gehen, ohne an Schmetterlinge und Flügel zu denken. Einfach mal ein stinknormales Leben haben.

Ich schreckte auf, als die Taschenlampe flackerte. Wenn die Batterie bald leer ging, sollte ich mich lieber beeilen. Das staubige Buch würde ich bestimmt nicht mit in mein Zimmer nehmen, ein viel zu hohes Risiko.

Ich wischte den Staub von dem Sessel und setzte mich vorsichtig hin. Erstaunlicherweise war er sehr weich und bequem.

Die vergilbten, an den Rändern rissigen Seiten fühlten sich rau unter meinen Fingern an, als ich die erste Seite aufschlug.

 

Schmetterlingsmenschen gehören zur Gruppe der Gestaltwandler. Sie sind stark an die Natur gebunden und können sich binnen Sekunden in einen Schmetterling verwandeln, mit ein wenig Übung aber auch nur ihre Flügel erscheinen lassen.

Zwischen dem Alter von 9 bis 10 Jahren werden sich Schmetterlingsmenschen das erste Mal zu verwandeln und ihre Kräfte vollständig entfalten.

Mit der Zeit kommen ihre magischen Verteidigungskräfte hinzu, die von Spezies zu Spezies verschieden sind (siehe Band 20: Die Verteidigungskräfte).

 

Über die vier Spezies

 

Die Schmetterlingsmenschen, auch Schmetterlingswandler genannt, leben in zwei Spezies getrennt: Frühlings- bzw. Sommerschmetterlinge und Winter-bzw. Herbstschmetterlinge. Die Bezeichnung der Jahreszeiten  stammt aus der Farbe ihrer Flügel, den Augen, ihrem Charakter und der Liebe zur jeweiligen Jahreszeit.

Frühlingsschmetterlinge sind die verbreitete Art von Schmetterlingsmenschen. Ihre Flügelfarbe hat versch. Grüntöne,wie ihre Augen. Sie sind meist offen und nett, aber auch still und schüchtern. Die Sommerschmetterlinge gehören zur Seite der Frühlingsschmetterlinge und sind beinahe ausgestorben. Nur ein paar der älteren Generation existieren noch, wieso weiß niemand. Ihre Flügel und ihre Augen haben die unterschiedlichsten Rot- und Gelbtöne.

Die Winterschmetterlinge zeichnen sich durch ihre blauen Flügel und Augen aus, vor ihrer Trennung der anderen Spezies fielen sie durch ihre sturköpfige, temperamentvolle Art auf, jetzt sind sie hinterhältig,  gemein und kalt. Auch die Herbstschmetterlinge sind unfassbar selten, es sollen nur noch hunderte von ihnen leben. Ihre Augen und Flügel haben ein warmes Braun-rot. Sie gehören zwar zur Winter-Seite, aber sind dennoch unabhängig von ihnen und auch nicht im Krieg verwickelt.

 

Vor rund 15 Jahren kam es zum Krieg und zur Spaltung der Schmetterlingswandler. Der Grund dafür war ein neugeborener Schmetterlingsmensch aufgewachsen bei Menschen. Die Winterschmetterlinge hatten eine Prophezeiung gefunden, dass ihnen viel Macht versprach und mit diesem Schmetterlingsbaby zu tun hatte. Man nahm an, dass sie uns, den Frühlingsschmetterlingen, nichts davon teilen wollten und vor lauter Gier einen Krieg anfachten, der heute noch nicht beendet ist. (siehe Band 2: Die Prophezeiung; Band 3: Der Krieg zwischen den Schmetterlingsmenschen)

 

Meine Hand zitterte vor Aufregung so sehr, dass ich die Taschenlampe fallen ließ. Ein lautes Poltern durchschnitt die Stille, als sie auf den Holzboden aufkam. Ein letztes, schwaches Flackern, dann wurde es stockdunkel um mich herum.

„Verdammt!“

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass es aufgehört hatte zu gewittern. Umso lauter war jedes Geräusch, das sich anhörte wie ein Pistolenschuss.

Was nun? Orientierungslos ließ ich meinen Blick hin- und her schweifen. Die Tür, durch die ich gekommen war, war ins Schloss gefallen, denn ansonsten hätte ich jetzt immerhin einen winzigen Lichtschein gehabt.

Auf einmal wurde meine rechte Hand brennend heiß. Als ich sie anschaute, traute ich meinen Augen nicht.


Kapitel 14

Aus meinen Fingern brodelten Flammen. Mit einer Mischung aus Angst und Faszination starrte ich das Feuer auf meiner Hand an. Es hatte eine gelblich-grüne Farbe und bewegte sich in langsamen Wellen. Grüne Funken fielen langsam auf den Boden und erinnerten mich an den Typen, der mich bei meiner Verwandlung gesehen hatte.

Die Flammen waren nur wenige Zentimeter hoch, aber so hell, das fast der ganze Raum mit ihrem Licht gefüllt wurde.

Mein erster Instinkt war laut zu schreien, doch vor Schreck war ich wie gelähmt. Atemlos keuchend und mit weitaufgerissenen Augen versuchte ich, meine Hand langsam zu bewegen und war erleichtert als sie meinen Befehl folgte. Mein Puls raste, der Schweiß stand mir auf der Stirn und die Panik drohte mich zu übermannen.

Aber dann merkte ich, dass die Hitze, die von ihm ausging, erträglich war.

Und je länger ich die Flammen anschaute, umso beruhigter wurde ich.

Ich musste lächeln. Die Situation war so absurd, aber dennoch so… wundervoll. Einzigartig. Magisch.

„Verteidigungskräfte also?“, sagte ich übermütig und widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem Buch.

In Gedanken stellte ich meinen Wecker eine Stunde früher. Sie war genau in diesem Moment zurückgekehrt, ich fühlte es.

 

Selten war ich mit einem solch zufriedenen Lächeln aufgewacht. Wieso? Zum ersten Mal seit langem hatte ich von etwas eine Ahnung: Die alte Lenaya war zurückgekehrt. Ich spürt förmlich, wie sie sich in all meinen Körperzellen breitmachte und Kontrolle über mich beherrschte.

Ich glaube, eigentlich war sie nie wirklich tot gewesen. Sie hatte sich nur in irgendeinem Winkel versteckt und auf einen Zeitpunkt gewartet, an dem sie herauskommen konnte. Und dieser Zeitpunkt war gestern gewesen.

Ich hatte noch bis in die frühen Morgenstunden gelesen und wusste nun auf fast alle meine Fragen eine Antwort, dass ich schreien könnte vor Glück.

Ich wusste, wer ich war und zu was ich fähig war.

Die alte Lenaya wollte dass sich etwas gewaltig änderte. Nicht nur an dem Charakter, nein, das ewige Schwarz hatte jetzt ein Ende.

Als ich aus dem Bad kam, öffnete ich meinen Kleiderschrank und zog die farbenfrohen Klamotten aus der hintersten Ecke heraus. Die meisten waren zwar recht alt, aber kaum getragen und die bis auf die Jeans, die mir bestimmt zu kurz waren, müsste eigentlich alles passen.

Ich hielt die verschiedensten Teile vor mich und  dachte daran, wie Hailey bei jedem Stück reagieren würde und wir total viel Spaß hätten. Doch die Realität sah anders aus. Es gab mir einen schmerzhaften Stich, als ich bemerkte, dass in meinem Leben noch längst nicht alle Probleme beseitigt waren. Frustriert ließ ich das Top in meiner Hand sinken. Wenn wir uns doch nicht gestritten hätten! Dann hätte ich ihr in unserem Stammcafé endlich alles über mich erzählen können.

Aber es war alles viel zu kompliziert. Ich konnte mich noch an jedes einzelne Wort von diesem Streit erinnern und ich war nicht ganz unschuldig...

Mit einem Seufzen hätte ich fast wieder nach meinen schwarzen Klamotten gegriffen - doch dann raffte ich mich auf und wenige Augenblicke später stand ein dunkelhaariges Mädchen vor meinem Spiegel dass ich kaum wiedererkannte. Unter dem weißen Top trug sie ein lila geblümtes, eigentlich Bauchfreies  schulterloses Oberteil und eine Dreiviertel-Jeans in kräftigem Blau mit einem braunen, geflochtenen Gürtel.

Wow. Die Klamotten standen mir wirklich gut. Und dass die Jeans eigentlich mal länger war, fiel gar nicht auf.

Als nächstes fand ich sogar noch eine getönte Gesichtscreme und schwarze Mascara, zwar vor knapp zwei Jahren das letzte Mal benutzt worden, aber immer noch okay.

Und kaum hatte ich wieder in den Wandspiegel geschaut, erschrak ich heftig. Viele in meinem Alter fanden sich nicht hübsch, oder sagten es nie, weil es vielleicht eingebildet herüberkam. Aber ich fand mich wirklich hübsch.

Die Creme deckte wirklich alles, von meinen unzähligen Pickeln bis zu den dunklen Augenringen. Mein Gesicht sah auf einmal völlig anders aus und die Mascara betonte die grünen Augen so sehr, dass sich meine Lippen zu einem Lächeln bogen, das mir ausgezeichnet stand. An all dem konnte man merken, dass mein Selbstvertrauen zurückgekehrt war, denn früher (also noch gestern) war mir egal gewesen, dass man meine Pickel oder so etwas sehen konnte.

Ich war ziemlich überrascht als ich auf meinem Wecker sah, dass ich für all das nur zwanzig Minuten gebraucht hatte. Jetzt konnte ich noch überlegen, was sich mit meinen Haaren machte. Sie hangen noch ein wenig feucht vom Duschen herunter und konnten sich nicht entscheiden, ob sie glatt oder gelockt werden sollen.

Ich beschloss mit einem Glätteisen nachzuhelfen. Meine Mom hatte mir vor ein paar Jahren mal die Haare geglättet und ich hatte sie angebettelt es öfter zu machen weil es einfach so wunderschön aussah. Doch dann mussten wir umziehen und irgendwie hatte ich di Lust verloren, mich ein wenig zu schminken oder die Haare zu glätten.

Hoffentlich bekomme ich das hin, dachte ich mit klopfendem Herzen und glühenden Wangen, als ich im Bad stand und das Glätteisen – zum allerersten Mal – in der Hand hielt.

Als es die Temperatur erreicht hatte, entschied ich mich spontan – wer hätte gedacht, dass ich spontan sein konnte – um. Ich nahm ich die lange Haarsträhne meines Ponys, wickelte sie um das Glätteisen und zog es langsam herunter. Als ich die Strähne losließ, sprang sie in einer schönen, welligen Locke nach oben.

So machte ich bei allen Haarsträhnen weiter und nach ungefähr eine Viertelstunde erkannte ich mich selbst nicht wieder. Im Spiegel erkannte ich meine Mutter wieder: Locken, schmales Gesicht mit vorsichtigem, aber entschlossenem Lächeln und herausfordernden, grünen Augen.

Doch noch während ich mich darüber freute, machte mir der nächste Gedanke alles wieder kaputt. Beim Duschen hatte mich wieder dieser dunkle Schatten erfasst und ich hätte vor Angst beinahe geschrien.

Und ich konnte es mir nicht durch die weisen Bücher in unserem Keller erklären.

 Je mehr ich dort über die Schmetterlingsmenschen gelesen hatte, umso leichter war mein Herz geworden, um das sich tausende zentnerschwere Steine gelegt hatten. Und dennoch gab es Dinge, die immer noch im Verborgenen blieben.

Über den Schmetterlingsring, die Angst vor dem Wasser und den plötzlichen, unkontrollierbaren Verwandlungen hatte ich nichts finden können oder war noch nicht dazu gekommen.

Doch ich wusste, wer ich war und wozu ich imstande war. Mithilfe der Bücher hatte ich es geschafft, die Flamme auf meiner Hand zu löschen. Ich hatte es mir schwer vorgestellt, doch ich musste mich lediglich auf die Hitze konzentrieren und sie in Gedanken erloschen lassen. Es schein noch zahlreiche weitere Fähigkeiten zu geben, mit denen man sich helfen oder verteidigen konnte, doch ich hatte meine Neugierde zurückgehalten und in die anderen Bücher gelesen. Weil ich es aber kaum ausgehalten hatte, meine müden, vom licht brennenden Augen noch weiter zu strapazieren, hatte ich das relativ dünne Buch über die Kräfte sowie der Band über die Winterschmetterlinge und der Prophezeiung mitgenommen.

Die Gänsehaut, die ich bekommen hatte, als ich die Textstelle über sie gelesen hatte, kehrte wieder zurück.

Der Grund dafür war ein neugeborener Schmetterlingsmensch, aufgewachsen bei Menschen.

Konnte das bedeuten, dass meine Eltern gar nicht meine Eltern waren? Ich wollte ich daran denken und tat es dennoch. In diesen ganzen Filmen über Adoptionen und Lügen hatte ich immer mit den Menschen mitgefühlt, die erfuhren dass ihre Eltern sie von ihrer Geburt an belogen hatten. Wahrscheinlich weil ich mir absolut sicher war, dass meine Eltern mich niemals belügen würden, was so etwas anging. Noch nie waren Zweifel aufgekommen, dass sie nicht meine leiblichen Eltern waren.

Und jetzt? Jetzt waren diese kleine Biester da.

Ich straffte die Schultern und dachte an etwas anderes.

Meine nächste Verwandlung müsste gegen vier stattfinden. Ich hoffe, dass ich bis dahin auf den Feldern sein würde. Ich konnte es nicht noch einmal riskieren, mich in der Schule zu verwandeln. Nach ein paar Verwandlungen, die ich vor drei Jahren immer in meinem Tagebuch notiert hatte, konnte ich ausrechnen, wann sie jeden Tag stattfinden würden.

Meine erste Verwandlung war gegen halb drei gewesen, tags darauf um drei Uhr. Jeden Tag hatte sie sich um eine halbe Stunde verspätet, bis sie am siebten Tag wieder um halb drei stattgefunden hatte. Ich war froh, immerhin diese Gewissheit zu haben und nicht jeden Tag ins kalte Wasser springen zu müssen.

Im Herbst waren die Verwandlungen seltener geworden. Drei, viermal in der Woche. Letzten Winter hatte ich mich nur ein einziges Mal verwandelt. Es waren nur die Schmetterlingsflügel erschienen und zum ersten Mal waren sie bläulicher geworden.

Sollte ich stolz darauf sein, mich in einen Schmetterling verwandeln zu können? Wenn diese höllische Schmerzen und die ganze geheimnistuerische Geschichte darüber nicht wäre, könnte ich es vielleicht sein. Vielleicht.

Um mich von meinen rasenden Gedanken abzulenken, die mich schon die ganze Nacht beschäftigt hatten, ging ich mit meiner Schultasche nach unten ins Wohnzimmer.

Mom stand noch in der Küche und bereitete ein Spiegelei zu. »Morgen, Mom!«, rief ich und war überrascht über den fröhlichen Ton in meiner Stimme. Ich sollte nicht fröhlich sein, wenn es keinen Grund dafür gab. Noch wusste ich nicht alles, um mir das zu erlauben.

Die roten Locken flogen in alle Richtungen, als sie sich blitzschnell  umdrehte. Bestimmt, weil sie bereits an meiner Stimme gemerkt hatte, dass etwas anders war.

Als sie mich sah, wurden ihre Augen groß. Dann rannte sie auf mich zu und schlang ihre Arme um mich, dass mir fast die Luft wegblieb. »Lenaya, du siehst bezaubernd aus! Ich wusste, dass die Schwarzphase aufhören wird.« Sie seufzte erleichtert und lächelte selig. Ich konnte nicht anders, als dasselbe zutun.

Zum Glück fragte meine Mutter nicht, warum die ‚Schwarzphase‘ beendet war und ich war ihr dankbar dafür.

Wir setzten uns und frühstückten. Zu meiner Überraschung hatte ich einen recht großen Appetit.

Meine Gedanken glitten immer wieder zu den Büchern aus dem Keller in meiner Tasche und in meinen Fingern brannte es, sie zu lesen und mehr zu erfahren. In seiner eigenen Geschichte, seiner eigenen Vergangenheit zu lesen war beängstigend, doch irgendwie auch… cool.

Man merkt, dass ich zu wenig geschlafen habe.

Meine Mutter summte vergnügt bei einem Lied mit, welches im Radio auf dem Tisch vor sich hin dudelte und schlug die Zeitung auf. Meine Lippen bogen sich zu einem Lächeln, als ich sah, wie glücklich sie aussah.

Doch dann verschluckte ich mich  an meinem Toast, als ich die Schlagzeile auf der hinteren Seite las. »Schmetterlingsschatten fordern neue Opfer – Sind sie nur Einbildung?«

Aufgeregt versuchte ich nach Luft zu schnappen, was mir der Toast in meiner Luftröhre aber erschwerte. Hustend und keuchend wedelte ich mit meinen Händen herum und wollte dabei noch etwas sagen.

Mom warf mir einen beunruhigten Blick zu, beugte sich kurzerhand zu mir und schlug mir kräftig auf den Rücken.

Erleichtert atmete ich die Luft ein. »Danke, Mom.«

»Dieses Aufgeregte passt gar nicht zu dir«, meinte meine Mutter nur und lächelte schief. Was sie wohl über mich dachte?

Die Zeitung lenkte mich wieder ab. Meine Zehen verkrampften sich bei dem Gedanken, um was es in dem Artikel ging.

»Ähm, kann ich… kann ich die Zeitung kurz haben?«, stotterte ich mit erschrockenem Gesicht herum und kam mir total dämlich vor.

»Klar doch.«

Meine Finger lechzten nur so nach dem Zeitungspapier. Gespannt glitten meine Augen über die Zeilen und mir wurde immer schlechter, je mehr ich las.

Im Fall Schmetterlingsschatten wurden jetzt zwei weitere junge Frauen schwer misshandelt. Die Kriminalpolizei sowie zahlreiche Wissenschaftler stehen vor einem Rätsel: Bildeten sich die bisher fünf Opfer die Schmetterlinge nur ein, die sie als Schatten gesehen haben? Oder gibt es sie wirklich?

Die Polizei geht von einem Serientäter aus, der immer dieselben Methoden anwendet. Wieso, ist unklar.

Wissenschaftler und Parapsychologen glauben an ein Phänomen, das sich in dieser Art noch nie gezeigt hat. »Wenn die Frauen jedes Mal einen Mann als Schatten gesehen hätten, okay, aber Schmetterlinge? Ich glaube, wir erleben hier etwas Unglaubliches«, meint ein Parapsychologe.

Außerdem warnen sämtliche Polizeistellen sowie die Stadtverwaltung alle 16 bis 18-jährigen Frauen mit dunklen, langen Haaren und grünen Augen, sich draußen nicht alleine aufzuhalten. Alle fünf bisherigen Opfer hatten dieses Aussehen, man kann davon ausgehen, dass der oder die Täter nach einer bestimmten Person suchen.

 

Zwei weitere Opfer. Zwei verdammte weitere Opfer wegen mir. Die Erkenntnis war mir wie ins Gehirn gebrannt und schien dort fest zu sitzen wie eine Schraube. Aber irgendwie war dabei etwas anders. Es war nicht die Angst, die meine Arme mit einer Gänsehaut benetzte. Es war die pure Wut und Entschlossenheit, endlich alles herauszufinden.

Diese komischen Journalisten hatten natürlich wieder nur wild spekuliert. Doch genaueres über die fünf Frauen hatten sie nicht gebracht. Aber was solls. Ich würde mich in der Nachbarschaft umhören, wo über alles getratscht wurde und herausfinden, wie die Mädchen heißen. Vielleicht konnten sie sich an irgendetwas erinnern, etwas, dass ich gebrauchen konnte. Eine verrückte Idee, aber immerhin etwas.

Meine fieberhaften Gedanken ratterten und ich biss mir nervös auf der Lippe herum. Kaum hat man ein paar der Fragen beantwortet, tauchen schon wieder neue auf.

»Lenaya? Was hast du denn?«, fragte Mum besorgt und ließ das Besteck in ihre Hand sinken. Ihre Augen glitten über mein Gesicht, als wolle sie in jeder einzelnen Regung etwas herauslesen.

Mom war misstrauisch. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Sein eigenes Kind war ständig still, hatte Angst vor Wasser, lief nur in Schwarz herum und ließ nicht mit sich reden. Jetzt war es seinem Alter entsprechend angezogen, redete mehr und wirkte lebhafter.

Und von einem Schlag auf den anderen wurde es wieder zu dem stillen, ängstlichen Mädchen.

Noch bevor ich überhaupt nachdenken konnte, was ich antworten solle, sah Mom auf einmal völlig erschrocken aus. Sie schnappte sich die Zeitung und las das, was mich in diesen Zustand versetzt hatte.

Auch ihr Gesicht fiel in sich hinein, je mehr sie davon las. Sie knallte die Zeitung vor sich auf den Tisch. Dabei zitterten ihre Finger.

»Oh Gott«, flüsterte sie hilflos und presste die Hand auf ihren Mund. »Ich… ich habe davon gelesen, aber nicht, dass sie so aussehen wie du...«

Sie sprang so abrupt vom Suhl auf das er mit einem krachenden Geräusch auf den Boden polterte. Ich zuckte nicht zusammen. Doch ich musste die Tränen mit aller Macht unterdrücken.

Man konnte zum ersten Mal seit gefühlten tausend Jahren wieder an meinem Gesicht erkennen, wie ich mich fühlte. Ich hatte mich Mom gegenüber immer verschlossen, hatte auf ihre Frage, ob alles okay mit mir war, unbeschwert gelächelt.

Und jetzt? »Ich habe Angst, Mom.« Mein Flüstern war so leise wie das Rauschen des Windes, und dennoch hörte es sich lauter an als alles andere auf der Welt.

Meine Mutter stand da wie angewurzelt, ihr Blick glitt in die leere, sie keuchte schwer. »Ich… bringe dich zur Schule. Und hole dich wieder ab. Bleib bitte nie alleine draußen. Wir kriegen das schon hin«, hauchte sie verstört und versuchte mich anzulächeln.

»Ja«, flüsterte ich lächelnd zurück und schloss die Augen. Dennoch drangen die kalten Tropfen hindurch und rannen mir die Wangen herunter.

Was eine Nacht alles verändern konnte. Ich hatte zwar nicht alles erfahren, doch je mehr ich gelesen hatte, umso mehr wurde mir bewusst, dass ich für all das stark sein musste. Mutig. Einfach… so wie früher.

Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht, atmete tief durch und stand auch auf.

Dann schlang ich meine Arme um Moms knochigen Körper, schmiegte mich an sie und genoss die Wärme, die sofort durch mich strömte.

»Meine Kleine«, flüsterte Mom liebevoll in mein Haar und ich meinte, einen leisen Schluchzer zu hören, der nicht von mir war.

Verdammt. Verdammt. Verdammter Mist.

Meine Brust bebte, in mir herrschte ein solcher Druck, der nur durch Worte gelöst werden konnte. Worte, in denen ich Mom über die Schmetterlingsmenschen und mich erzählte. Über all die Ängste, Befürchtungen und Gedanken in mir.

Doch ich konnte mich zusammenreißen. Ich musste. Wenn ich etwas in all diesen verzweifelten Momenten gelernt hatte, dann, dass ich mich zusammenreißen musste. Wie konnte ich meiner Mutter etwas zu erzählen versuchen, wenn ich mir selbst nicht darüber im Klaren war? Sie würde mich für völlig gestört halten. Wenn sie es nicht schon tat. Was ich ihr nicht übel nehmen würde.

Trotzdem sehnte ich mich danach, jemandem einfach all meine Sorgen auszuschütten. Was musste das für eine Erleichterung sein!

Ich dachte so viel über Mom nach, dass ich die Außenwelt wie in einem Schleier an mir vorbeiziehen sah. Sie löste sich von mir, sagte etwas und ging in den Flur, wo sie sich Jacke und Schuhe anzog. Ich tat es ihr gleich und schulterte meine Tasche. Dann verließen wir das Haus.

Draußen wurde alles wieder klar. Die Luft roch herrlich frisch nach Regen, trübe Wolken machten den blauen Himmel unsichtbar und dennoch sprossen die Blüten aus den Büschen und Bäumen.

War es bei mir auch so? Konnte ich nach all dem Gewitter, noch all dem Sturm, wieder weiterblühen? Ich wusste es nicht.

Tatsache war, dass ich die Natur vermisste. All die Stunden, in denen ich über mich nachgedacht hatte, hatte ich drinnen verbracht. Ein Fehler, wie mir jetzt auffiel.

Mein Mund stand offen und ich blieb in der Einfahrt stehen, beobachtete zwei Vögel, die frei und leicht über die Baumkronen flogen. Ich musste sofort an meine Flügel denken.

»Lenaya, hast du alles?«, riss mich Moms sanfte Stimme aus der Träumerei.

Ich drehte mich zu ihr um, die mich forschend ansah.

»Ja, ja«, antwortete ich hastig und griff aus Gewohnheit an meinen rechten Ringfinger, um an meinem Ring zu drehen. Er war nicht da.

Fassungslos starrte ich auf meine Hände. Ich hatte ihn vergessen. Einfach vergessen. Das war noch nie geschehen. Er war ein Teil von mir.

Tja, Lenaya, von wegen ‚Ich kann nicht ohne ihn‘. Guter Witz.

Aber wieso ließ es mich kalt, ihn nicht auf meinem Finger zu spüren? Was passierte, wenn ich ihn nicht trug?

Ich schaute zu Mom und setzte ein unbekümmertes Lächeln auf. »Gehen wir!«

Meine Mutter  hätte sich wundern sollen, dass ich nach der Schmetterlingsschatten-Sache so lächelte. Aber sie schein zu merken, dass ich mich davon nicht unterkriegen ließ. Das tat ich wirklich.

Kapitel 15

Anderer Ort, andere Probleme.

Vor dem Schultor sah ich Hailey. Meine... Ehemals beste Freundin. Sie tratschte munter mit einem Mädchen, das ebenfalls rot gefärbte Haare besaß. Ein Stich in mein ohne hin schon zerstückeltes Herz.

Aber was die ganze Schmetterlingsgeschichte anging, war sie mein kleinstes Problem. Es dürfte doch nicht so schwer sein, sich mit ihr zu versöhnen!

Diesen Satz sagte ich im Stillen vor mich hin, als ich mit schweißnassen Händen auf sie zulief.

»Hi«, begrüßte ich sie zögerlich, versuchte aber einen festen Ton in meine Stimme zu legen.

Die beiden Mädchen hörten auf zu reden. Sie richteten ihre Augen auf mich – das fremde Mädchen neugierig, Hailey erstaunt. Die Schminke. Die Klamotten.

In ihren Augen blitzte so etwas wie Trauer.

Hailey verzog das Gesicht und drehte sich wortlos um, um wegzulaufen. »Warte!« Ich packte sie am Arm.

»Bitte, Hailey«, flehte ich verzweifelt, als sie mich ausdruckslos anstarrte. »Lass uns in Ruhe reden. Ich… ich kann dir nicht alles erzählen, aber zumindest einen Teil. Bitte! Ich halte es nicht mehr aus…«

Ich merkte schon, dass mein Gerede nichts brachte. Meine Freundin drehte sich zu dem rothaarigen Mädchen neben sich um, und bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, uns alleinzulassen.

Hoffungsvoll biss ich mir auf die Lippe. Was würde jetzt kommen?

Hailey seufzte tief. Sie warf sich die Haare nach hinten und verschränkte die nackten Arme. »Pass auf, Lenaya. Ich… verzeihe es dir, dass du einfach gegangen bist bei dem Casting, ohne etwas zu sagen. Aber… ich kann es einfach nicht ertragen, dass du mir etwas verschweigst. Lange genug habe ich es mitgemacht. Aber jetzt…« Sie holte tief Luft und fuchtelte hilflos in der Luft herum. »Jetzt geht es einfach nicht mehr. Wieso erzählst du es mir nicht? Vertraust du mir nicht?« Sie schein keine Antwort zu erwarten. Ihr Blick hatte sie bereits verraten: Hailey war nicht mehr sauer. Sie war nur bitter enttäuscht von mir.

Der Wind drang durch meine Jeansjacke hindurch und ließ mich frösteln. Ich unterdrückte ein Niesen, stopfte meine Hände in die Jackentaschen und wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie hatte Recht. Ich vertraute ihr nicht.

Das war es. Das war es schon immer gewesen. Ich hatte mir von Anfang an eingeredet, ihr zu vertrauen, aber wieso erzählte ich ihr dann nicht von mir?

Jetzt, wo Hailey es selbst ausgesprochen hatte, war es mir klar geworden. Ich liebte sie wirklich wie eine Schwester, ich fühlte mich bei ihr geborgen, doch ich konnte ihr nicht vertrauen. Wieso?

Musste ich wirklich selber erst einmal Klarheit schaffen, mir selbst vertrauen zu lernen?

»Es tut mir leid«, flüsterte ich verzweifelt und schloss kurz die Augen, um über meine nächsten Worte nachzudenken. »Ich kann dir nicht vertrauen, wenn ich mir nicht vertrauen kann. Ich… werde dir alles erzählen. Das schwöre ich. Nur nicht jetzt.«

Ein letztes Mal sah ich sie an. Die großen, lilafarbenen Augen die verdächtig glänzten, die knallroten Lippen, die zitterten. Ihr fiel dieser Abschied auch nicht leicht.

Sowohl in mir drin als auch auf meiner Haut herrschte eine eisige Kälte. Ich schluckte schwer und ließ meine beste, meine ehemals beste Freundin vor dem Schultor stehen.

 

»Auf so einen Kerl würde ich mich gar nicht erst einlassen. Der hatte doch bestimmt schon hunderte Freundinnen.«

Eine kurzhaarige Blondine gestikulierte wild und stieß dabei fast die Cola um, die auf dem orangen Cafeteria-Tisch stand.

»Er ist aber totaaal heiß!«, schwärmte eine Braunhaarige aus der achten Klasse am Nebentisch. Sie bekam sofort Zustimmung von allen Seiten. Naja, außer von mir natürlich.

Wenn meine Gedanken sich nicht ausschließlich  über Hailey drehen würden, hätte ich vielleicht nachgehakt, über wen die Rede war.

Es schmerzte so sehr, sich nicht mit ihr zu versöhnen. Es erinnerte mich an einen Teil meiner schmerzhaften Verwandlung, der Teil, in dem der brennende Schmerz in alle Zellen meines Körpers drang. In dem mein Brustkorb bei jeder kleinen Bewegung oder Atemzug in Tausend Splitter zersprang, die alle in mein Herz stachen.

Wie lange mochte ich das noch durchhalten? Bis ich dann doch weichwurde und ihr mein… nun ja, wahres Ich zeigte? Ach verdammt. Mein ganzes Leben schien aus Fragen zu bestehen, von denen ich nur ein paar Antworten kannte.

Meine Finger griffen nach den Pommes Frites und ich kaute gelangweilt auf einer herum. Dass mir mein Lieblingsessen nicht schmeckte, war alarmierend. Aber ich beachtete es nicht.

Stattdessen hörte ich auf, Hailey mit zusammengekniffenen Augenbrauen zu beobachten, raffte meine Sachen und ging in die Schulbibliothek im 2. Stock.

Um die Mittagszeit war hier absolut nichts los, selbst der junge, freundliche Bibliothekar schien sich eine Pause zu gönnen.

Perfekt.

Ich schlich zielstrebig auf die großen Bogenfenster zu, auf deren breiten Fensterbrettern man wunderbar lesen konnte.

Ein Blick nach draußen verriet mir, dass das Wetter sich besserte. Hier und da konnte ich zwischen den dicken Wolken den blauen Himmel erkennen und die Nässe des Bodens schien allmählich in die Erde zu sickern.

Zwar merkte ich, wie sehr mich die Natur wieder einmal ablenkte, doch ich ließ es zu. Ein wenig vor mich hinzuträumen hatte ich mir wegen den Strapazen der letzten Tage wirklich verdient.

Eine wohlige Wärme durchströmte mich, als ich mich auf einer Wiese voller Blumen sah. Es war angenehm warm und dennoch strich mir ein frischer Wind die Haare aus dem Gesicht.

Ich bückte mich nach einer zartrosa, mir unbekannten Blume und roch an ihr. Eine Mischung aus Erdbeere, Vanille und Lavendel.

Im nächsten Moment sah ich einen grünen Schmetterling auf jener Blume sitzen. Die langen Fühler streckten sich nach dem Innersten der Blume und ich konnte den Geruch auf einmal auf meinen Lippen schmecken…

Erschrocken riss ich die Augen wieder auf. Ich konnte mein Herz pochen hören, so schnell wie nach einem Marathonlauf.

Kaum dachte ich an die Natur, sah ich sofort einen Schmetterling vor mir. Das war ja schon krankhaft.

Vielleicht habe ich einfach zu wenig getrunken heute, überlegte ich und holte eine fast volle Wasserflasche auf meiner Schultasche heraus.

Der dunkle Schatten schoss auf mich zu, doch genau dann, als er mich treffen sollte, strich er nur an mir vorbei. Die Angst war verschwunden.

Ich trank vor Freude beinahe die ganze Flasche leer. Meine Lippen bogen sich zu einem Lächeln. Ich wusste  nicht wie ich es geschafft hatte, aber irgendwie hatte ich die Angst vor dem Wasser… unterdrückt. Vielleicht habe ich jetzt ein Problem weniger?

Und meinem Gehirn weitere verrückte Spekulationen zu verbieten, griff ich nach dem dünnen Band aus der Bibliothek im Keller.

In dem Buch ‚Die Verteidigungskräfte‘ stand sicherlich auch etwas über die Verwandlung in einen Schmetterlingsmenschen. Ich wollte endlich wissen ob es jedem Schmetterlingsmenschen so ging wie mir. Dass er sich jeden Tag um dieselbe Uhrzeit verwandelt, ohne etwas dagegen zu tun.

Auf meiner Lippe herumkauend und immer wieder horchend, ob jemand kam, blätterte ich durch die teilweise vergilbten Seiten des Buches und überflog hastig die Zeilen. Leider gab es kein Inhaltsverzeichnis und so musste ich mich wohl oder übel durch alle Seiten suchen.

Viele der Überschriften und Texte klangen total interessant und meine Augen lechzten nach mehr, doch ich verbot es ihnen. Meine Zeit war begrenzt. Ich musste mich auf eine Sache konzentrieren, um kein erneutes Durcheinander aus Fragen und Antworten in meinem Kopf auszulösen.

Nach ein paar Minuten hatte ich endlich eine Überschrift entdeckt, die mir mehr über die Verwandlung sagen konnte: Ablauf der Verwandlung in einen Schmetterling

Ich stieß die Luft aus, die ich vor Aufregung und Spannung angehalten hatte und lächelte.

Frühlingsschmetterlinge

Das Schicksal aller Frühlingsschmetterlinge ist, unendlich starke Schmerzen bei ihrer Verwandlung zu haben. Während die Herbstschmetterlinge lediglich bei der Rückverwandlung Probleme haben, trifft es diese Spezies am Schlimmsten.

Manche berichten von Schlägen, die auf sie einprasseln, andere von brennenden Flammen, die in sie eindringen.

Die meisten Frühlingsschmetterlinge spüren bereits ein paar Stunden zuvor ein Kribbeln in ihrem Körper. Dann treten die Schmerzen ein und die Betroffene kann sich nicht mehr bewegen, kaum atmen und verliert den Boden unter den Füßen. Sie verdoppelten sich bis zum sogenannten ‚Höhepunkt‘, in dem die eigentliche Verwandlung stattfindet. Sie geht innerhalb von Sekunden von dannen. Als Schmetterling kommt einem die Welt viel größer vor, doch man sieht alles gestochen scharf. Es ist sehr ungewohnt und unangenehm, seine Beine nicht zu spüren, sowie sein Gesicht, nur das Schlagen der Flügeln unter Kontrolle zu haben, das wie von alleine geht. Weil es sich so seltsam anfühlt, bleiben die meisten Frühlingsschmetterlinge nur ein, zwei Minuten in diesem Zustand, ehe sie sich von alleine zurück in einen Menschen transformieren.

Die Rückverwandlung ist ebenfalls sehr schmerzhaft, dauert aber nur wenige Sekunden.

Im Winter können sie sich nicht verwandeln.

 

Ich wischte mir die vor Aufregung schwitzenden Hände an meinen Jeans ab. Das war es doch schon nicht, oder?

Nein, auf der nächsten Seite ging es weiter. Angespannt atmete ich durch.

Da hörte ich auf einmal Schritte. Ertappt riss ich den Kopf hoch.

Die Schritte mischten sich mit lachenden Stimmen und sie kamen näher.

Mein Mund stand vor Schreck offen und ich spannte  all meine Muskeln an, während ich in der Bewegung, umzublättern innehielt und auf die geschlossene Eingangstür der Bibliothek starrte.

Im selben Moment fragte ich mich, wieso ich das tat. War doch nichts dabei, in der Bibliothek etwas zu lesen. Doch dann spürte ich, dass ich das Buch über die Schmetterlingsmenschen schützen wollte. Mich. Ich wollte mein Geheimnis hüten.

Wieso ich es nicht einfach schnell in meinen Rucksack einpackte? Dafür gab es drei Gründe:

Erstens könnte es sein, dass man mich dabei hören konnte. Zweitens befürchtete ich, total ertappt auszusehen, falls jemand hereinkäme. Und drittens konnte ich mich vor Schreck nicht einmal richtig bewegen. Ich muss das mit dieser Schockstarre echt mal in den Griff bekommen.

Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, als es wieder still wurde.

Ich tat so etwas wie Lachen, aber eher über mich selbst als darüber, dass niemand hereingekommen war.

Also widmete ich mich wieder dem Buch und las gierig weiter.

 

Diese Schmerzen und unkontrollierte Verwandlungen hören bereits nach ein paar Tagen auf. Es gibt sogar Mittel, die die Schmerzen angeblich von Beginn an stoppen sollte, doch man sollte solchen Medikamente nicht vertrauen, da sie schwere Folgeerscheinung, zum Beispiel ein Dauerzustand als Schmetterling, hervorrufen könnten.

 

Winterschmetterlinge

Sie verspüren bei ihren Verwandlungen (außer sie sind verletzt) keinerlei Schmerzen, verwandeln sich jedoch unkontrolliert.

Ich war gerade so vertieft, als mich das Quietschen einer Tür ruckartig aus den Gedanken riss.

Mit absolut allem hätte ich gerechnet, sogar mit Hailey, aber nicht damit.

Kapitel 16

In meine Füße schosse eine eisige Kälte, die langsam weiter in die Beine hinaufkroch. Gleichzeitig fingen meine Wangen an, brennend zu glühen. Mein Mund hatte sich wie von alleine zu einem überraschtem O geformt, als ich ihn sah.

Obgleich die Panik meine Gedanken lahmlegte, erstarrte ich nicht.

Meine Augen wanderten zu dem Buch in meiner Hand und mit einer hastigen Bewegung ließ ich es in meiner Tasche verschwinden, ebenso schnell sprang ich auf.

Die eisblauen Augen hatten jede kleine Bewegung und Reaktion beobachtet. Sie schienen an meinen Augen zu hängen, gierig und bedrohlich.

Ungefähr fünf Meter vor mir stand er. Der Typ mit den eisblauen Augen. Der… Winterschmetterling.

Mein Herz hämmerte schwer gegen meinen Brustkorb, das Adrenalin pumpte sich in all meine Körperzellen, nur das Herz schlug unbedenkt langsam weiter.

Es kostete mich einiges an Kraft, dem bohrenden Blick meines Gegenübers standzuhalten. Es war, als läge darin etwas, das meine gesamte Energie erdrücken würde.

Dieser Moment voller innerlicher Panik und Angst dauerte nur ein paar Sekunden, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit.

Denn nach diesen Sekunden schrie es in meinem Gehirn: Lenaya, lauf! Tu, was du am besten kannst und versuche, irgendwie von hier wegzukommen! Er ist dein FEIND!

War es richtig, einfach zu flüchten wie bei unserer ersten Begegnung? War das Weglaufen wirklich das, was ich am besten konnte? War er wirklich mein Feind?

Der schreiende Gedanke war stärker. Ich schulterte ganz langsam meine Tasche, während ich ihn nicht aus dem Auge ließ. Er hatte die Arme verschränkt und sein Blick war nicht mehr so intensiv.

Dann ging ich ganz langsam auf ihn zu. Jetzt brach der Schweiß in mir aus.

Man musste sich das wirklich klarmachen. Ich lief gerade auf meinen Feind zu!

Ruhig bleiben, ermahnte ich mich. Ich konnte nur so entkommen. Wenn ich jetzt losrennen würde, hätte ich keine Chance. Eigentlich hatte ich so oder so keine Chance, eine winzig kleine vielleicht. Hoffnung stieg in mir auf, doch ich unterdrückte sie.

»Lenaya.« Seine Stimme war tief, aber voller Wärme. Das irritierte mich noch mehr. Ein Versuch, mich zu locken vielleicht? Er ging nun auch mit langsamen Schritten auf mich zu.

Die Stoffsneaker hinterließen auf dem Holzboden lediglich ein leises Platschen, aber jeder Schritt bedeutete mehr Gefahr.

Oh Gott, was tue ich hier bloß?

Nun standen wir uns gegenüber, zwischen uns vielleicht drei, vier Schritte Abstand.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er mit fester Stimme. Sie klang in meine Ohren jedoch nicht verführerisch, sondern ernst.

Ein letztes Mal holte ich tief Luft und wandte meinen Blick von ihm, seinem perfekten Gesicht und seinen Augen ab.

Dann rannte ich los. Ich rannte, als sei der Teufel hinter mir her, so schnell wie ich nur konnte.

All meine Konzentration lag auf meinen Schritten. Vor mir war die Tür. Als hätte ich einen Schlag bekommen zuckte ich zurück.

Er hatte sie geschlossen. Zitternd legte ich meine Finger auf kalte Klinke. Herunterdrücken.  Schnell.

Einen Spalt vom Gang konnte ich bereits sehen. Ein Spalt Freiheit. Doch die Hand auf meinem Unterarm verriet etwas anderes.

Sie zwang mich, mich umzudrehen. Ergeben ließ ich die Schultern sinken.

Sein Lächeln war sehr klein, aber deutlich genug, um mir zu sagen: Du hast so was von versagt.

Er ließ meinen Arm jedoch nicht los. Sein Griff war beinahe sanft, aber auch nicht angenehm. Seine Hände waren warm, dennoch breitete sich eine Gänsehaut auf meinen nackten Armen aus.

Ich versuchte erst gar nicht, mich aus dem Griff zu befreien geschweige denn etwas zu sagen.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, wiederholte er. Sein Gesicht kam näher und gab mir eine Möglichkeit es zu betrachten. Die blauen Augen waren von langen, dunklen Wimpern umrahmt, die Lippen hell und schmal, die Haut braun gebrannt. Er sah aus wie ein Südländer, doch die sehr ungewöhnlichen eisblauen Augen zerstörten die Illusion.

Mit einem Mal war die Angst verschwunden. Je länger ich ihn anschaute, umso ruhiger wurde ich. Mein Herzschlag, welcher so schnell gepocht hatte, dass es beinahe wehtat, verlangsamte sich. Die Gänsehaut verschwand, eine wohlige Wärme schoss in mich, die meine panischen Gedanken und Gefühle zu erdrücken schien. Zuerst kämpfte ich dagegen  an, aber sie war stärker. Als ich losließ, fühlte ich mich wie neugeboren.

Ich sah, wie sich in dieser Zeit Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet hatten und er angestrengt die Stirn runzelte. Seine Hand ließ meinen Unterarm los und in diesem Moment waren die Gedanken wieder da, doch noch immer fühlte ich die wohlige Wärme, die mich beruhigte und gegen die ich nichts tun konnte.

»Was tust du da?«, fragte ich mit rauer Stimme, die sich völlig ausdruckslos anhörte.

Er richtete sich auf, atmete tief durch und wischte sich die Stirn. »Du müsstet doch alles über uns wissen, oder?« Er deutete auf meine Umhängetasche, die noch geöffnet war und man die drei verstaubten Bücher über die Schmetterlingsmenschen sehen konnte.

»Scheinbar weiß ich noch lange nicht alles!«

Diese erdrückende Wärme ließ allmählich nach und ich spürte, wie sich mein ausdrucksloses Gesicht wütend zusammenzog. Endlich wieder Kontrolle über mich zu haben nach diesem komischen Moment, fühlte sich gut an. Lediglich die Ruhe war noch da.

Er runzelte wieder die Stirn, doch es sah eher besorgt aus. Trotzdem ging ich unauffällig einen Schritt nach hinten, den Türrahmen in meinem Rücken.

»Du kannst mit diesen Büchern doch nicht in der Schule herumlaufen, jeder sieht sie und stellt Fragen!«, sagte er aufgebracht und ging nicht auf meine Bemerkung ein.

»Siehst du hier jemanden?« Ich konnte es mir einfach nicht gefallen lassen, mich blöd von ihm anmachen zu lassen. Wollten die Winterschmetterlinge mich nicht selbst zu einem machen? Wieso tat er es dann nicht? War es vielleicht gar nicht ihr Ziel, hatten die Bücher und Emalia Unrecht?

Er stöhnte genervt und zerrte mich unsanft von der Tür weg. »Du hast echt keine Ahnung von Schmetterlingsmenschen, oder?«

Was auch immer der Typ mit mir gemacht hatte, die Angst war völlig verschwunden. Ich konnte ganz locker kontern, ohne Anspannung, völlig frei. Es war ein herrliches Gefühl, etwas ungewohnt, aber toll. Denn hätte ich Angst, hätte ich erst gar nicht mit ihm gesprochen und sofort auf einem passenden Moment für einen zweiten Fluchtversuch gewartet. Zugegeben, ich wollte noch immer schnellstmöglich von hier weg, aber viel wichtiger war jetzt: »Wer bist du überhaupt und was willst du von mir?«

Mein Tonfall war aufbrausend und rebellisch. Zwei Worte, die absolut nicht zu der schüchternen Lenaya passten. Aber was das Reden mit einem Feind anging, durchaus praktisch. Oh ja, ich fühlte mich viel sicherer. Aber der gesamten Situation und vor allem diesem Kerl traute ich nach wie vor nicht.

Er öffnete seinen Mund um zu antworten, doch der Pausengong verhinderte es. Schon waren die ersten lachende Stimmen und Schritte zu hören.

»Nicht hier«, zischte er, öffnete vorsichtig die Tür und schaut sich im Gang um. »Komm mit.«

Blieb mir etwas anderes übrig? Ich fühlte, dass sich einige meiner Fragen klären konnten, wenn ich mit ihm kam. Doch wer wusste, dass er mich nicht irgendwo hinführte und mich dort zu einem Winterschmetterling machte?

Ein winziger Gedanke widmete ich Hailey, die sich sicher fragen würde, wo ich war. Dann fiel mir ein, dass wir ja nicht mehr befreundet waren.

Ich ging gerade mit meinem Feind irgendwohin, also lag es ja wohl auf der Hand, dass ich nicht mehr ganz dicht war.

Die Verlockung, Antworten auf meine Fragen zu bekommen war größer als die Tatsache, dass er ein Winterschmetterling war. Ich war mir sicher, dass ich auch mit Angst so entschieden hätte.

Also ging ich mit ihm.

Auf dem Gang tummelten sich viele Schüler, die es eilig hatten, in ihre Klassenzimmer zu kommen. Mir fiel auf, das einige Mädchen stehen bleiben, den Typ neben mir anschauten und sich kichernd und mit roten Wangen etwas zuflüsterten. Er war hier also bekannt. Womöglich war er sogar derjenige, über den die zwei Mädchen am Nachbartisch vorhin geschwärmt hatten. Was bedeutet würde, dass er auf meine Schule ging. Dann würden wir uns zukünftig öfter sehen. Na toll. Nicht einmal in der Schule hatte ich die Chance, der Schmetterlingssache zu entfliehen. 

Impressum

Texte: (c) 2013 Helen Raach -Kopieren verboten!-
Bildmaterialien: http://www.deviantart.com/#/art/Butterfly-Girl-57182751?hf=1 bearbeitet by me ♥
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch Regina Meißner, da sie einen Teil der Geschichte auch schon auf Facebook gelesen hat und mich mit ihren ganzen Kommis immer anspornt, weiterzuschreiben. :)

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