Kapitel 3
Eine kleine Liebe.
Die Scheinwerfer eines Autos leuchteten mich an. Ich sah, wie es auf mich zu fuhr. Ich musste von der Straße, doch meine Beine wollten sich nicht bewegen. Panik ergriff mich und ich suchte meine Umgebung nach Hilfe ab. Plötzlich traf mich der Blick eines Mädchens, das mich schmerzvoll anlächelte, als würde sie sagen wollen, dass dies nicht mein Schicksal wäre…
„Alice, Alice! Bis du noch da? Hallo?“, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Ich bemerkte, dass ich nicht mehr zu hause war.
Verwirrt sah ich mich um und bemerkte, dass Felic vor mir saß.
Sie legte ihren Kopf leicht schräg und sah mich fragend an.
„Es tut mir Leid, ich war mit meinen Gedanken wo anders!“, entschuldigte ich mich schnell und kratzte mich an den Haaren.
„Manchmal, Alice, benimmst du dich wie ein Junge!“,
„Was?“, fragte ich erschrocken und sah sie an. Sie schob ihre Haare sanft zur Seite und legte ihre Hand auf meine. Ich mochte es, wenn sie das tat. Immer wenn sie ihre Haare vom Gesicht schob, sah sie mich mit einem Blick an, der mein Herz zum Rasen brachte. Es ging schon seit einer Weile so. Ich wusste nicht warum. Aber wenn sie mit mir sprach, erinnerte sie mich an jemanden. Ihre Hände fühlten sich schön kühl an.
„Keine Angst. Deswegen musst du dich doch nicht erschrecken. Meine Mutter kam auch vom Land und sie benahm sich auch oft wie ein Junge“, lachte sie. Immer, wenn sie lachte, bekam sie Grübchen. Das fand ich süß. Manchmal wünschte ich, dass ich wieder ein Junge sein würde. Doch wenn es so sein würde, würde sie mit mir immer noch so sprechen wie jetzt? Mir ihr wunderschönes Lächeln zeigen, das mich dahin schmelzen ließ? All
dieser Fragen schossen mir durch den Kopf. Bis ich merkte, das etwas mich stach. Ich packte in meine Hosentasche und zog ein Bild heraus. Jetzt erinnerte ich mich. Nach dem ich erfahren hatte, was mit mir passiert war, kamen meine Erinnerungen zurück, wenn auch nur stückweise. Ich hatte dieses Bild bei meiner Mutter mitgehen lassen. Das war noch das einzige, das mir von meinem früheren Leben blieb. Verkrampft schloss ich meine Augen und legte meinen Kopf auf den Tisch. Mir wurde klar, dass ich nicht zurück gehen konnte. Ich hatte alles verloren, was mir lieb war. Doch nachzutrauern half mir nichts.
„Was ist los?“, fragte die Stimme von Felic mich. Ich spürte, wie ihre Hand durch mein Haar glitt. „Hab ich was Falsches gesagt? Wenn ja, dann tut es mir aufrichtig Leid. Ich wollte das nicht.“ Ich hob meinen Kopf und sah in ihre besorgten Augen. „Es ist nichts!“, sagte ich schnell und wollte das Bild wieder in meine Hosentasche stopfen. Dabei rutschte es mir aber aus den Fingern und fiel zu Boden. Felic hob es auf und
sah es sich interessiert an.
„Das ist nichts!“, sagte ich und griff nach dem Bild. Doch sie wich aus und sah mich grinsend an.
„Das nennst du nichts?“, grinste sie. „Ist das deine Familie. Wer ist der Junge in der Mitte? Der sieht ja richtig niedlich aus!“ Sie legte das Bild auf den Tisch und deutete mit dem Finger darauf.
„Das ist mein Bruder“, sagte ich schnell.
„Dein Bruder? Wusste ich gar nicht, dass du Geschwister hast. Wie auch? Du erzählst ja fast nie über dich!“, seufzte sie und schob mir das Bild zu.
„Ich habe einen Bruder. Er heißt Casper. Das daneben sind meine Eltern. Sie haben mich hier her geschickt, damit ich studieren kann.
Da wir nicht so viel Geld haben, muss ich mir etwas dazu verdienen“, murmelte ich. Als ich zu ihr hinüber blickte, sah ich, wie sie mich anlächelte.
„Also ich habe eine Schwester. Meine Mutter und mein Vater arbeiten im Versuchspital!“, erzählte Felic. In diesem Moment raste mir ein Gedanke durch den Kopf. Das Versuchspital! „Felic, was weißt du über das Versuchspital?“, fragte ich sie.
Erschrocken sah sie mich an. Schnell legte sie ihren Finger an ihre Lippen und ließ sie hin und her gleiten. „Also das Versuchspital ist ein Art Forschungszentrum und ein Krankenhaus gleichzeitig. Doch die Patienten werden dort ausgewählt. Die Hälfte von denen arbeiten für die Regierung. Nachdem sie wiederhergestellten sind natürlich. Du weißt, dass der Fortschritt soweit ist, dass man sagen kann, dass es keine unheilbare Krankheit mehr gibt. Nun, die Regierung legt in letzter Zeit viel Wert auf diese Art von Fortschritt. Wie auch immer. Man hat im menschlichen Körper eine Zelle entdeckt, die es ermöglicht, Körperteile wachsen zu lassen. Das heißt, dass Menschen, die mit der Behinderung leben, keine Arme und Beine zu haben, dieses Problem bald nicht mehr haben werden.“ Ihre großen braunen Augen leuchteten immer, wenn Felic etwas erzählte und ihre Wangen wurden dabei rot. Mit einer eleganten Handbewegung strich sie sich immer wieder ihre Haare aus dem Gesicht. Obwohl sie gegenüber von mir saß, konnte ich den Geruch ihres Haares wahrnehmen. Es roch nach Pfirsich. Immer wieder sah sie mich an, fuhr sich mit ihrer Zunge über die Lippen ...
„Hallo!?“, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. „Hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Alice und sah mich stechend an.
„Ja, ich hör dir zu", antwortete ich verlegen. „Erzähl weiter!“
„Also. Es haben sich auch andere Möglichkeiten durch diese Entdeckung ergeben. Aber das beste, und was ich am spannendsten finde, ist, dass man eine
Möglichkeit gefunden hat, die Toten ins Leben zurück zu holen!“
„Was?“, fragte ich ungläubig.
„Nun, du kennst ja Fälle, in denen Menschen durch einen Unfall ins Koma fallen. Und da die Menschen meist nicht mehr erwachen, hat man eine Möglichkeit gefunden, sie durch eine komplizierte Operation in einen anderen Körper zu verpflanzen, der noch gut erhalten ist.
Allerdings ist das bis jetzt nur Theorie. Ob es klappt, weiß man nicht!“
„Was hast du grade gesagt?“, fragte ich noch mal.
„Na ja, ob das klappt, man weiß es nicht! Eigentlich sollte ich dir das alles nicht erzählen, aber na ja …!“, sagte Felic und sah mich durchdringend an. Jetzt begriff ich, was mit mir passiert war. Man hatte mich als Versuchskaninchen benutzt. Das kann doch nicht wahr sein! Tränen schossen mir hoch. Doch weinen konnte ich. Man hatte mein Leben zerstört, um mich als Versuchskaninchen zu benutzen. Ich blickte zu Felic hinauf und sah sie lächeln. Als würde es noch einen Funken Hoffnung geben.
„Ich weiß, es klingt komisch. Aber stell dir vor, wenn so was möglich wäre, dann könnte man vielen helfen oder nicht?“, fragte sie mich.
Es waren ihre Augen und ihr Lächeln, die mich alles vergessen ließen.
„Du bist aber nicht sehr gesprächig, was? Ich muss mich nun auf den Weg machen. Ich hab noch eine Arbeit zu erledigen“, sagte sie und stand auf.
„Ich bleib noch ein wenig hier“, sagte ich und sah sie noch mal an.
Ihre Haare so nah, dass ich sie am liebsten angefasst hätte. Sie schob den Stuhl an den Tisch und verabschiedete sich. Der Wind blies mir durch die Haare und ich spürte, wie mein Herz raste. Ich wusste nicht, ob ich wütend oder verzweifelt sein sollte. Es machte mich wütend, dass sie mich als Versuchskaninchen benutzt hatten. Doch dann sah ich ihr Gesicht.
Ihr langes braunes Haar. Die eine Strähne, die ihr immer ins Gesicht hing, und die sie immer versuchte nach hinten zu schieben. Ihre großen braunen Augen, die mich zum Schmelzen brachten. Und ihre Lippen, die leicht rosa waren von ihrem Lippenstift. Bei dem Gedanken raste mein Herz und ich spürte, wie es mir heiß wurde. Nein, das darf nicht sein, rief eine Stimme in mir. Das durfte ich nicht. Langsam begriff ich, was mit mir passierte.
Eine Seite von mir hatte sich in sie verliebt, obwohl die andere Seite es abstritt. Ich hatte mich unsterblich in sie verliebt. Und das im Körper eines Mädchen. Ich spürte, wie ein Wassertropfen auf meine Hand prallte. Als ich nach oben sah, fing es an zu regnen, doch gleichzeitig tropften Tränen von meinem Gesicht. Ich schloss meine Augen und fragte, ob dies falsch oder richtig sei.
Texte: No copyright
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
for my dear mum