Zufrieden rieb sich Christel Lutz die Hände, nachdem Theo Baues ihre Wohnung verlassen hatte. Sie hörte noch seine Schritte auf der Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Dann schlug unten die Tür krachend ins Schloss. Er hatte nach einem schwierigen Gespräch endgültig das Haus verlassen, nachdem er sie vor einer Stunde in ihrer Wohnung aufgesucht hatte. Sie trat ans Fenster, das zur Straßenseite zeigte und sah, wie er mit gesenktem Haupt die Straße überquerte. Die roten Haare standen in wirren Büscheln wahllos in alle Richtungen ab. Er steuerte seinen auf der gegenüberliegenden Seite geparkten Kleintransporter mit der Aufschrift 'Gärtnerei Baues' an. Christel blickte durch den weißen Vorhang an ihrem Fenster, den sie vorsichtshalber nicht zur Seite gezogen hatte. Nur keine Aufmerksamkeit erregen. Eine gute Entscheidung, wie sie sofort feststellte. Bevor Theo Baues in sein Auto stieg, warf er einen bösen Blick hinauf zu ihrer Wohnung, die im zweiten Stock lag. Schnell trat Christel vom Fenster zurück, um ganz sicher zu gehen, dass er nicht sah, wie sie ihm nachschaute. Als sie hörte, dass der Motor gestartet wurde und das Auto davonfuhr, warf sie sich laut lachend in einen der Sessel, die sich um einen eleganten Nierentisch gruppierten.
„Wenn ich Champagner da hätte, würde ich jetzt vor den Spiegel treten und mir zuprosten“, sagte sie laut zu sich selbst. Aber der Kühlschrank war leer. Jedenfalls, was diese Art Luxusgut betraf. Auch sonstige Lagerstellen in der Wohnung, die der Aufbewahrung von Vorräten dienten, wiesen nichts in dieser Richtung auf.
Der Mangel kann behoben werden, tröstete sie sich. Die Quelle, die ihr einen stetigen Vorrat dieses edlen Getränkes zum Nulltarif garantierte, plante sie in den kommenden Wochen anzuzapfen.
„Heute war zunächst der kleine Gärtner dran“, murmelte sie zufrieden und kicherte hämisch.
Sie schwang ihre langen schlanken, mit Nylon bestrumpften Beine, über die Armlehne des Sessels und rückte sich wohlig zurecht. Dabei achtete sie sorgsam darauf, dass ihre Hochsteckfrisur, wie sie am Anfang der sechziger Jahre Mode war, nicht ruiniert wurde. Farah Diba-Pahlevi, die damalige persische Kaiserin, war Trendsetterin dieser aufgetürmten Kunstwerke.
Christel, mit ihren sechsundzwanzig Jahren, folgte sämtlichen Modetrends auf dem Fuße. Vor allem, wenn sie von hochrangigen Persönlichkeiten stammten.
Sie liebte die Kostüme mit den kleinen Jacken ohne Kragen und dazu die schick geschnittenen engen Röcke, die eine handbreit über dem Knie endeten. Hübsch aufgereiht, eines am anderen, in unzähligen Farbtönen, füllten ihren Kleiderschrank. Beinahe jede Woche erweiterte sie ihre Garderobe um ein neues Teil. Selbstverständlich erstand sie umgehend das dazu passende Paar hochhackiger Pumps. Zugegeben, die Unterbringung der hohen Anzahl an Schuhen bereitete ihr allmählich Kopfzerbrechen.
Christels Blick fiel auf den großen Balkon vor ihrem Wohnzimmer. Trist sah er ohne Pflanzen aus. Schnell wandte sie den Blick wieder ab.
Dabei liebte sie eine üppige Bepflanzung in Kübeln und Kästen, hasste es aber abgrundtief, sich die Hände selber schmutzig zu machen. Und Ludger, ihr Ehemann, den sie liebevoll Lulu nannte, die Abkürzung von Ludger Lutz, hatte zu wenig Zeit. Immerhin war er im Besitz von zwei Daumen, aber ein grüner war nicht dabei. Legte aber größten Wert auf eine Gestaltung des Balkons, die sich sehen lassen konnte. Das bezog sich vor allem auf die Begrünung, wobei simple Geranien und ähnlich abgedroschenes Gewächs unakzeptabel waren.
„Nur noch bis morgen“, trällerte sie fröhlich, „morgen um diese Zeit liegt da draußen ein Paradies, ein kleiner Abschnitt Cote d'Azur, der nur mir gehört. Und natürlich auch Lulu“, setzte sie noch hinzu.
Sie lachte laut auf, erhob sich aus dem Sessel und ging in ihr Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Schulhefte, die darauf warteten, korrigiert zu werden. Ihre eben noch fröhliche Laune war mit einem Schlag dahin.
Mit einem lauten Seufzer nahm sie Platz vor dieser Katastrophe, wie sie die Ansammlung jener Schulhefte stets bezeichnete. Angewidert nahm sie das oberste Heft vom Stapel, schlug es auf, um es umgehend wieder zu schließen und zurückzulegen. Zuerst das Heft der kleinen Baues, beschloss sie. Das war sie der Tochter eines so spendablen Vaters schuldig. Genervt blätterte sie den Stapel der Din-A-5 großen schwarzen Hefte durch. Das gesuchte Heft kam zum Vorschein und sie zog es heraus. Leichte Panik kroch in Christel hoch, bevor sie es öffnete.
“Ach, was soll's“, machte sie sich Mut und lehnte sich entspannt in ihrem Schreibtischstuhl zurück. Bevor sie ein „sehr gut“ unter das Diktat in englischer Sprache setzte, überflog sie den Text, um sich anschließend darüber im Klaren zu sein, was sie übersehen hatte. Ganz so schlecht war die Arbeit nicht, stellte sie erleichtert fest. Obwohl es für eine Eins nicht reichte. Allenfalls eine Zwei minus. Da Hanne Baues in Mathe Fünf stand, brauchte sie unbedingt ein Hauptfach zum Ausgleich.
Frau Wolpert, die in dieser Klasse Deutsch unterrichtete, ließ da mit sich nicht reden. Vater Baues war nach wenigen Minuten abgeblitzt, als er das Thema in die Richtung lenkte, die Deutschlehrerin sollte seiner Tochter ein klein wenig entgegenkommen. Schließlich würde er sich selbstverständlich erkenntlich zeigen. Mit hochrotem Kopf hatte Frau Wolpert ihn gefragt, für was er sie hielt. Mit diesem Anliegen stelle er sie auf die Stufe einer Erpresserin. Kurzerhand brach sie das Gespräch ab und verwies ihn des Sprechzimmers.
Hier war er gegen eine Wand gelaufen. Nun konnte er nur froh sein, wenn das keine Konsequenzen nach sich zog. Mit einer derartigen Abfuhr hatte er nicht gerechnet. Das konnte für ihn Ärger bedeuten, der sogar das Kultusministerium erreichte und für seine Tochter einen Schulverweis zur Folge hatte. Sie besuchte gerade die erste Klasse einer Mittelschule. Nicht auszudenken, wenn die Schulkarriere hier bereits enden würde und sie nicht wegen schlechter Leistungen sondern wegen dieses Vorfalls zurück zur Volksschule müsste. Genau genommen hätte sie dort bleiben sollen. Er war der Einzige, der das nicht einsah. In seiner Tochter steckte mehr, als alle anderen behaupteten. Sollten die doch denken, was sie wollten. Am Ende würde er siegen, das stand für ihn fest. Dazu war ihm jedes Mittel recht. Fast jedes.
Frau Wolpert hatte lediglich im Lehrerzimmer äußerst aufgebracht von dem Vorfall erzählt und außer Christel Lutz waren zu der Zeit nur zwei Referendare anwesend, die ganz andere Sorgen hatten, als sich näher mit den Elterngesprächen von Frau Wolpert zu beschäftigen. Das Thema wurde nie mehr erwähnt. Frau Wolpert beruhigte sich wieder, vergaß das Gespräch und es wuchs Gras über die Sache.
So schien es jedenfalls. Dass Christel Lutz einige Tage später, nachdem sie im Lehrerzimmer von Frau Wolpert davon erfahren hatte, aktiv wurde und Herrn Baues zu einem Lehrer-Eltern-Gespräch zu sich bat, erfuhr außer dem Vater und der Lehrerin niemand. Das Treffen fand nicht in der Schule sondern in Christels Wohnung statt. Sozusagen auf neutralem Boden, wo man in Ruhe die Dinge auf den Tisch bringen konnte, ohne befürchten zu müssen, dass man belauscht wurde. An diesem Nachmittag wurde in Ruhe ausgehandelt, was der eine erwartete und der andere als Gegenleistung verlangte.
Sie saßen sich im Wohnzimmer von Christel Lutz in der eleganten hochwertigen Couchgarnitur gegenüber. Christel war zunächst geneigt, Theo Baues einen Drink anzubieten, hatte sich dann aber dagegen entschieden. Wenn derartige Gespräche in der Schule stattfanden, gab es auch kein Getränk. Sie hielt es für geschickter, ihren Gast trocken fahren zu lassen. Es sollte ein sachliches Gespräch werden ohne jeglichen Schnickschnack nebenher, bei dem so schnell wie möglich ihre Forderungen erfüllt wurden.
Leicht zusammengesunken, in einem grünen Arbeitsoverall, der am Rücken den Namen seiner Gärtnerei trug, saß Theo Baues der Klassen- und Englischlehrerin seiner Tochter gegenüber. Dass Theo in Arbeitsklamotten erschienen war, störte sie enorm. Mit prüfendem Blick schätzte sie ab, ob es ratsam sei, dass er in dieser Montur in ihrer hellen Polstergarnitur Platz nahm. Vielleicht wäre einer der Holzstühle in der Küche, auf dem ein Sitzkissen lag, passender. Das Sitzkissen konnte man im Falle einer Verschmutzung, die Theo Baues durch seine Arbeitsklamotten verursachte, einfach auswechseln oder mit einem Handgriff ganz entfernen, bevor er sich setzte.
Nachdem sie ihn schnell aber eingehend gemustert hatte, entschied sich Christel dann doch für das Wohnzimmer und bot Herrn Baues in ihrer Sitzgruppe einen Platz an. Sie setzte sich ihm direkt gegenüber, um ihn geradewegs mit strengen Blicken zu taxieren. Auf diese Weise brachte sie die meisten ihrer Mitmenschen derart aus der Fassung, dass diese oft vergaßen, was sie eigentlich sagen wollten. Solch einer Situation wollte sie jetzt Vater Baues aussetzen, wenn er für sein Töchterchen Hanne in die Schlacht zog.
„Reden wir nicht um den heißen Brei herum,“ begann Christel das Gespräch, „Hannes Leistungen rechtfertigen in keiner Weise den Besuch unserer Schule.“
Das hatte gesessen. Mit Genugtuung beobachtete Christel, dass Theo Baues schluckte. Bestimmt war sein Hals knochentrocken und er hätte gut einen Schluck Wasser vertragen. Aber wenn es ihm nicht so gut ging, bekam sie ihn besser in den Griff und das ganze fand ein schnelles Ende.
Bald hatte er sich wieder gefangen.
„Da können sie als ihre Klassenlehrerin bestimmt etwas dagegen tun?“, platzte er mit seiner Forderung heraus.
„Und was, meinen Sie, könnte ich dagegen tun?“, war die Gegenfrage.
„Dachten Sie an Nachhilfestunden“, fuhr sie fort, „die teuer sind und oft nichts bringen? Außer, dass der jeweilige Nachhilfelehrer gut daran verdient.“
„Hören Sie“, zischte Theo Baues in scharfem Ton und beugte sich drohend ein wenig vor, so dass Christel verdattert zurückfuhr. Dass der so auffahren konnte, hätte sie dem kleinen Gärtner, den sie um beinahe Haupteslänge überragte, nicht zugetraut. Er war kurz davor, dass ihm der Geduldsfaden riss. Soweit wollte Christel es nicht kommen lassen. Also beschloss sie, auf den Punkt zu kommen und ihm ihre Vorschläge mitzuteilen. Das Wichtigste für sie war, Oberwasser zu behalten.
„Klassenarbeiten kann man streng und weniger streng benoten“, ergriff Theo Baues das Wort.
„So, finden Sie?“ Christel tat empört, setzte gekonnt ihre beleidigte Miene auf und sah Richtung Balkontür. Schnell schaute sie wieder weg, um sich den Anblick des tristen grauen Balkons zu ersparen. Eine perfekte aufwändige Bepflanzung könnte ihn in ein Paradies verwandeln.
„Und bei den mündlichen Noten haben Sie als Lehrerin alle Möglichkeiten“, plapperte er weiter, „da kommt es immer auf die Sichtweise an.“
Für einen kurzen Moment war Christel mit ihren Gedanken abgeschweift. Nun gab sie sich einen Ruck und konzentrierte sich wieder voll auf ihren Gesprächspartner. Es wurde Zeit, das Geplänkel mit diesem philiströsen Vater erfolgreich zu Ende zu bringen. Auf jeden Fall so, dass sie selbst den weitaus größten Nutzen daraus erzielte.
„Sie glauben wohl, sich bestens auszukennen“, regte Christel sich künstlich auf.
Lassen wir ihn noch ein klein wenig zappeln, beschloss sie und amüsierte sich innerlich über ihr echauffiertes schwitzendes Gegenüber. Es dauert nicht mehr lange und der ist gargekocht. Dann komme ich mit meinen Vorschlägen und Forderungen.
„Da kennt sich jeder aus, der heutzutage Kinder in der Schule hat“, machte er sich wichtig. Dabei richtete er sich kerzengerade auf, um Überlegenheit zu demonstrieren und zu unterstreichen, dass man ihm nichts vormachen konnte.
„Was stellen Sie sich denn vor, wie ich Ihnen bei dem Problem mit Ihrer Tochter helfen kann?“, fragte Christel scheinbar unbeeindruckt und blickte gelangweilt auf ihre polierten und perfekt gefeilten Fingernägel.
„Wie ich bereits sagte“, fuhr Theo fort, „weniger streng benoten. Vielleicht so, dass mit dem Fach Englisch alle nicht so erfolgreichen Fächer ausgeglichen werden können.“
„Nicht so erfolgreich ist gut“, lachte Christel, „ in Mathematik ist Hanne katastrophal. Da müsste sie in meinem Fach in jeder Arbeit eine Eins schreiben, falls ihre Leistungen in Mathe sich nicht bessern. Im Mündlichen sollte sie pausenlos Fragen richtig beantworten, bevor diese überhaupt gestellt werden. Sie verstehen, was ich meine?“
„Ich verstehe Sie sehr gut, nur Sie scheinen mich nicht zu verstehen. Wo liegt das Problem, dass sie das nicht schafft, wenn Sie ihr ein klein wenig behilflich sind?“,
lächelte Theo Baues der Klassenlehrerin seiner Tochter verschmitzt zu.
Ihm war klar, dass er sich auf Glatteis begab, verdammt rutschiges Glatteis. Das ihm und somit auch seiner Tochter, die von alledem hier nicht die geringste Ahnung hatte, den Boden unter den Füßen wegzog, falls das hier schief ging und Christel Lutz sich am Ende genauso zickig anstellte wie diese Wolpert, die ihn nach wenigen Worten bereits beschimpft und aus dem Besprechungs-zimmer geworfen hatte. Man konnte nur hoffen, dass die nicht zum Schulamt rannte und ihn anschwärzte. Zuzutrauen war das dieser alten Schnepfe. Witwe Bolte und Frau Holle waren flotte Bienen im Vergleich zu dieser verknöcherten alten Jungfer. Wen wunderte es, dass die keinen Mann abgekriegt hatte. Sie ging stramm auf das Rentenalter zu. Da war der Zug ohnehin schon abgefahren. Wenn die aus Altersgründen endlich aus dem Schuldienst ausscheidet, heult der bestimmt keiner eine Träne nach. Eine Stinkwut hatte er auf dieses alte Vehikel.
„Herr Baues“, hörte er seinen Namen. Christel holte ihn wieder in die laufende Verhandlung zurück. Für einen Moment war er gedanklich abgeschweift und hatte sich zum wiederholten Mal an das unangenehmste Gespräch erinnert, das er seit Jahren geführt hatte. Nun war er wieder ganz bei der Sache, um sich heute einen erfolgreicheren Abgang als vor einigen Tagen zu verschaffen. Er musste auf jeden Fall verhindern, dass es auch mit einem Rausschmiss endete.
Christel war aufgefallen, dass Theo Baues nicht mehr so recht bei der Sache war. Am Ende überlegt er es sich anders, ging es ihr durch den Kopf, und lässt die ganze Aktion platzen. Das wollte sie auf gar keinen Fall, da sie mit ihm einen dicken Fisch an ihrer Angel glaubte. Also beschloss sie, ihm jetzt entgegen zu kommen und die Sache zu einem guten Ende zu bringen.
„Herr Baues“, wiederholte sie noch einmal, „natürlich bin ich dazu da, ihrer Tochter soweit behilflich zu sein, dass sie im Unterricht gut mitkommt und Erfolge erzielt. Es wäre schön, wenn sie es ohne die berühmten Ehrenrunden durch diese Schulzeit schafft. So wie es derzeit aussieht, ist das nicht nur für Ihre Tochter sondern auch für mich eine Herausforderung. Ist Ihnen doch klar?“
Christel schlug ihre langen Beine übereinander und lehnte sich lässig in ihrem Sessel zurück. Dabei blickte sie Theo Baues geradewegs in sein mittlerweile rot angelaufenes Gesicht. Der fühlte sich gerade von Christels Blicken durchbohrt, was ihm mehr als unangenehm war. Für einen kurzen Moment überkam ihn der Wunsch, ihr an die Gurgel zu gehen und zwar so, dass ihr die Luft wegblieb. Bei diesem Gedanken ballte er seine Fäuste, öffnete sie aber sofort wieder. Was war da eben nur in ihn gefahren? Er schüttelte ein paar Mal seinen Kopf hin und her, als ob er diese Idee auf die Art los werden wollte. So etwas durfte er nicht einmal denken, befahl ihm seine innere Stimme. Im Grunde wollte er doch nur ein Ergebnis erzielen und zwar ein positives, und das auf friedlichem Weg.
„Abgemacht, Herr Baues“, fuhr Christel fort, „ich tue etwas für Sie, das heißt für ihre Tochter, und Sie etwas für mich.“
„Daran soll es nicht scheitern“, freute sich Theo Baues und sah die Erfüllung seiner Wünsche in greifbarer Nähe.
Christel erhob sich aus dem Sessel und forderte Theo Baues auf, mit ihr auf den Balkon zu treten. Sie öffnete die Balkontür und schon standen sie auf grauem Beton zwischen leeren Pflanzkübeln und Blumenkästen. Ein trauriger Anblick. Für Theo Baues unverständlich, dass man es so weit kommen lassen konnte.
„Hier müsste dringend etwas getan werden“, sagte Christel. Sie wirkte sehr ernst, als sie auf die leeren Gefäße zeigte.
Theo hatte schon verstanden. Er war derjenige, der hier die entsprechenden Veränderungen vornehmen sollte. Schließlich saß er an der Quelle, die Christel Lutz soeben angezapft hatte.
„So kann es auf keinen Fall bleiben“, gab er ihr Recht, „machen Sie sich keine Gedanken darüber. Ich werde mich darum kümmern und in wenigen Tagen werden Sie sich wie im Paradies fühlen, wenn Sie auf Ihrem Balkon sitzen.“
Beide brachen gleichzeitig in wieherndes Gelächter aus, so laut, dass es bis auf die gegenüber-liegende Straßenseite schallte. Dann schlug Christel vor, wieder hinein zu gehen. Der kleine Gärtner wusste ja jetzt, was zu tun war. Somit war die Show hier zu Ende. Sie gingen zurück ins Wohnzimmer und Christel schloss die Tür zum Balkon.
„Damit wäre jetzt alles geklärt“, meinte Christel, „die kleine Hanne wird sich in eine Superschülerin verwandeln, zumindest in Englisch. Vielleicht kann man hier und da noch nachhelfen. Schauen wir mal. Da gibt es Kollegen, mit denen lässt sich reden. Aber ein Anfang wäre zunächst gemacht.“
Verschwörerisch zwinkerte Christel ihm zu. Dann streckte sie Theo Baues ihre Hand hin, um sich zu verabschieden. Der versprach, sich am nächsten Tag bei Christel einzufinden. Aber nicht mit leeren Händen sondern mit einer Riesenauswahl an Pflanzen und Blumen von erstklassiger Qualität.
„Und vergessen Sie nicht, die beste Erde und den Dünger mitzubringen“, erinnerte sie ihn beim Hinausgehen.
„Geht auch klar“, war Theos Antwort.
„Und keine Geranien“, rief sie ihm noch hinterher.
Er war sich durchaus bewusst, dass ihn dieser Deal eine Kleinigkeit kosten wird. Aber was tat man nicht alles für sein Kind, damit es gut und leicht durchs Leben kam. Was wird nur seine Frau dazu sagen, wenn er ihr von den Konsequenzen dieses Gesprächs erzählte. Im Moment mochte er sich das gar nicht vorstellen. Der Gedanke daran erdrückte ihn und ließ seine Stimmung auf den Nullpunkt sinken. Eines wurde ihm soeben klar. Er hatte sich von dieser Schlange da oben erpressen lassen. Für das, was sie zu tun hatte, verlangte sie einen unverschämt hohen Gegenwert. Das empfand Theo Baues jedenfalls so und ließ seinen Blick abschätzig an der Hausfassade entlang bis zu Christels Wohnung schweifen. Er glaubte, sie hinter dem Vorhang ihres Wohnzimmers entdeckt zu haben, wie sie ihm nachschaute. Bestimmt machte sie sich gerade über ihn lustig und war über das Ergebnis des Gesprächs hocherfreut. Die großartige gebildete Mittelschullehrerin hatte den kleinen bildungsfernen Gärtner voll in die Tasche gesteckt. Eines war klar, er konnte ab jetzt immer dort antanzen, wenn es wieder etwas zu tun gab. Aus der Nummer kam er nicht mehr so schnell heraus. Verflixt und zugenäht. Die konnte ihn verpfeifen, wenn er den Deal platzen ließ. Und die würde es tun. Das war eine miese Schlange. Die würde behaupten, dass er sie genötigt hätte, seiner Tochter zu besseren Noten zu verhelfen. Dabei hatte er nur einmal vorsichtig nachgefragt, ob ein wenig Entgegenkommen nicht möglich sei. Beweisen konnte er nichts. Dieses Miststück konnte ihn voll auflaufen lassen. Wenn er ab jetzt nicht nach deren Pfeife tanzte, wird die unangenehm. Er musste es durchziehen, solange seine Hanne diese Schule besuchte und damit basta.
Mit diesem Argument wollte er auch seiner Frau gegenübertreten. Warum nur machten Frauen immer so viel Ärger? Allmählich bekam er Verständnis dafür, dass Frauen umgebracht wurden. Sie waren einfach so geartet, es auf die Spitze zu treiben. Wen wundert es da, dass manch einer die Beherrschung verlor und auf grausigste Art und Weise seiner Pein ein Ende setzte. Mit dieser Schlange würde es auch ein böses Ende nehmen, da war Theo ganz sicher. Die steuerte geradewegs darauf zu. Aber bis es einmal soweit war, musste er gute Miene zum bösen Spiel machen. Schließlich hatte er sich das irgendwie selbst eingebrockt.
Dann stieg er in sein Auto, knallte die Tür zu und fuhr mit heißem Reifen los. Mit Sicherheit hat die Schlange ihn noch beobachtet bis er losfuhr. Er spürte immer noch ihre stechenden Blicke in seinem Rücken.
Christel saß vor der Katastrophe, wie sie ihren mit Stapeln von Arbeitsheften der Schüler voll-
gepackten Schreibtisch bezeichnete. Das Heft mit der vor einigen Tagen geschriebenen Englischarbeit der kleinen Hanne Baues lag aufgeschlagen vor ihr. Christel übersah großzügig die Fehler und setzte unter die Arbeit die Note „sehr gut“. Da stand sie nun, mit roter Tinte geschrieben und unabänderlich. Christel kniff die Augen zusammen, um sich den Anblick zu ersparen. Dann klappte sie das Heft schnell zu und legte es beiseite.
Das nächste Heft gehörte einer, egal wie auch immer, jedenfalls einer, wo der Familienname mit so was Ähnlichem wie 'kowski' oder 'schinski' endete. Irgendwelche bedeutungslose Laute waren diesen Endungen vorangesetzt. Mit diesen Ungetümen von Familiennamen, die kein Mensch fehlerfrei aussprechen konnte, gab es einige in ihrer Klasse. Die konnte sie von vornherein nicht ausstehen und ging auch davon aus, dass die sowieso zu blöd waren, eine Schule mit diesen Ansprüchen bis zum Abschluss durchzuziehen. Auch wenn das jetzt noch, im ersten Jahr, nicht unbedingt den Anschein hatte. Das war noch Anfängerglück. Auf Dauer waren die dem Lerntempo und dem Lehrstoff nicht gewachsen.
Durch die Bank weg waren die evangelisch oder überhaupt nicht getauft. Wie sollten die in einer Klasse von fünfundvierzig Schülern, die überwiegend katholisch waren, zurechtkommen. Die passten da nicht rein. Extra wegen denen gab es evangelischen Religionsunterricht und am Freitag, wo alle Schülerinnen die ersten zwei Stunden in die Kirche gingen, fand für die der Gottesdienst im Musiksaal statt. Für diese Ausnahmen mussten zusätzlich Lehrkräfte und Pastoren eingestellt werden. Auch das gesamte Lehrerkollegium war rein katholisch und stammte durchweg vom Niederrhein. Bis auf Christel, die zwar auch katholisch war, aber aus der Pfalz kam.
Von Anfang an war sie bemüht, diese Subjekte aus ihrer Klasse zu entfernen. Sie machte ihnen im Unterricht das Leben schwer, mäkelte täglich an deren Hausaufgaben, strich die Arbeiten durch oder zerriss das Heft. Richtig angeschaut hatte sie nichts von dem, was in den Heften stand. Ob es gut oder falsch war, interessierte sie nicht wirklich. Sie hatte diese Schülerinnen von vornherein in der Kategorie „unfähig“ eingestuft.
Wenn sie aufzeigten, beachtete Christel die nicht. Sie kamen nur dran, wenn sie den Eindruck hatte, dass die etwas nicht wussten. Dann schikanierte sie diese Schülerinnen bis zum Äußersten und blamierte sie vor der ganzen Klasse. Die kleinen verheulten Monster, die nach solchen Aktionen in den Bänken saßen, störten sie nicht. Sie klammerte sich an den Gedanken, dass diese Zumutungen, wie sie ihre Schülerinnen des öfteren bezeichnete, endlich aufgaben und die Schule verließen. Somit hätte sich die Schülerzahl auf achtunddreißig reduziert, was auch für Christel weniger Arbeit bedeutete. Der Anblick der Stapel von zu korrigierenden Heften auf ihrem Schreibtisch bestätigte ihre Vorstellungen.
Nicht nur die Brut von den Eltern, die aus ehemals deutschen Ostgebieten zugewandert waren, konnte sie nicht leiden. Da gab es durchaus auch einige, die dem sogenannten rheinischen Adel entstammten mit den Familiennamen Schmitz, Ruppertz oder Neikes. Diese Mäuschen aus der Unterschicht waren ihr zuwider. Die wollte sie ebenso loswerden. Die Leistungen der Schülerinnen waren gut durchschnittlich, im Grunde genommen wie die der 'owskis' und 'inskis'. Nur wollte Christel davon nichts wissen. Die gehörten einfach nicht in eine Schule, an der sie unterrichtete. Außerdem waren deren Eltern nicht vergleichbar mit der Goldgrube Theo Baues, die sie wie ein Fass ohne Boden ausschöpfen konnte.
Diese Familien lebten in trostlosen Wohnblocks an schäbigen Durchgangsstraßen in engen Dreizimmer-Wohnungen mit einem Alibi-Balkon, wo entweder drei Stühle dicht gedrängt Platz hatten oder drei Personen stehen konnten. Immerhin besaßen diese Angehörigen der Unterschicht durchweg ein Fernsehgerät, was zu dieser Zeit noch nicht selbstverständlich war. Dafür hatten die sich krumm gelegt und ihre paar Kröten zusammengekratzt. Mit diesem Gerät kam Abwechslung in ihr tristes Leben. Jedenfalls kannten sich die Töchter bestens mit dem Fernsehprogramm aus, von dem sie am nächsten Tag in der Schule stolz berichteten. Anstatt das Geld für die Mattscheibe auszugeben, hätten sie besser daran getan, ihren Töchtern neue Klamotten zu kaufen, damit die nicht die ganze Woche in der gleichen Kluft in den Schulbänken hockten. Christel wollte nicht wirklich wissen, wie viele Mädchen so ein Röckchen oder Pullöverchen bereits vorher getragen hatten. Diese Teile wurden in den Kreisen weitergegeben, bis sie auseinanderfielen.
Am Wochenende hockte die ganze Familie nur vor der Flimmerkiste, der einzigen Unterhaltung, die diese Leute hatten. Fünf Personen auf einem Sofa, das nicht breiter als zwei Meter war, saßen sie da, dichtgedrängt wie die Ölsardinen. Der Vater im Unterhemd hinter der Bierpulle und die Mutter in Kittel oder Schürze. Das kleinste der Kinder auf irgendeinem Schoß.
Montags gab es für die Töchter in der Schule nur ein Thema, das Fernsehprogramm der vergangenen Tage. Das begann um siebzehn Uhr mit der Kinderstunde. Am frühen Abend folgte das Programm für Erwachsene. Abgeschaltet wurde erst, wenn das Testbild auf der Mattscheibe erschien. Dann verschwanden die Familien in ihren muffigen Schlafzimmern.
Bei schönem Wetter saßen sie abwechselnd auf dem Balkon hinter ihren Geranien, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Nie die ganze Familie vereint, weil nicht alle zusammen darauf passten. Bestimmt stritten die Kinder, wer als nächstes einmal draußen sein durfte.
Urlaub war für die ein Fremdwort. Natürlich bekam der Vater drei Wochen Urlaub im Jahr. Die verbrachte er mit den Kindern auf dem nahegelegenen Spielplatz oder an einem Teich zum Enten füttern. Vielleicht ging es mal in die Eifel oder ins Sauerland mit der Bahn, vorausgesetzt es gab dort Verwandte, die man besuchen konnte.
Was war das im Vergleich zu Christels Lebensstil. Im vergangenen Jahr hatten sie und Lulu vier Wochen ihrer Sommerferien in Norwegen verbracht und hatten sich in den noch verbleibenden zwei Wochen in Nizza wieder aufgewärmt. Die Anwesenheit der zahlreichen Prominenz an der Cote d'Azur hatte Christel besonders beeindruckt. Onassis mit Maria Callas und Soraya mit dem italienischen Regisseur Franco Indovina hielten sich zur gleichen Zeit dort auf. Christel fühlte sich in bester Gesellschaft. Tagsüber flanierte sie mit ihrem Mann über die Promenade oder verschwand in teuren Geschäften, um sich über die neuesten Modetrends zu informieren. Manchmal kaufte sie eine Kleinigkeit. Leider reichte ihr Budget bei diesen Preisen nur für einige Accessoires. Mal war es ein Halstuch, ein anderes Mal ein Armreifen, der nicht gerade mit Brillanten belegt war. So ganz mit den Schönen und Reichen konnte sie nicht mithalten. Das empfand Christel als äußerst ärgerlich und dachte oft darüber nach, wie sich das ändern ließ.
Abends hockten die beiden in guten Restaurants, wo man ausschließlich in erstklassiger Garderobe Zutritt bekam. Sie verspeisten kleine teure Häppchen und verließen das Restaurant ohne satt geworden zu sein. Nicht ganz nach Lulus Geschmack, der lieber weniger repräsentativ dafür aber mit gefülltem Magen ins Hotel zurückgekehrt wäre. Er wollte seiner Frau die Freude nicht verderben und sie die Chance wahrnehmen lassen, zu sehen und gesehen zu werden.
Als sie nach den Sommerferien in einigen Klassen davon erzählte, ja geradezu prahlte, wurde sie von den meisten Schülerinnen darum beneidet. Sie liebte es, wenn sie beneidet wurde. War ja auch nicht schwer, hier Neid zu erzeugen bei dem armseligen Dasein, dass die meisten fristeten. Was waren Christels Urlaubsreisen im Vergleich zu denen, wo es gerade mal bis zur Eifel oder ins Sauerland reichte. Wo man bei Verwandten auf dem Sofa oder einer Liege kampierte, um Übernachtungskosten zu sparen.
So ähnlich stellte sich Christel das Leben der Schmitz, Ruppertz oder Neikes aus ihrer Klasse vor und war felsenfest davon überzeugt, dass sie den richtigen Eindruck hatte. Sie schüttelte sich, wenn sie nur daran dachte.
Zwischen ihr und diesen Leuten lagen Welten. Schon allein ihre Wohnung hatte da um einiges mehr zu bieten. Der kleine Gärtner hatte nicht schlecht gestaunt, als er das Ausmaß der Möglichkeiten für die Bepflanzung besichtigte. Sie hatte den Eindruck, dass ihm bei dem Anblick kurz schwindelig wurde. Ab jetzt wird er immer wieder einen Tag für die Bepflanzung bei dem Ehepaar Lutz einplanen müssen. Regelmäßige Pflege vonseiten ihres neuen Haus- und Hofgärtners hielt Christel für selbstverständlich.
„Gerade das Gießen schaffe ich noch allein“, kicherte sie.
Die Eltern der anderen besagten Schülerinnen kamen da aus einer anderen Liga. Bei denen kam es vielleicht vor, dass der ein oder andere Vater Christel ab und an einen Zwanzig Markschein zustecken konnte. Das brachte nichts und es war fraglich, ob in der Hinsicht überhaupt etwas lief. Es war anzunehmen, dass das bereits ein Riesenloch in deren Haushaltskasse riss und die komplette Familie drei Tage darben musste, um auf die Art den Verlust wieder reinzuholen.
Zudem hatten diese Eltern am Sprechtag deutlich durchblicken lassen, dass sie mit den Leistungen ihrer Töchter zufrieden seien. Die hatten es gar nicht nötig, für gute Noten etwas springen zu lassen. War ja auch berechtigt. Momentan jedenfalls noch. Das sollte sich künftig ändern. Das würde sie, Christel, ändern. Wäre ja gelacht, wenn man die nicht abschießen konnte. Wenn man an dem kaum vorhandenen Selbstbewusstsein dieser Schülerinnen kratzte, knickten die weg wie junge Pflanzen. Da es sich um drei Schülerinnen handelte, wäre sie bis zum Ende des Schuljahres zehn Schülerinnen los. Das sollte zu schaffen sein. Und vielleicht tat sich ja doch noch eine lukrative Einnahmequelle auf. Man wusste ja nie...
Da gab es doch seit neuestem Adrien Antonius an der Schule. Er war ab Beginn des neuen Schuljahres, das in jenen Jahren zu Ostern begann, als Lehrer für den Mathematikunterricht eingestellt worden. Er war das zweite männliche Wesen an dieser Schule zwischen dem ganzen Weiberzirkus, aus dem das Kollegium bestand. Bislang gab es nur seit vielen Jahren Herrn Schmidt. Auch zuständig für Mathematik, aber auch für Physik und Chemie. Der hatte die Frauen gut im Griff und wurde von einigen der älteren Kolleginnen regelrecht angehimmelt.
Das änderte sich, als Adrien in den Schuldienst eintrat. Er war jünger als Herr Schmidt, so um die vierzig und sah blendend aus. Nicht nur die Schülerinnen liebten ihn durch die Bank weg, auch die Damen im Lehrerzimmer scharrten sich um ihn und rangen um seine Aufmerksamkeit. Es war so etwas wie ein Konkurrenzkampf entstanden, an dem alle irgendwie beteiligt waren.
Bis auf Frau Wolpert. Die blieb ihrem Herrn Schmidt treu, den sie heimlich heiß und innig liebte. Herr Schmidt nahm das mit einem Schmunzeln zur Kenntnis und ließ Frau Wolpert seit Jahren zappeln. Er selbst hatte eine Frau und drei Kinder und war mit seinem Leben sehr zufrieden. Eine Schachtel wie die Wolpert hätte auch in ledigem Zustand keine Chance bei ihm gehabt. Das sah sie wohl anders. Sie gab nicht auf, ihn mit ihren Avancen zu verfolgen und sei es bis in die Klassen-zimmer, in denen er gerade Unterricht hatte. Den Schülerinnen war das nicht verborgen geblieben. Wenn sich während des Unterrichts die Tür öffnete und Frau Wolpert unter irgendeinem Vorwand dringend Herrn Schmidt sprechen wollte, prustete die ganze Klasse los und war so schnell nicht wieder zu beruhigen.
Auch Christel schwärmte für Adrien. Wie sollte es auch anders sein. Sie war mit Abstand die jüngste Lehrerin an dieser Schule und konnte sich dem Charme dieses Prachtexemplars einfach nicht entziehen. Adrien war der Sohn eines deutschen Vaters und einer korsischen Mutter. Nach vielen Jahren im Ausland war er mit Frau und vierjährigem Sohn in die Heimatstadt seines Vaters, die auch seine Geburtsstadt war, zurückgekehrt und hatte die Stelle als Mathematiklehrer an dieser Mittelschule für Mädchen angenommen. War es Zufall oder Schicksal, dass er mit seiner Familie eine Wohnung in der gleichen Straße bezogen hatte, in der Christel mit ihrem Ehemann Lulu lebte? Die Wohnung der Familie Antonius lag schräg gegenüber in einem Haus im ersten Stock. Christel sah einige der Fenster, wenn sie auf ihrem Balkon war. Das Arbeitszimmer von Adrien lag zur Straße hin. So konnte sie am Abend immer Licht brennen sehen und wusste, wann Adrien seine Zeit dort verbrachte.
Kurz nachdem Christel und Adrien festgestellt hatten, dass sie quasi Nachbarn waren, lud die Familie Antonius das Ehepaar Lutz zu einem Abendessen ein. Das lag jetzt ungefähr drei Wochen zurück und eine Gegeneinladung wurde langsam fällig, ging es Christel durch den Kopf. Ihr hatte Adrien auf Anhieb sehr gefallen und es störte sie gewaltig, als sie feststellen musste, dass er eine bildschöne Ehefrau an seiner Seite hatte. Auf die Anwesenheit dieser Person legte sie keinen Wert. Da eher schon auf die des kleinen Marius, den vierjährigen Sohn. Das war ein süßer Fratz. Obwohl sie mit kleinen Kindern nichts anfangen konnte, hatte sie sich von ihrer besten Seite zeigen wollen. Vor dem Abendessen bei den Antonius hatte sie im Garten des Wohnhauses, in dem Familie lebte, mit Marius Ball gespielt. Er hatte in seinem kindlichen Eifer nicht bemerkt, dass Christel sich beinahe bis zum Erbrechen langweilte. Aber sie ließ sich nichts anmerken. Sie wollte Adrien mit diesem Verhalten imponieren und demonstrieren, wie gut sie es mit Kindern konnte.
Ihre Gedanken kreisten um Adrien, dass sie ihn und leider auch seine Frau ebenfalls zu einem Abendessen einladen musste. Vielleicht gelang es ihr dabei, Adrien für ihren Plan zu gewinnen. Mädchen und Mathematik passten nicht zusammen. Die paar Superhirne, die das mit links bewältigten, konnte man in ihrer Klasse an einer Hand abzählen. Bei fünfundvierzig Schülerinnen war das eine verschwindend geringe Anzahl. Die störten auch nicht weiter. Die Rede war von denen, die sie bereits zum Abschuss auserkoren hatte. Wenn Adrien mithalf, diese Subjekte auf die Schleudersitze zu katapultieren, würde sie bald ihr Ziel erreichen.
Christel war mit ihrer Idee zufrieden und lehnte sich entspannt in dem Stuhl an ihrem Schreibtisch zurück. Die Hefte, die zum Korrigieren vor ihr lagen, schob sie beiseite. Das kam auf ein paar Tage jetzt auch nicht mehr an. Im Grunde stand ja bereits fest, wer in etwa welche Note zu erwarten hatte. Das ließ sich beinahe im Vorbeigehen erledigen.
Der Schlüssel wurde von außen in das Schloss der Wohnungstür gesteckt und es wurde aufgeschlossen. Christels Ehemann Lulu hatte Feierabend und betrat den Flur der Wohnung. Wenn Lulu nach seiner Arbeit nach Hause kam, bedeutete das für Christel Küchenarbeit, die ihr so gar nicht lag. Am liebsten haute sie schnell ein paar Sandwichs zusammen, so wie sie es während ihrer Zeit in England gesehen hatte. Leider konnte man Lulu nur im Notfall damit abspeisen. Heute war so ein Notfall. Sie begrüßte den Mann, mit dem sie seit zwei Jahren verheiratet war.
„Ich mache uns schnell ein paar Sandwichs“, flötete sie, „zu mehr hat meine Zeit heute einfach nicht gereicht. Elterngespräch, Hefte korrigieren und und und.“
Christel gab sich gerne als jemand aus, der vor lauter Arbeit nicht wusste, wo er beginnen sollte. Sie war ein so bedauernswertes Geschöpf, diese Christel.
Lulu stellte seinen Aktenkoffer im Flur ab und streifte die Schuhe von seinen Füßen. Als nächstes lockerte er seine Krawatte. Das waren die Rituale, die immer in gleichbleibender Reihenfolge kurz nach Betreten der Wohnung nach der Arbeit erfolgten.
„Lass uns zu „Kramer“ gehen und dort etwas essen“, schlug er vor.
Da ließ Christel sich nicht lange bitten. Die Kneipe war in der Nähe und bot solide Hausmannskost an. Bekommt man schon irgendwie hinunter, dachte Christel, immerhin besser dort essen als selber kochen. Auch wenn Lulu behauptete, dass Kramer gehobene Hausmannskost servierte, war sie anderer Ansicht. Wie gesagt, besser dorthin als zu Hause brutzeln. Wenn wenigstens etwas zum Brutzeln da wäre. Dahingehend herrschte im Lutz-Haushalt meistens Ebbe.
Schon stand Christel vor ihrem Kleiderschrank und wählte die entsprechende Kleidung aus, mit der sie sich überall sehen lassen konnte. Dann verschwand sie im Bad, um sich zurecht zu machen. Die Frisur saß wieder perfekt und die Lippen waren nachgezogen.
„Fertig“, strahlte sie ihren Mann an, „fix und fertig“, legte sie noch nach.
Sie ließ deutlich durchblicken, dass sie bemitleidet werden wollte. Ihr Mann stieg voll auf diese Masche ein. Genau das liebte sie so an ihm. Sie legte die Arme um seinen Hals und drückte einen festen Kuss auf seine Lippen.
„Jetzt hast du auch etwas von dem Lippenstift abbekommen“, gluckste sie.
Lulu war stolz auf seine Frau und ließ sich gerne in der Öffentlichkeit mit ihr blicken. Bei „Kramers“ hatten sie ihren Stammplatz, der auch an diesem Abend frei geblieben war. Der Kneipenbesitzer höchstpersönlich hieß sie willkommen. Er reichte Christel die Hand und schlug Lulu freundschaftlich auf die Schulter.
„Gut seht ihr zwei wieder aus“, lachte er, „das Traumpaar unseres Viertels.“
Das Kompliment ging Christel hinunter wie Öl. Sie genoss es, dass die anwesenden Gäste auf diese Art ihre Ankunft mitbekamen und zu ihnen hinüberschauten.
Nachdem sie an dem kleinen Tisch für zwei Personen in ihrer Kuschelecke, wie Christel den Standort 'ihres' Tisches nannte, Platz genommen hatten und Ewald Kramer die Speisekarten gebracht hatte, machte Christel ihrem Mann den Vorschlag, das Ehepaar Antonius in den nächsten Tagen zum Abendessen einzuladen. Lulu war sofort damit einverstanden.
Die Kaiserstraße war die weitaus längste Straße, die sich mitten durch Mühlbach zog. Vom 'Alten Markt', dem höchsten Punkt der Stadt, bis hinunter zum Bahnhofsvorplatz waren es um die drei Kilometer. Wären die niederrheinischen Winter in dieser Zeit schneereicher gewesen, die Kaiserstraße hätte sich als ideale Abfahrtsstrecke angeboten.
Wer in der Innenstadt Einkäufe erledigte oder dort einfach nur spazieren ging, landete irgendwann einmal mit Sicherheit in der Kaiserstraße, auch wenn er sie nur überqueren musste. Die Kaiserstraße ließ man nicht so ohne weiteres links liegen. Es lag in ihrem Charakter, beachtet zu werden. Das hatte ihr in der Stadt den Ruf einer erstklassigen Wohngegend verschafft.
Zwei Drittel der Straße wurden von Bürgerhäusern gesäumt, bewohnt von Anwälten, Ärzten, Geschäftsleuten und Studienräten. Das restliche Drittel lief auf den Bahnhofsvorplatz zu und mündete an der Stelle, wo alle Busse hielten, die ihre Fahrten von dort aus in alle Richtungen der Stadt und ins Umland starteten. Das war der sogenannte Zentrale Busbahnhof. Im unteren Drittel der Kaiserstraße hatten sich Geschäfte, Friseure und Gaststätten angesiedelt.
Die Wohnungen der Ehepaare Lutz und Antonius lagen im zweiten Drittel, ziemlich genau in der Mitte. Adrien Antonius parkte seinen dunkelgrünen VW-Käfer direkt vor dem Wohnhaus. Er hatte Glück, dass er genau an der Stelle seinen Dauerparkplatz hatte und ohne Probleme seinen Wagen dort abstellen konnte. Obwohl Anfang der sechziger Jahre der Besitz eines Autos nicht der Normalfall war, waren viele Anwohner der Kaiserstraße durchaus im Besitz eines Kraftfahrzeugs. Anwälte, Ärzte, Geschäftsleute und Lehrer, vorausgesetzt, letztere befanden sich im gehobenen Dienst und verfügten über gute Einnahmen, waren durchaus in der Lage, sich ohne mit der Wimper zu zucken ein schickes Modell zuzulegen. Schnell war man daran gewöhnt, direkt von der Haustür aus davon zu brausen. Öffentliche Verkehrsmittel waren in diesen Jahren schnell vergessen, da umständlich erreichbar und zeitgebunden. Das hatte zur Folge, dass vor manchen Häusern geballtes Kraftfahrzeugaufkommen herrschte und dementsprechend eng für manche Anwohner die Parkmöglichkeiten wurden.
Da hatte Adrien wieder einmal Glück. Im Haus der Familie Antonius lebte im Parterre und im zweiten und somit letzten Stock des Hauses jeweils ein älteres Ehepaar, die sich mit der Anschaffung eines Autos nicht mehr belasten wollten, wie sie sagten. Im Parterre wohnte ein ehemaliger Steuerberater mit seiner Ehefrau, der vor einigen Jahren bereits seine Kanzlei an einen Nachfolger übergeben hatte. Die Etage über der Familie Antonius bewohnte Professor Ullstein, ehemals Chefarzt der Gynäkologie vom Städtischen Krankenhaus, mit seiner Gattin, einer geborenen von Bogendorff.
Der Herr Chefarzt war jahrelang tagaus tagein von seiner Wohnung aus zur nächsten Straßenbahnhaltestelle in der Prinz-Regenten-Straße gelaufen und hatte die Straßenbahn genutzt, seit diese nach dem Krieg wieder einsatzbereit war. Am Alten Wasserturm war er ausgestiegen und um den Friedhof herum zu seiner Dienststelle im Städtischen Krankenhaus gegangen. Das hielt er auch so, wenn er außerhalb seiner offiziellen Arbeitszeiten zu einem Notfall in die Klinik gerufen wurde. Er begab sich per Tram dorthin.
Der andere Mitbewohner des Hauses, Herr Steuerberater Eckes, hatte all die Jahre seine zwei Kilometer entfernte Steuerkanzlei per Fuß oder bei schönem Wetter mit dem Fahrrad erreicht. Besonders ihn regte es furchtbar auf, wenn durch die Kaiserstraße die Automobile, wie er sie Zeit seines Lebens nannte, rasten. Für ihn waren die Lloyds, die Gogos und VW-Käfer Teufelszeug. Selbst der kleine Kabinenroller fand in seinen Augen keine Gnade. Nie wollte er in so ein Gefährt einsteigen, das hatte er geschworen.
Bis sein Sohn ihn und seine Frau zu einer Fahrt über Land mit seinem neuerworbenen Borgward Isabella abholte. Das war in diesen Jahren ein todschickes Modell der Mittelklasse. Zunächst weigerte er sich strikt mitzufahren. Als seine resolute Frau ihn einen altmodischen unverbesser-lichen Feigling nannte, der panische Angst vor den Neuheiten dieser Zeit hatte und damit drohte, ihn zu verlassen, um zu ihrem Sohn zu ziehen, nahm er all seinen Mut zusammen und stieg ein. Noch tagelang schwärmte er von dieser herrlichen Fahrt über die Dörfer, die er ohne dieses Vehikel, wie er Autos immer noch nannte, nie kennengelernt hätte.
Diese Fahrt hatte wenige Tage vor dem Einzug der Familie Antonius stattgefunden. Zum Glück, wahrscheinlich hätte er sonst Adrien den Besitz seines Käfers nie verziehen und somit ein harmonisches Miteinander in diesem Hause verhindert.
Adrien stellte den Motor ab, stieg aus und schloss seine dunkelgrüne Errungenschaft gewissenhaft ab. In der linken Hand hielt er seine Aktentasche, angefüllt mit Unterlagen für den Mathematik-unterricht und fischte mit der Rechten den Hausschlüssel aus einer Seitentasche. Nachdem er das Treppenhaus betreten hatte und die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen war, sprang er leichten Schrittes, immer eine Stufe auslassend, die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Endlich zu Hause, dachte er erleichtert und schloss die Tür zu seiner Wohnung auf.
„Jemand zu Hause?“, rief er mit lauter Stimme und hatte den Satz kaum beendet, als sein kleiner Sohn aus seinem Zimmer schoss und auf ihn zulief. Adrien stellte seine Aktentasche ab und hob den Kleinen hoch.
„Wieder ein Stück gewachsen“, sagte er fröhlich, „ich war doch nur ein paar Stunden weg und schon ist mein kleiner Sohn einige winzige Millimeter größer geworden.“
Marius kreischte vor Vergnügen, legte die Ärmchen seinem Papa um den Hals und drückte ihn ganz fest. Adrien trug ihn ins Esszimmer. Seine Frau Marghita war gerade dabei, den Tisch für das Abendessen zu decken.
„Papa“, flüsterte ihm der Kleine ins Ohr, „Mama und ich waren heute bei einem Doktor. Ich darf dir das aber nicht verraten, hat die Mama gesagt.“
Adrien erschrak. War jemand krank? Adrien setzte seinen Sohn ab, ging um den Tisch herum auf seine Frau zu und nahm sie in den Arm. Marghita legte das Besteck, das sie gerade in der Hand gehalten hatte, auf den Tisch. Nun waren ihre beiden Hände frei, die sie um Adriens Gesicht legte und ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf seine Lippen drückte. Adrien schlang die Arme um seine Frau und hielt sie so fest, als ob er sie nie mehr loslassen wollte. Am liebsten hätte er es nie mehr getan, sie nie mehr losgelassen. Sie war sein ganzes Glück, das Beste, was ihm in seinem Leben begegnet war. Sollte er sie je verlieren, er würde sich umbringen. Sein Leben hätte dann jeglichen Sinn verloren. Und da war natürlich auch sein kleiner Sohn. Durch ihn wurde das Familienglück komplett.
„Ist einer von euch beiden krank?“, stellte Adrien die Frage, die ihn im Moment am meisten beschäftigte. Er war besorgt.
„Nein“, kam Marghitas Antwort etwas gedehnt. Dabei lächelte sie geheimnisvoll.
„Aber man hat mir so etwas zugeflüstert und nun möchte ich ganz schnell wissen, was dran ist“, forschte Adrien weiter.
„Warte ab“, sagte Marghita nur und war weiter damit beschäftigt, den Tisch fertig zu decken.
Verständnislos schüttelte Adrien seinen Kopf. Dann fiel ihm auf, dass Marghita den Tisch heute besonders schön deckte, geradezu feierlich. Das gute Service, dass sonst nur zu feierlichen Anlässen auf den Tisch kam, war aufgelegt und in der Mitte standen Kerzen und zwei Väschen, in denen rote Nelken steckten.
„Bekommen wir Besuch“, ließ
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2014
ISBN: 978-3-7368-2689-2
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein ganz besonderer Dank gilt meinen drei Töchtern, die mich durch ihre Neugierde, wie die Handlung weitergeht, stets motiviert haben, weiter zu schreiben und Ute, der ich die Idee für dieses Buch verdanke.