Schluchzend stand Isabel am Rande des Smugglers Point und blickte hinunter auf die wild schäumende See. Es schüttete wie aus Kübeln. Das goldene Haar hing ihr wirr in nassen Strähnen im Gesicht. Isabel fror. Der eisige Wind, der vom Meer her über das Land wehte, drang scheinbar ohne jeden Widerstand durch den Stoff ihres dünnen Parkas.
»Was wollt ihr denn noch von mir?«, rief sie ihren Peinigern entgegen. »Was soll ich noch tun, damit ihr mich endlich in Ruhe lasst?«
»Heul doch!«, riefen sie, wie aus einem Munde. »Du wirst niemals eine von uns sein!«
Ihre lachenden Gesichter glichen verzerrten Fratzen. Isabel schauderte. Sie waren Monster aus einem bösen Märchen, die kein Erbarmen kannten. Stöhnend presste sie die Handballen auf die Augen, bis Sterne vor den Netzhäuten explodierten. Was für ein Albtraum! Warum konnten sie sie nicht endlich in Frieden lassen? Was hatte sie ihnen bloß getan? Hatte sie denn kein Recht zu leben, nur weil sie nicht so beliebt und schön war wie sie?
Wie ein in die Ecke gedrängtes Tier wich Isabel zurück, bis es nicht mehr weiter ging. Noch ein Schritt, und all ihre Qualen hätten ein Ende. Nur noch ein Schritt, und es wäre endlich vorbei. Doch war das wirklich der einzige Ausweg?
Niemand wusste, wie sehr sie litt, und niemand schien sich dafür zu interessieren. Weder ihre Eltern, die viel zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt waren, als dass sie die verzweifelten Hilfeschreie ihrer jungen Tochter bemerkt hätten, noch die Lehrer. Nein, Isabel stand völlig allein da. Der einzige Mensch, auf den sie sich jemals bedingungslos hatte verlassen könnten, war fort.
Was hatte das Leben noch für einen Sinn? Warum sich länger Tag für Tag ihren Schikanen aussetzen?
Tief atmete das sie durch und nahm all ihren Mut zusammen. Als sie den letzten entscheidenden Schritt machte und mit den Füßen ins Leere trat, umspielte ein feines Lächeln ihre Mundwinkel.
Isabel fiel.
Kein Laut verließ ihre Lippen. Stumm wie ein Stein stürzte sie den dreißig Meter tiefen Abgrund hinab. Dann verschlang das Meer ihren Körper, um ihn niemals wieder freizugeben.
Was für ein herrlicher Tag. Strahlend steht die Sonne am makellos blauen Himmel. Es ist sehr warm, die Menschen genießen den Sommer und lassen es sich gutgehen.
Vom Pier her kann man deutlich das Geschrei der Möwen hören. Ich sehe sie förmlich vor mir, wie sie für ein paar Brocken Fisch, die immer für sie abfallen, wenn die Fischer ihren Fang an Land bringen, aufeinander einhacken. Ich schließe die Augen, und für einen Moment verwandelt sich in meinem Kopf das Kreischen der Möwen in menschliche Angstschreie.
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.
Ich öffne die Augen wieder. Da sitzen sie, in trauter Runde vereint. Ein paar Kids, scheinbar ganz normale Jugendliche. Sie lachen und amüsieren sich. Wie schön. Es freut mich, dass sie ihr Leben genießen. Sollen sie doch, so lange sie noch Gelegenheit dazu haben. Denn schon in ein paar Wochen ist es vorbei mit ihrem unbeschwerten Dasein. Bald, sehr bald, werden sie nichts mehr zu lachen haben.
Unbändige Freude steigt in mir auf, wenn ich mir vorstelle, wie sie heulend und winselnd vor mir stehen. Um ihr Leben werden sie mich anflehen. Mich anbetteln, ihnen kein Leid anzutun. Aber sie brauchen nicht auf Gnade zu hoffen. Nein, da können sie lange warten.
Ich werde sie büßen lassen für das, was sie getan haben. Bald werden sie am eigenen Leib erfahren, wie es ist, verzweifelt zu sein. Dafür werde ich höchstpersönlich sorgen. Und, was soll ich sagen? Ich freue mich darauf. Das wird ein Spaß.
Ein Mordsspaß!
WELCOME TO DEDMON’S LANDING
Als der alte Van der Taylors das Ortsschild passierte, brachen im Inneren des Wagens regelrechte Begeisterungsstürme aus. Tullys Mom plapperte wie ein Teenager, während ihr Dad anscheinend gar nicht mehr aufhören konnte zu grinsen. Sogar ihr kleiner Bruder Toby, mit dem sie gezwungenermaßen auf der Rückbank des Vans saß, strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
War Tully denn wirklich die Einzige, die bei diesem Anblick am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre?
Doch ihr blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ihre Eltern waren so happy, dass sie am Ende bloß sauer geworden wären, hätte Tully ihren Gefühlen freien Lauf gelassen. Gleichzeitig fragte sie sich aber, warum sie überhaupt so rücksichtsvoll war. Um ihre Gefühle scherte sich hier doch auch niemand!
Von Anfang an hatte Tully ihren Standpunkt klar vertreten, als ihre Eltern sie vor knapp einem halben Jahr zum ersten Mal gefragt hatten, was sie davon hielt, aus San Francisco wegzuziehen. Ihre Antwort war ein eindeutiges Nein gewesen. Sie wollte nicht weg aus San Francisco. Dort lebten all ihre Freunde, dort ging sie zur Schule, dort war sie aufgewachsen. Allein bei der Vorstellung, ihr Zuhause verlassen zu müssen, war ihr ganz anders geworden.
Genutzt hatte all ihr Protest jedoch nichts. Natürlich hatten ihre Eltern einfach über ihren Kopf hinweg entschieden, und da waren sie nun, in Dedmon’s Landing, einem winzigen Kaff an der Küste, in dem sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten.
Tully stöhnte unterdrückt, als sie in den Ort hinein fuhren. Dedmon’s Landing war sogar noch schlimmer, als sie erwartet hatte. Und das wollte was heißen! Hier gab es weder eine Shopping Mall noch ein Kino, geschweige denn eine Disco. Die Häuser bestanden allesamt aus demselben schmutzig grauen Holz, aus dem auch die kleine Kirche errichtet worden war, die sich im Zentrum der Ortschaft befand. Diese war gleichzeitig das höchste Gebäude von ganz Dedmon’s Landing, denn keines der Häuser hatte mehr als zwei Stockwerke. Nett formuliert war die Stadt mehr als übersichtlich – doch Tully war absolut nicht nach Nettigkeit zu Mute.
Na wunderbar, dachte sie frustriert. In diesem öden Fischerdorf soll ich also den Rest meiner Jugend fristen. Für eine Fünfzehnjährige, die an den Trubel und das Freizeitangebot von San Francisco gewöhnt war, konnte eine Fahrt in die Hölle nicht schlimmer sein.
Die Frage ihrer Eltern damals war rückblickend nicht mehr als ein schlechter Witz gewesen. Tully hatte geheult und gefleht, hatte immer wieder versucht, ihren Eltern klar zu machen, dass sie nicht aus San Francisco weg wollte – doch das alles hatte nichts genutzt. Ihr Vater wollte unbedingt hierher, weil ihm ein lukrativer Job angeboten worden war, und ihre Mutter glaubte, dass es für das Familienleben nur von Vorteil sein konnte, der Großstadt den Rücken zu kehren. Dass Tully das ganz anders sah, kümmerte dagegen niemanden.
Toby, ihr kleiner Bruder, hatte von Anfang an seinen Spaß gehabt. Er sah das Ganze als großes Abenteuer, und als er gehört hatte, dass es gleich um die Ecke einen Freizeitpark namens Pirates Adventureland gab, war für ihn alles klar gewesen. Von da an hatte er den Umzug kaum noch erwarten können. Aber Toby war acht! In spätestens fünf Jahren würde er seine Eltern für diese Sache ebenso verfluchen, wie Tully es heute schon tat.
Nachdem sie den Ort fast komplett durchquert hatten – was nicht sehr lange gedauert hatte –, stoppte Mr. Taylor den Van vor einem kleinen, ziemlich altmodisch wirkenden Haus. »So, da wären wir«, sagte er stolz. »Caroline, Kinder, das ist unser neues Zuhause. Na, was sagt ihr?«
Tobys Jubelschreie waren so laut, dass es Tully in den Ohren dröhnte. Hastig schnallte er sich ab und stürmte aus dem Van. Auch Mr. und Mrs. Taylor waren bereits ausgestiegen. Tully hingegen wäre am liebsten im Wagen geblieben. Aber es nutzte ja doch nichts. Irgendwann musste sie ihrem neuen Leben sowieso hallo sagen, und es brachte nichts, dies auf die lange Bank zu schieben. Noch einmal atmete sie tief durch, dann löste sie den Sicherheitsgurt und stieg ebenfalls aus.
Viel zu sehen gab es nicht. Das weißgetünchte Haus, in dem sie von nun an mit ihrer Familie leben würde, war klein und wirkte spießig, mit rot gestrichenen Holzfensterrahmen und niedlichem Vorgarten. Die nächsten Häuser standen etwas abseits und sahen genauso aus. Bei dieser Vorstadtidylle konnte einem echt schlecht werden.
Na, das kann ja heiter werden, dachte Tully seufzend. Hoffentlich wird man hier nicht automatisch zum Spießer!
Mrs. Taylor bemerkte ihren Blick. Aufmunternd lächelte sie ihrer Tochter zu. »Ich weiß, es ist eine Umstellung für dich, Honey«, sagte sie mitfühlend, »aber du wirst schon sehen: Nur ein paar Tage, dann hast du dich hier eingelebt, und danach sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«
Warum nur kann ich daran im Moment so gar nicht glauben?, dachte Tully seufzend.
Eine Woche später. Es war Nachmittag, die Schule war zu Ende, und das Burger Shack, der einzige In-Treff in Dedmon’s Landing, platzte aus allen Nähten. In den letzten Tagen war Tully schon ein paar Mal hier gewesen, doch so viele Jugendliche auf einem Haufen hatte sie in dem kleinen Lokal, in dem es neben Burgern und Pommes auch die besten Milchshakes der Welt gab, noch nie gesehen. Kein Wunder, heute war der erste Schultag nach den Sommerferien, und die meisten Kids waren erst gestern mit ihren Eltern aus dem Urlaub wiedergekommen.
Tully jedenfalls war happy. Sie hatte eine Mordsangst vor ihrem ersten Schultag an der Dedmon’s High gehabt. Zwei Nächte lang hatte sie kaum ein Auge zubekommen, sich immer wieder ein und dieselben Fragen gestellt: Wie waren die anderen in der Klasse wohl drauf, und wie die Lehrer? Und wie war überhaupt das Klima an der Schule? Würde sie schnell Anschluss finden oder auf ewig eine Außenseiterin bleiben?
Nun, die letzten beiden Fragen waren noch offen geblieben. Groß angefreundet hatte sie sich eigentlich mit niemandem, dafür war es wohl auch noch zu früh. In den Pausen standen die meisten Schüler in Grüppchen zusammen und erzählten sich gegenseitig von ihren Erlebnissen in den Ferien. Aber allgemein schienen alle ganz locker drauf zu sein. Und die Lehrer waren wohl auch ziemlich in Ordnung. Mrs. Stonehang, eine ältere, grauhaarige Frau mit einer dicken Hornbrille und zugleich Tullys Klassenlehrerin, hatte die neue Schülerin vor versammelter Mannschaft vorgestellt, die daraufhin von ihren Mitschülern mit großem Applaus und Hallo-Rufen willkommen geheißen worden war.
Was den Unterrichtsstoff anging, hinkten die Schüler der Dedmon’s High offenbar ziemlich hinterher. Alles, was an diesem ersten Schultag nach den Ferien in den einzelnen Fächern durchgenommen wurde, hatte Tully jedenfalls schon vor einem Jahr in ihrer alten Schule in San Francisco pauken müssen. Ein eindeutiger Vorteil also.
Das Burger Shack war wie ein traditioneller Diner aufgemacht und hatte es Tully sofort angetan, erinnerte es sie doch sehr an San Francisco. Überall standen schmale, mit rotem Kunstleder überzogene Bänke, auf jedem Tisch warteten Ketchup- und Senfflaschen auf Benutzung, an der Bar blinkten lauter Leuchtreklameschilder, und jeder, der etwas aß, bekam automatisch ein Glas Eiswasser serviert.
Fast wie zu Hause, dachte Tully lächelnd. Als sie jetzt nach einem freien Tisch Ausschau hielt, wurde sie jedoch enttäuscht. Auch an der Bar war kein Hocker mehr frei. Sie wollte gerade schon wieder den Rückzug antreten, als ihr plötzlich ein Mädchen zuwinkte, das an einem der Tische saß.
»Hey, willst du dich nicht zu mir setzen?«
Tully musterte das Mädchen neugierig. Es war in ihrem Alter, schlank, hatte langes dunkles Haar und trug ziemlich altmodische Klamotten. Tully erinnerte sich an das Mädchen, das in dieselbe Klasse ging wie sie, aber ganz hinten saß.
»Gerne«, sagte sie und ließ sich dem Mädchen gegenüber auf die Sitzbank gleiten. »Mann, hier ist ja was los.«
»Um die Zeit ist das normal.« Das Mädchen streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin übrigens Abby. Abby Marriot. Du heißt Tully, stimmt’s? Wie lange bist du schon hier?«
»Seit einer Woche.«
Abby nickte. »Ich bin erst gestern mit meinen Eltern aus Europa zurückgekommen. Wir machen da immer zwei Wochen Urlaub bei meiner Tante. Und du? Wo hast du bisher gelebt?«
»San Francisco.«
»Echt?« Abby lachte. »Mann, und was hat dich dann in unsere pulsierende Großstadt verschlagen?«
Tully winkte ab. »Frag mich nicht. Meine Eltern wollten es so.«
»Na ja, damit«, sie deutete auf Tullys Nasenstecker, »wird man dich jedenfalls schon bald als Freak abstempeln.«
»Echt? Ach, deshalb gucken mich die Leute immer so schief an. Ist das hier so was Ungewöhnliches? Bei uns ist das schon fast altmodisch.«
»In einem Dorf wie Deadman’s Landing ticken die Uhren halt ein bisschen anders. Meine beste Freundin ist aber noch ärmer dran, sie hat nämlich gleich mehrere Piercings und sogar ein paar Tattoos. Du müsstest sie auch schon gesehen haben, sie ist eine Klasse über uns, und in den Pausen hänge ich immer mit ihr rum.«
»Moment mal, sagtest du gerade Deadman’s Landing? Was um alles in der Welt hat das zu bedeuten?«
»Ach, das … Ah, da ist Lizzie ja.« Abby winkte einem Mädchen zu, das gerade den Diner betrat. »Hey, Lizzie, hier bin ich!«
Lizzie erblickte die beiden und setzte sich neben Abby an den Tisch. »Tully, das ist Lissy«, sagte Abby. »Lizzie, das ist Tully.«
Lizzie nickte. »Ich weiß. So oft kommt es in Deadman’s nicht vor, dass man neue Gesichter an der Schule sieht. Da merkt man sich den Namen gleich.«
Da war es schon wieder. Deadman’s! Tully fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Na ja, das würde sie schon noch rausfinden. Jetzt aber musterte sie ihre neue Bekanntschaft erst einmal eingehend. Lizzie war ein hübsches Mädchen, groß und schlank, mit tollen, langen Haaren, die blauschwarz gefärbt waren. An der Lippe hatte sie ein Piercing, an der Zunge ebenfalls, was ein leichtes Lispeln zur Folge hatte, und an ihrem rechten Oberarm entdeckte Tully ein Tattoo in Form eines Drachen, das jetzt sehr gut zu erkennen war, da Lizzie nur ein enges schwarzes Top mit schmalen Ärmeln trug. Schwarz schien ohnehin ihre Lieblingsfarbe zu sein, sie hatte nämlich auch noch eine schwarze Hose an, und der dunkle Lidschatten fiel in ihrem ansonsten eher blassen Gesicht besonders auf. Um den Hals trug sie eine Kette mit einem kleinen silbernen Totenschädel.
Ja, Tully konnte sich vorstellen, dass Lizzie in Dedmon’s als Freak galt. In San Francisco hätte das niemanden gestört, wie wohl auch in jeder anderen größeren Stadt, aber in einem verschlafenen Nest wie diesem traf einige Leute sicher der Schlag, wenn sie Lizzie sahen.
»Nanu, kein dummer Spruch über mein Outfit?«, fragte Lizzie, nachdem sie sich einen Erdbeershake bestellt hatte.
Tully hob die Schultern. »Hey, ich komme aus der Großstadt. Da ist so was nichts Besonderes. Außerdem finde ich es cool.«
Das stimmte in der Tat. Tully mochte es, wenn Leute aus der Reihe fielen und den Mut hatten, Dinge zu tun, die allgemein nicht unbedingt als normal galten. Sie selbst hatte auch schon oft überlegt, mal etwas Außergewöhnliches zu probieren, war am Schluss dann aber doch nicht mutig genug gewesen. Außerdem hätten ihre Eltern ihr sicher etwas anderes erzählt, wenn sie mit irgendwelchen Tattoos angekommen wäre.
»Na, was meinst du?«, fragte Abby, an Lizzie gewandt. »Sollen wir unserer neuen Mitschülerin eine gratis Sightseeing-Tour durch unsere tolle Mega-Metropole anbieten?«
»Klar, warum nicht?«, sagte Lizzie spontan zu. »Also, was ist, Tully? Hast du Lust?«
Tully strahlte. Wie es aussah, hatte sie endlich Anschluss in Dedmon’s Landing gefunden. Abby und Lizzie schienen echt auf derselben Wellenlänge zu sein wie sie. Sollte die Aussicht, hier den Rest ihrer Jugend verbringen zu müssen, vielleicht doch nicht so schrecklich sein, wie sie anfangs gedacht hatte?
»So, und das wäre jetzt also die letzte Station unserer Führung. Ladies und Gentlemen, ich präsentiere Ihnen die wahrscheinlich höchste Landerhebung im Umkreis von mindestens fünf Meilen. Tadaaa – der weltberühmte Smugglers Point!«
Während Lizzie und Abby sich vor Lachen beinahe ausschütteten, blinzelte Tully irritiert. »Smugglers Point? Sagt mal, kann es sein, dass ihr hier in der Gegend eine echt schräge Namensgebung habt? Ich meine, ernsthaft: Vorhin habt ihr mir diese komische Insel von Weitem gezeigt, Isla de los Muertos? Dann diesen Felsen, der die Form eines Reißzahns hat und Devils Tooth genannt wird. Und jetzt Smugglers Point? Wer kommt denn auf solche Namen?«
Lizzie seufzte. »Das ist aber echt auch schon alles, was wir hier draußen zu bieten haben. Deadman’s ist nicht gerade der Nabel der Welt, wie du angesichts unserer genialen Sightseeing-Tour schon bemerkt haben dürftest.«
»Aber irgendwas müssen diese Namen doch zu bedeuten haben«, beharrte Tully. »Apropos, mir ist aufgefallen, dass die Kids hier den Ort immer Deadman’s nennen. Richtig heißt es doch Dedmon’s, oder?«
»Ja, das ist so ein Spitzname, weißt du? Das hat alles ziemlich viel mit der Vergangenheit des Ortes zu tun. Die war nämlich alles andere als sonnig, musst du wissen. Bis weit ins letzte Jahrhundert haben hier Schmuggler ihr Unwesen getrieben, und vorher soll Dedmon’s Landing mal ein richtiges Piratennest gewesen sein. Es gibt eine Menge gruselige Geschichten mit massenweise Blut und Gemetzel. Deshalb auch all die seltsamen Namen, schätze ich. Von den guten alten Zeiten ist ansonsten allerdings kaum etwas übrig geblieben – was Spannendes ist hier jedenfalls in den letzten fünfzehn Jahren nicht passiert.«
Tully nickte. Für alles, was mit Geschichte zu tun hatte, war sie schon immer Feuer und Flamme gewesen. Sie brannte darauf, mehr über die Vergangenheit von Dedmon’s Landing herauszufinden, denn es versprach echt spannend zu werden. Doch das konnte warten. Jetzt wollte sie sich erst einmal auf die Gegenwart konzentrieren.
»Und was macht ihr hier so, wenn ihr nicht gerade im Shack rumhängt? Viel zu tun gibt es in der Gegend ja nicht gerade, wenn ich das richtig verstanden habe.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie haltet ihr das bloß aus? Das ist ja voll öde hier.
»Ach, im Laufe der Zeit findet man sich einfach damit ab«, erklärte Lizzie. »Außerdem bleiben die meisten Kids eh nur, bis sie volljährig sind. Danach machen sie die Biege und versuchen woanders ihr Glück. Na ja, der Arbeitsmarkt in Deadman’s ist, wie du dir sicherlich vorstellen kannst, ziemlich übersichtlich. Posten als Börsenmanager und Filmstars sind hier jedenfalls rar gesät. Die meisten verdienen ihr Geld als Fischer. Oder sie haben kleine Geschäfte.«
»Oder arbeiten im Freizeitpark«, fügte Tully hinzu. »Wie mein Vater.«
»Ach, dein Dad arbeitet im Pirates Adventureland?«, fragte Abby. »Ist ja cool. Der Park ist die Sensation hier, der wurde erst letztes Jahr gebaut. Da müssen wir unbedingt mal alle zusammen hin. Die Achterbahnen sind echt spitze, und die Wildwasserbahn ist auch genial.«
Tully nickte. »Klar, da wollte ich sowieso mal hin. Mein Vater hat schon einen Stapel Freikarten bekommen.
»Das wird ja immer besser!«, freute sich Abby.
»Was ist, gehen wir zum Hafen?«, fragte Lissie schließlich. »Das ist dann damit auch sozusagen das Highlight unserer Tour.«
Abby verzog das Gesicht. »Tolles Highlight. Ein paar Boutiquen und jede Menge Fischerhütten. Echt spannend.«
»Hast du einen besseren Vorschlag?« Lizzie lachte. »Immerhin bekommen wir dort das beste Eis in der Umgebung. Natürlich nur, sofern Carl noch da ist.«
»Carl?« Tully schaute ihre neuen Freundinnen der Reihe nach an.
»Ach«, erwiderte Lizzie grinsend. »Den kennst du ja auch noch nicht. Na, dann wird es aber Zeit, dass wir diese Wissenslücke füllen. Komm schon, machen wir uns auf den Weg.«
Der Hafen von Dedmon’s Landing war in der Tat nicht gerade besonders aufregend – zumindest, wenn man ihn mit dem von San Francisco verglich. Es gab einige kleinere Geschäfte und ein spärliches Gastronomieangebot, das sich – oh Wunder! – auf frischen Fisch spezialisiert hatte. Ansonsten gab es nicht viel zu sehen, wenn man einmal von den Fischerbooten absah, die gerade in den Hafen zurückkehrten. Alles in allem war Tully nicht gerade enttäuscht, da sie es nicht anders erwartet hatte, aber ein wenig ernüchternd war der Anblick dann doch.
»Hey, da ist er ja!«, rief Lizzie laut. »Carl! Wir brauchen dringend eine Extraportion von deinem berühmten Erdbeer-Vanille-Becher!«
Tully wandte sich um und entdeckte nun auch den kleinen Eiswagen mit dem rotweiß gestreiften Sonnenschirm. Der Wagen wurde, wenn er nicht gerade stand, so wie jetzt, von einem Fahrrad gezogen. Erst auf dem zweiten Blick fiel Tully der Junge auf, der mit einem weißen Shirt und einer roten Schürze bekleidet hinter der Verkaufstheke stand. Ihr stockte der Atem. Wow! Wer war denn das?
So was hatte Tully noch nie erlebt. Ihr Herz hämmerte wie wild, und in ihrem Bauch schien eine ganze Flotte von Flugzeugen zu kreisen. Dieser Typ war aber auch der absolute Hammer! Dunkelhaarig und sportlich waren es vor allem seine strahlend blauen Augen, die sie sofort in ihren Bann schlugen.
Klar, in einer Großstadt wie San Francisco waren Tully tagtäglich eine Menge sexy Jungs über den Weg gelaufen, aber keiner konnte es mit diesem Eisverkäufer aufnehmen. Dabei war sein Outfit alles andere als bestechend – das wog er mit seiner wahnsinnigen Ausstrahlung jedoch locker wieder auf.
»Erde an Tully, Erde an Tully.«
Es dauerte einen Moment, bis Tully wieder auf dem Boden der Tatsachen angelangt war, doch dann bemerkte sie, dass ihre neuen Freundinnen sie grinsend musterten. Lizzie knuffte Abby in die Seite. »Hast du das gesehen? Ich glaube, Carls Fanclub hat sich gerade um ein weiteres Mitglied erweitert.« Sie feixte. »Ich weiß gar nicht, warum sein Charme auf mich einfach keine Wirkung hat – aber ich schätze, es könnte damit zusammenhängen, dass er mein großer Bruder ist, was meinst du?«
»Dieser hammergeile …Ich meine, dieser nette Typ ist dein Bruder?« Tully schüttelte den Kopf. »Mensch, hast du ein Glück.«
»Glück? Warum, weil ich das einzige weibliche Wesen zu sein scheine, das gegen seinen geballten Charme immun ist?« Lizzie kicherte. »Nee, aber du hast schon recht, ich hätte es echt schlechter treffen können. Carl ist in Ordnung. Wenn du willst, stelle ich ihn dir vor.«
Tully war sofort Feuer und Flamme – doch Abby antwortete für sie, ehe sie auch nur den Mund aufmachen konnte. »Ob sie will? Lieber Himmel, Lizzie, schau sie dir doch an – klar will sie!«
Obwohl ihre Knie mit einem Mal weich wie Gummi zu sein schienen, schaffte Tully es, den Weg bis zum Eiswagen einigermaßen mit Anstand hinter sich zu bringen. Als sie angekommen waren, wurden sie von Lizzies Bruder mit einem strahlenden Lächeln begrüßt, das Tullys Atem stocken ließ. Was war bloß mit ihr los? Sie war doch sonst nicht so leicht zu beeindrucken.
»Du musst Tully sein.«
Als Carl ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, war Tully für einen Moment wie weggetreten. In ihren Ohren rauschte es, was nicht an den Wellen lag, die gegen die Kaimauer schlugen. Nein, es war Lizzies Bruder, der sie so aus der Fassung brachte. Sie konnte ihn nur anschauen, und erst als Abby sie kichernd mit dem Ellbogen in die Seite stieß, merkte sie, dass sie ihn die ganze Zeit über angestarrt hatte.
Das Blut schoss ihr ins Gesicht, und sie wäre am liebsten im Boden versunken, doch Carl ging lässig über ihre Verlegenheit hinweg. Als sie sich die Hände schüttelten, traf die Berührung Tully wie ein kleiner, elektrischer Stromschlag. Aus der Nähe betrachtet sah Lizzies Bruder sogar noch besser aus. Einfach zum Verrücktwerden! Sie schluckte mühsam, ihre Kehle fühlte sich an wie ausgetrocknet. »Freut mich, dich kennenzulernen«, krächzte sie heiser. »Ich bin Tully.«
Er lächelte, was Tully schon wieder zum Dahinschmelzen brachte. »Das weiß ich doch. Hier in Deadman’s bekommt man nicht gerade häufig ein fremdes Gesicht zu sehen. Du und deine Familie seid im ganzen Ort das Gesprächsthema Nummer
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Tag der Veröffentlichung: 13.07.2023
ISBN: 978-3-7554-4679-8
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