Vor der Küste von Dedmon’s Landing
Im Jahre des Herrn 1810
Den größten Teil seines Lebens hatte Sergiu Antonescu auf dem Meer verbracht, zuerst als Bootsjunge, jetzt als Kapitän des stolzen Segelschiffes Dobrudscha. Er kannte sich mit den Unbilden der Natur aus, wusste um die Gefahren, die das Reisen auf hoher See mit sich brachte. Einen solchen Sturm wie in dieser unglückseligen Nacht hatte er noch allerdings noch nie erlebt.
Die ganze Welt schien nur noch aus Wasser zu bestehen. Der Wind türmte das Meer zu meterhohen Wellen auf, die über die Dobrudscha hinwegrollten und jeden mit sich rissen, der so unvorsichtig war, sich ohne festen Halt an Deck aufzuhalten.
Antonescu selbst hatte sich mit Seilen am Ruder festbinden lassen, um nicht von Bord geschwemmt zu werden. Trotzig reckte er sein Gesicht gegen den Sturm, während der Regen wie tausend Nadelstiche auf seiner Haut brannte. Blitze zuckten aus dem fast schwarzen Himmel.
Was für eine schreckliche Nacht!
Den alten Ion hatte sich das Meer bereits geholt. Ebenso wie den armen Teufel von Passagier, für den in der Neuen Welt ein neues Leben hatte beginnen sollen – und der jetzt irgendwo auf dem Meeresgrund vermodern würde.
Die übrigen Passagiere, erschreckt vom Tod ihres Mitreisenden, hockten jetzt zitternd und bangend unter Deck zusammen wie verängstigte Schafe. Wahrscheinlich beteten sie. Antonescu spuckte aus. Als ob ihnen das etwas nutzen würde!
Was ihm Sorge bereitete, war weniger der Sturm selbst, als dass dieser ihn sämtlicher Möglichkeiten beraubte, sich zu orientieren. Sie befanden sich irgendwo nahe der Küste, und der Kapitän wusste, dass es hier gefährliche Klippen und Sandbänke gab. Wenn es ihnen gelang, die zu umschiffen, standen die Chancen gut, diese Hölle hier zu überleben.
Aber wenn nicht …
Verdammt, er konnte nicht einmal die Sterne oder den Mond am Himmel sehen. Die schwarzgraue Wolkendecke hing so tief, dass er das Gefühl hatte, sie berühren zu können, wenn er nur die Hand danach ausstreckte.
Aber da! War da nicht gerade ein Lichtschimmer gewesen?
Antonescu kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt in die brodelnde Dunkelheit. Ja! Da war es schon wieder!
Erleichtert wischte der Kapitän der Dobrudscha sich den Schweiß von der Stirn. Ein Leuchtfeuer, was für ein Glück! Mithilfe dieses Signals würde es ihm gewiss gelingen, das Schiff aus der Gefahrenzone zu bringen und es aus dem Sturm zu steuern.
Dem Himmel sei Dank, dachte er, wir sind gerettet!
Er war sogar noch voller Hoffnung, als der Rumpf der Dobrudscha nur Minuten später von den messerscharfen Klippen an der Küste aufgerissen wurde. Der Kapitän schrie vor Entsetzen auf. Wie konnte das sein? Er hatte sich doch genau an dem Leuchtfeuer orientiert!
In Panik drängten nun die Passagiere und Mannschaftsmitglieder an Deck. Bereits die erste Welle beförderte ein halbes Dutzend von ihnen von Bord. Der Rest klammerte sich verzweifelt an Masten und Pfosten fest.
Alle, bis auf einen.
Antonescu blinzelte verblüfft, als er den Jungen erblickte, der am Bug des Schiffes stand, die Arme zum Himmel gereckt.
Gischt spritzte auf, als ein weiterer Brecher frontal mit der Dobrudscha kollidierte. Das ganze Schiff stöhnte protestierend, und der Kapitän wandte den Blick ab, um nicht mit ansehen zu müssen, wie der Junge ins Meer gerissen wurde.
Als er wieder aufblickte, erlebte er eine Überraschung.
Der Junge – er war immer noch da!
Wild gestikulierend stand er da. Seine Lippen bewegten sich, doch der Wind riss die Worte mit sich, sodass der Kapitän sie nicht verstehen konnte.
Das Schiff sank nur langsam. Nach ein paar Minuten erst wurde das Deck von Wasser überspült. Die Passagiere, die bislang verschont geblieben waren, rannten in Panik umher – ohne jegliche Aussicht auf Rettung, wie der Kapitän wusste.
Kurze Zeit später reichte das Wasser Antonescu bereits bis zu den Hüften, etwas später bis zu den Schultern und dann bis zum Kinn.
Er verzichtete darauf, jemanden darum zu bitten, ihn loszubinden. Ganz davon abgesehen, dass die Menschen in ihrer Angst wahrscheinlich ohnehin nicht auf ihn gehört hätten, wollte er lieber zusammen mit seinem Schiff untergehen, als an der Meeresoberfläche um sein Leben zu kämpfen, das er ohnehin nicht retten konnte.
Das Letzte, was er sah, ehe das Wasser über seinem Kopf zusammen schwappte, war der Junge.
In eine rot glühende Blase eingehüllt, schwebte er gut einen halben Meter über der Wasseroberfläche. Mit kalten Augen schaute er hinunter auf die Ertrinkenden. Dann wandte er den Blick ab und stieg in die Höhe, während Antonescu und seine Leidensgenossen in die dunklen Tiefen des Ozeans gerissen wurden.
Als das unbarmherzige Klingeln ihres Weckers sie am Montagmorgen aus dem Schlaf riss, widerstand die sechzehnjährige Willow Bukannon nur mühsam dem Drang, das Teil mit aller Kraft gegen die Wand zu schleudern.
Stattdessen drückte sie dann doch lieber einfach auf den Off-Knopf.
Verschlafen rieb sie sich die Augen. Anschließend horchte sie in sich hinein, fasste sich an die Stirn, schluckte ein, zwei Mal und zog die Nase hoch.
Mist, dachte sie frustriert, wieder nichts. Kein Fieber, kein Halsweh, kein Schnupfen.
Also keine Chance, von Mom eine Entschuldigung für die Schule zu bekommen! Fluchend und ohne jeden Elan krabbelte sie aus dem Bett. An Tagen wie diesen war es echt lästig, eine Ärztin als Mutter zu haben. Während andere Mütter auf den guten alten Reib-das-Fieberthermometer-zwischen-den-Händen-Trick reinfielen, konnte man Mrs. Bukannon so leicht nichts vormachen. Simulieren war da vergebliche Liebesmüh.
Mit einem resignierten Seufzen schlurfte Willow ins Bad und wusch sich mit eiskaltem Wasser das Gesicht, was zumindest die Müdigkeit einigermaßen vertrieb.
Natürlich wusste sie, dass es total uncool war, sich irgendwelche Krankheiten herbeizusehnen. Schließlich gab es genug Menschen auf der Welt, denen es nicht gut ging. Dennoch – so ein kleiner Schnupfen oder ein leichtes Kratzen im Hals, verbunden mit minimal erhöhter Temperatur, wären ihr an diesem Morgen tausendmal lieber gewesen als die Gewissheit, gleich in die Schule zu müssen.
Dafür gab es mehrere Gründe: Zum einen hatte sie sich noch immer nicht recht an der Dedmon’s High, die sie jetzt seit knapp einem halben Jahr besuchte, eingelebt, was vor allem an Lisa Montgomery lag. Lisa war das Oberhaupt einer Clique, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Willow und ihrer einzigen Freundin Judy Oberman das Leben schwer zu machen. Und dabei schreckte sie so ziemlich vor gar nichts zurück.
Außerdem stand heute noch eine Geschichtsarbeit auf dem Programm, und Willow hatte mal wieder keinen Plan von dem Stoff. Sie kam in der Schule einfach nicht mehr klar, seit sie hier lebten.
Nachdem sie sich das Gesicht trockengerubbelt hatte, betrachtete sie es im Spiegel und ärgerte sich dabei, dass nicht mal die Blässe um ihre Nase herum Grund zur Besorgnis für ihre Mom sein könnte, schließlich nahm Willows Gesicht von Natur aus kaum mal Farbe an.
Schon immer war sie ziemlich blass gewesen, weshalb Mrs. Bukannon auch nicht verstehen konnte, dass ihre Tochter vor einiger Zeit begonnen hatte, sich das eigentlich kastanienbraune schulterlange Haar schwarz zu färben.
»Das lässt dich doch nur noch blasser erscheinen, Kind«, hatte Willow zu hören gekriegt. »Und die schwarzen Klamotten, die du neuerdings immer trägst, passen auch nicht gerade gut zu deiner hellen Haut!«
Willow hatte gar nicht richtig hingehört. Hier rein, da raus. Schwarz war nun mal die Farbe, mit der sie sich augenblicklich am meisten identifizieren konnte. Aber so was verstand ihre Mom natürlich nicht. Außerdem wäre es ohnehin ein Wunder gewesen, wenn sie mal irgendetwas gut gefunden hätte, das ihre Tochter tat.
Aber darauf konnte Willow wahrscheinlich noch die nächsten hundert Jahre warten. Es war doch sowieso immer dasselbe: Was sie auch machte, es gefiel ihrer Mutter grundsätzlich nicht.
Nicht so bei Josh, Willows fünf Jahre jüngeren Bruder. Der konnte zwar auch machen, was er wollte, allerdings mit dem Unterschied, dass bei ihm immer alles ganz toll oder zumindest »nicht so schlimm« war.
Joshua Bukannon, das Nesthäkchen der Familie. Willow nervte das schon lange an. Natürlich war ihr klar, woran es lag, dass ihre Mutter ihn so bevorzugte: Josh litt an Asthma, und seit die Krankheit bei ihm festgestellt worden war, drehte sich alles nur noch um ihn. Das ging sogar so weit, dass Willow sie manchmal dafür kriegte, wenn ihr Bruder etwas ausgefressen hatte.
»Dann hättest du halt mal ein bisschen auf ihn Acht geben müssen«, sagte ihre Mom in so einem Fall gern. »Du bist schließlich seine große Schwester!«
In solchen Momenten hasste sie ihren Bruder, den armen kleinen Josh! Gleichzeitig hasste sie aber auch sich selbst, wenn derartige Gefühle in ihr aufkamen. War es okay, so über Josh zu denken? Er war doch immerhin ihr Bruder, und außerdem war er krank.
Und genau wegen dieser Krankheit hatte ihre Mutter vor etwas über einem halben Jahr den Entschluss gefasst, nach Dedmon’s Landing zu ziehen. »Die gute Seeluft wird deinem Bruder guttun«, hatte sie zu Willow gesagt. »Und ob ich dort oder hier als Ärztin arbeite, spielt für mich keine Rolle. Der Doktor von Dedmon’s Landing geht nämlich in den Ruhestand, und ich kann seine Praxis übernehmen. Ich habe schon alles geregelt. Eine Patientin von mir, deren Tante dort wohnt, hat mich darauf gebracht.«
Tja, und jetzt waren sie hier. Seit einem halben Jahr schon. Willow stöhnte. Dedmon’s Landing war mit Sicherheit das kleinste und ödeste Dorf auf der ganzen Welt. Von den Kids hier wurde es »Deadman’s Landing« genannt. Den genauen Grund dafür kannte sie nicht. Es hatte irgendetwas damit zu tun, dass in der Vergangenheit mal schlimme Dinge in dem Ort passiert waren.
Willow jedenfalls würde sich hier nie einleben, das stand für sie fest. Was konnte ihr dieses Kaff denn schon bieten? Nichts. Höchstens jede Menge Ärger in der Schule und mit Lisa Montgomery. Und ihre Freundinnen konnte sie an genau einem Finger abzählen.
In San Francisco hatte das ganz anders ausgesehen! Aber das war auch kein Wunder, da waren die Kids anders gewesen. Hier in diesem Kaff kam Willow sich nicht selten allein wegen ihres Musikgeschmacks wie eine Aussätzige vor. Sie stand halt nicht auf den üblichen Charts-Kram, ihr gab diese Musik nichts. Nachdem sie zunächst Metal-Fan gewesen war, hatte sie vor einer Weile Emo für sich entdeckt, weil bei dieser Musikrichtung Gefühle noch stärker betont wurden.
Sie konnte es sich selbst nicht genau erklären, aber die Musik erreichte sie einfach, und in San Francisco hatte sie viele gekannt, die ebenso dachte. In Deadman’s war das ganz anders, hier wusste keiner was damit anzufangen, und nicht zuletzt deshalb fühlte Willow sich oft sehr einsam.
Das Einzige, was ihre Stimmung vielleicht noch ein bisschen hob, war die Tatsache, dass sie in der Schule jeden Tag Danny Ray begegnete, der eine Klasse über ihr war.
Danny Ray! Schon wenn sie an ihn dachte, begann ihr Herz heftiger zu klopfen. Er sah echt wahnsinnig gut aus, und was sie bisher sagen konnte, schien er auch ziemlich nett zu sein. Das Dumme war bloß, dass er offenbar null Interesse an ihr hatte. Aber war das ein Wunder? Wohl kaum. Schließlich standen die Mädchen bei ihm Schlange, bei Danny Ray, dem Mädchenschwarm. Warum also sollte er sich dann ausgerechnet mit einer grauen Maus wie ihr abgeben?
Wahrscheinlich steht er wie die meisten Typen auf schlanke Mädchen mit Modelmaßen, dachte sie und verzog die Miene. Sie selbst war zwar auch nicht dick, hatte aber schon ein bisschen zu viel auf den Rippen. Zum Glück war sie mit ihren knapp einsachtzig recht groß, sodass sich alles ganz gut verteilte. Aber trotzdem – sie musste endlich aufhören, tonnenweise Schokolade und Chips in sich hineinzuschaufeln, wenn sie mal wieder Frust schob. Von Cola, ihrem Lieblingsgetränk, ganz zu schweigen. Ach, warum mussten leckere Sachen auch immer gleich dick machen?
Willows Gedanken kehrten zurück zu ihrem neuen Zuhause. Nein, sie mochte Deadman’s Landing definitiv nicht. Daran konnten weder Judy noch Danny Ray etwas ändern. Sie vermisste San Francisco und wollte unbedingt dorthin zurück. Und sie wollte ihren Dad wiederhaben!
Dad. Immer wenn sie an ihn dachte, traten Tränen in ihre Augen. Als Vierjährige stand für sie fest, dass ihr Dad der Mann war, den sie später einmal heiraten würde, als Achtjährige hatte sie den gleichen Berufswunsch gehabt wie er (Jack Bukannon schrieb Ratgeberkolumnen für ein bekanntes Frauenmagazin), und mit zwölf war er als Einziger für sie da gewesen, als ihre erste große Liebe (Seth aus dem Abschlussjahr der Highschool) es zu ihrem völligen Entsetzen vorzog, mit anderen, älteren Mädchen auszugehen.
Willow wusste natürlich, dass andere Menschen es viel schwerer hatten als sie. Da brauchte sie nur an Judy denken. Die hatte nämlich schon als Fünfjährige ihre Mutter verloren, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Das musste die Hölle für Judy gewesen sein, und auch heute noch hatte sie es nicht leicht, wie Willow wusste, weil sie mit ihrer Stiefmutter nicht wirklich zurechtkam.
Dagegen waren Willows Probleme eigentlich verschwindend klein. Aber trotzdem … Immer wenn sie an ihren Dad dachte, verspürte sie das dringende Bedürfnis, einfach drauflos zu heulen. Mit ihm hatte sie immer über alles sprechen können. So lange, bis er …
Ein energisches Klopfen an der Badezimmertür riss sie aus ihren Gedanken. »Mach auf, ich muss mal!«
Das war Josh.
Seufzend verdrehte Willow die Augen. »Du nervst, Josh. Ich bin noch nicht so weit.«
»Aber ich muss mal!«, wiederholte er.
»Dann geh nach unten!« Wozu hat man schließlich zwei Badezimmer, dachte sie.
»Ich will aber hier aufs Klo!«
»Du kannst mich, Josh!« Ihre Stimme wurde lauter. Langsam reichte es ihr wirklich. Nie hatte man in diesem Haus mal seine Ruhe. »Und jetzt verzieh dich endlich!«
Einen Moment war Stille, dann hörte Willow, wie Josh nach unten stürmte, und atmete erleichtert auf.
***
»Also, die Arbeit hab ich verhauen, so viel steht fest.«
Wütend kickte Willow eine vor ihr auf dem Bürgersteig liegende leere Coladose weg. Die Blechbüchse flog durch die Luft und landete ein paar Meter weiter im Rinnstein.
»Ach, jetzt warte doch erst mal das Ergebnis ab«, versuchte Judy, sie zu beruhigen. Die Freundinnen befanden sich auf dem Heimweg von der Schule, und Willows Laune war mehr als mies. Aber sie hatte ja von Anfang an gewusst, dass dieser Tag nichts Gutes bringen würde. »Vielleicht wird’s ja gar nicht so schlimm wie du jetzt denkst«, fügte Judy hinzu.
Willow lachte freudlos auf. »Nee, klar. Und wie bitteschön soll das gehen? Immerhin hab ich so gut wie nichts geschrieben, sondern ein nahezu leeres Blatt abgeliefert.«
»Tja, dann sieht’s wohl tatsächlich nicht so gut aus.« Judy warf ihrer Freundin einen tröstenden Blick zu, während sie weiterliefen. »Aber hey, mach dir nichts draus. Geschichte ist halt nicht so dein Ding.«
»Das ist es ja gerade: Hier ist so gut wie nichts ›mein Ding‹. Ich lose doch in fast allen Fächern hoffnungslos ab. An meiner alten Schule in San Francisco war das ganz anders.«
»Wart ihr denn da noch nicht so weit im Stoff?«
Willow winkte ab. »Der Witz ist, dass wir viel weiter waren. Alles was ihr hier im letzten Jahr durchgenommen habt, hatten wir schon ein Jahr zuvor. Und damals konnte ich die Sachen. Frag mich nicht, warum ich jetzt keinen Plan mehr hab. Manchmal kommt es mir echt vor, als hätte ich ständig irgendwelche Blackouts oder so was.«
»Wahrscheinlich bist du ganz einfach unterfordert«, meinte Judy, während sie nachdenklich auf ihrem Kaugummi herumkaute und ihn im Mund von einer Seite auf die andere schob. »Das hab ich schon oft gehört: Kids, die in der Schule unterfordert sind, bringen dann schlechte Leistungen, obwohl sie im Grunde alles wissen. Und außerdem …«
»Ja?«
»Na ja, es ist ja kein Geheimnis, dass du es in Deadman’s ziemlich ätzend findest. Du fühlst dich nicht wohl hier, läufst immer mit Leichenbittermiene durch die Gegend und wünschst dir dein altes Leben in San Francisco zurück. Also, wenn ich ständig so down wäre wie du, käme ich in der Schule bestimmt auch nicht klar.«
Willow nickte. »Kann schon sein, ich …«
»Na, wen haben wir denn da? Sind das nicht unsere beiden Loserinnen?«
Na toll, die hat mir gerade noch gefehlt! Mühsam unterdrückte Willow ein Stöhnen, als sie sich umdrehte und Lisa Montgomery erblickte. Aber wenigstens war sie heute ausnahmsweise mal ohne ihre üblichen Anhängsel – Liv Morgan, Celia O’Brian und Stella Macintosh – unterwegs.
Wortlos warf Willow einen Blick zu Judy herüber. Die schien ihre Gedanken lesen zu können und murmelte: »Und ich dachte schon, wir kommen heute mal davon, ohne blöd von der angemacht zu werden.« Laut sagte sie: »Lass uns einfach in Ruhe, Lisa, okay?«
»Aber, aber, wer wird denn gleich so zickig sein? Und da wundert ihr euch, wenn keiner was mit euch zu tun haben will?«
Willow verdrehte die Augen. Ging das jetzt schon wieder los? Seit ihrem ersten Schultag an der Dedmon’s High hatte sie Probleme mit Lisa. Der Grund dafür war einfach: Willow hatte damals mitbekommen, wie Judy von Lisa gedizzt worden war. Judy stand wohl schon seit langem auf der Abschussliste der Clique, weil sie es irgendwann einmal gewagt hatte, Lisa die Meinung zu sagen.
Jedenfalls hatte Willow sich in dem Moment einfach nur tierisch über Lisa aufgeregt und sich auf Judys Seite gestellt.
Tja, wie sie inzwischen wusste, hatte sie sich damit einen Feind fürs Leben gemacht. Aber das war ihr egal, denn erstens hasste sie nichts mehr als Ungerechtigkeit und konnte bei so etwas einfach nicht den Mund halten, und zweitens hatte sie auch gleichzeitig etwas gewonnen, nämlich die beste Freundin, die ein Mädchen sich wünschen konnte. Judy war echt in Ordnung, und gemeinsam ließen sich die ständigen Sticheleien der Clique auch einigermaßen ertragen.
»Wer sagt denn, dass mit uns keiner was zu tun haben will?«, erwiderte Willow schnippisch. »Die Einzige, die ein Problem mit uns hat, bist doch du.«
»Genau.« Judy nickte bekräftigend. »Und auf eine wie dich können wir auch locker verzichten.«
»Tatsächlich? Na, das sehen die meisten Kids hier aber ganz anders.«
»Ist aber trotzdem so«, entgegnete Willow trocken. »Aber weißt du, eigentlich kannst du einem im Grunde nur leidtun.« Ihre Stimme war fest, doch der äußere Eindruck der Gelassenheit täuschte: Es war immer ein Risiko, sich mit Lisa anzulegen, und entsprechend angespannt war sie innerlich auch.
»So? Und warum das?«, wollte Lisa wissen.
Willow nahm all ihren Mut zusammen. »Weil du eigentlich überhaupt keine Freunde hast. Jedenfalls keine richtigen. Deine so genannten Freundinnen kriechen dir doch alle nur hinterher, weil dein Dad so viel Einfluss und Kohle hat. Stell dir mal vor, er wäre nicht der der Bankdirektor, und du würdest nicht in einer Villa mit Pool am Stadtrand wohnen. Was wäre dann? Na, klingelt’s? Ich sag’s dir: Du hättest niemanden mehr. Denn was wahre Freundschaft ist, weißt du doch gar nicht. Du bist nur die coole, ach so beliebte Lisa Montgomery, weil deine Familie wohlhabend ist und du dir all die teuren Klamotten von irgendwelchen angesagten Markenlabels leisten kannst. Und weil all die Speichelleckerinnen, die du als deine Freunde bezeichnest, nur darauf aus sind, ein paar Brocken von dem abzukriegen, was du übrig lässt. Aber wenn du auch nur ein einziges Mal …«
»Hör auf!«, schrie Lisa und atmete tief durch. Willow staunte. Schimmerten da etwa Tränen in ihren Augen? »Halt einfach nur dein Maul, Bukannon«, sagte Lisa weiter. »Sonst wirst du erleben, was es heißt, sich mit mir anzulegen, okay?«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und lief davon.
»Was war das denn?«, fragte Judy, während sie Lisa nachschaute. »Täusch ich mich oder haben deine Worte bei unserer toughen Miss Montgomery so richtig ins Schwarze getroffen?«
Willow hob die Schultern. »Tja, wie es aussieht, steckt auch hinter Lisas harter Schale ein weicher Kern.«
***
Willow weinte.
Die Nacht war perfekt. Kein Wölkchen war zu sehen, stattdessen funkelten Tausende winzig kleiner Sterne am Himmel, und das Meer, auf dessen Oberfläche sich der fast volle Mond spiegelte, wirkte bei dieser Dunkelheit beinahe schwarz.
Willow genoss das Rauschen des Wassers und den kühlen Wind, der ihr ins Gesicht wehte und einen salzigen Geschmack auf ihren Lippen hinterließ. Sie saß im Schneidersitz im Sand, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen.
Sobald sie die Lider öffnete, kullerten Tränen über ihre Wangen.
Sie dachte an ihren Dad und daran, wie gern sie ihn endlich einmal wiedersehen würde. Früher war alles viel besser gewesen. Da hatte sie immer zu ihm kommen können, wenn ihr mal der Sinn nach Reden stand.
Doch das war Vergangenheit, heute interessierte sich ihr Dad nicht mehr für sie. Er hatte sich für etwas anderes entschieden, für …
Nein! Wie um die bösen Gedanken zu vertreiben, schüttelte sie den Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Hör endlich auf, ständig darüber nachzudenken!, rief sie sich selbst zur Ordnung.
Stattdessen dachte sie an Lisa Montgomery, was auch nicht viel besser war. Allerdings fragte sie sich nach der Auseinandersetzung heute zum ersten Mal, ob sich hinter Lisas cooler unnahbarer Fassade nicht auch nur ein verletzliches Mädchen wie Judy und sie selbst verbarg. Ein ganz normaler Mensch mit Problemen und Sorgen, der nur darauf wartete, dass man ihm eine Chance gab zu beweisen, dass er auch nett sein konnte.
Sicher, Lisa war vom ersten Tag an fies zu ihr gewesen, und auch Judy litt seit langem unter ihrer Tyrannei. Aber hatte Willow bisher auch nur ein einziges Mal versucht, hinter die Fassade zu blicken? Versucht, Lisa zu verstehen?
Nein, sie hatte sie immer nur als arrogantes hinterhältiges Biest betrachtet. Jetzt aber überlegte sie, warum Lisa wohl so geworden war. Wie schwer hatte sie es im Leben? Lag es an ihrem Dad?
Ganz sicher war es nicht leicht, die Tochter des großen Mr. Montgomery zu sein, seinen Ansprüchen zu genügen. Einen strengeren Vater als ihn gab es wohl kaum, das wusste hier jeder. Aber genügte das, ein schäbiges Verhalten, wie Lisa es ständig an den Tag legte, zu entschuldigen?
Willow zuckte mit den Achseln. Sie wusste es nicht, und im Grunde konnte es ihr auch egal sein. Ändern würde Lisa sich wahrscheinlich ohnehin nie. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war verspürte Willow auch wenig Lust, noch weiter in das Gefühlsleben eines Mädchens einzudringen, das seit einem halben Jahr keine Gelegenheit ausließ, sie fertigzumachen.
Seufzend kramte sie eine Dose Diet Coke aus ihrem Rucksack und riss sie auf. Sie trank einen Schluck und genoss das Kribbeln der Kohlensäure auf ihrer Zunge.
In Momenten wie diesem, wenn sie hier einsam und allein saß, zum nächtlichen Himmel hinaufblickte und die Sterne beobachtete, fragte sie sich, ob es dort draußen tatsächlich Leben, ähnlich wie das auf der Erde, gab. Vielleicht existierte ja irgendwo, Million von Lichtjahren entfernt, ein Wesen, das in genau diesem Augenblick ebenfalls zum Himmel aufblickte und sich dieselbe Frage stellte.
Sie stellte die Dose neben sich in den Sand und atmete tief durch. Der Platz, an dem sie sich befand, war ein ganz besonderer. Ein kleines Stück Strand, umgeben von schroffen Felswänden, erreichbar nur über einen schmalen Sandstreifen, vorbei an steil aufragenden Felsklippen. Hier kam sie oft nach der Schule hin, wenn sie Zeit zum Nachdenken brauchte. Manchmal fand sie auch am Abend den Weg hierher, oder – so wie heute – nachts.
Ihre Mutter wusste das natürlich nicht und ging davon aus, dass ihre Tochter längst im Bett lag und schlief.
Beim Gedanken an ihre Mutter meldete sich prompt Willows schlechtes Gewissen. Keine Frage, es war nicht richtig, sich um diese Zeit einfach von zu Hause fortzuschleichen. Und das nicht nur, weil es bereits Mitternacht durch war und morgen Schule auf dem Programm stand. Wenn Mom merkt, dass ich weg bin, wird sie sich bestimmt tierische Sorgen machen.
Aber Willow hatte einfach nicht anders gekonnt. Etwas hatte sie wie magisch an diesen Ort gezogen.
An ihren Ort.
Ja, dies war ihr Ort. Hier war sie eins mit der Nacht, und nur hier konnte sie weinen, ohne sich dafür verstecken oder sich dessen schämen zu müssen.
Hier war sie frei.
Und allein.
Niemand verirrte sich hierher. Schon gar nicht nachts. Niemals würde sie jemand an ihrem Lieblingsplatz stören.
Umso erschrockener zuckte sie zusammen, als plötzlich eine Stimme sie aus ihren Gedanken riss.
»Hey, was geht denn so?«
Willow sprang auf und wirbelte herum.
Ungläubig riss sie die Augen auf, als sie im Schein des Mondes den Jungen erblickte.
Zuerst glaubte sie, zu träumen. Dann aber wurde ihr klar, dass sie nicht schlief, und sie fragte sich, ob sie vielleicht fantasierte. Zwei, drei Mal blinzelte sie angestrengt, doch immer, wenn sie die Augen wieder öffnete, war der Junge noch da.
Keine Frage, er war echt. Und nicht nur das: Er sah auch verdammt gut aus. Ungefähr einsneunzig groß und ziemlich schlank, fast schon dürr. Sein Haar war schwarz wie der nächtliche Himmel, und sein Gesicht ebenso blass wie ihr eigenes. Die Lippen waren schmal, die Augen groß und dunkel, wobei in den Pupillen irgendetwas zu glitzern schien. Oder kam das nur vom Mondlicht?
Willow hatte den Jungen noch nie zuvor gesehen, und sie spürte, wie ein Gefühl der Angst in ihr aufstieg: Was tat dieser Typ mitten in der Nacht hier, was wollte er von ihr? Was, wenn sie es mit einem Irren zu tun hatte, der …
»Hey, träumst du?« Erneut riss er Willow aus ihren Gedanken. Ihr fiel auf, dass seine Stimme etwas Besonderes hatte: Sie war warm und weich, gleichzeitig klang aber auch etwas Düsteres in ihr mit.
»Was?«, fragte Willow. »Nein, ich … Wer bist du eigentlich? Und was treibst du mitten in der Nacht hier draußen?«
Er lachte. Sein Lachen zog sie in seinen Bann. »Dasselbe wollte ich dich auch gerade fragen. Aber gut, dann fang ich halt an: Also, ich bin Gabriel, und wie ist heißt du?«
Wow! Willow war hin und weg. Gabriel, was für ein cooler Name. Wie der zweite Erzengel.
»Träumst du schon wieder?«
Willow spürte, wie sie rot wurde. Hatte sie ihn etwa die ganze Zeit angestarrt? Verlegen blickte sie zur Seite. »Ich … ich bin Willow«, sagte sie schüchtern. Was machst du hier eigentlich?, fragte sie sich. Unterhältst dich einfach so mit einem Typen, den du noch nie zuvor gesehen hast, und der auch nicht gerade wie der nette Junge von
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Tag der Veröffentlichung: 29.06.2023
ISBN: 978-3-7554-4568-5
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