»Ich kann irgendwie noch immer nicht fassen, dass meine Eltern mich tatsächlich hierhergeschleppt haben. In dieses winzige Kaff am Meer! Was soll ich denn hier?«
Seufzend sah Amber Tremaine ihre Freundin Sarah an.
Die lächelte. »Mann, das dauert bei dir aber ganz schön, bis du dich eingewöhnt hast, was? Wie lange bist du jetzt schon in Deadman’s? Zwei Monate? Drei?«
»Mir kommt es eher wie eine Ewigkeit vor«, stöhnte Amber. »Wie hältst du es in diesem Kaff bloß aus?«
Sarah hob die Schultern. »Also, ich finde es ehrlich gesagt gar nicht so schrecklich wie du. Liegt aber wahrscheinlich vor allem daran, dass ich hier geboren und aufgewachsen bin. Aber ich glaube nicht, dass es in Deadman’s langweiliger ist als in anderen Kleinstädten.«
»Kleinstädte, genau! Ich habe aber bisher in L. A. gelebt. Und da ist das hier dann schon ein krasser Gegensatz, das kannst du mir glauben.« Sie zog die Brauen zusammen. »Zumal hier irgendetwas nicht zu stimmen scheint.«
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß auch nicht, aber diese ganze Stadt hier ist irgendwie komisch. Warum zum Beispiel sagen die Kids immer Deadman’s? So wie du gerade? Für mich heißt die Stadt immer noch Dedmon’s Landing.«
»Hab ich dir das noch nie erzählt?«, fragte Sarah. »Der Ort hat den Namen weg, weil hier früher mal schlimme Dinge passiert sind. Mit Schmugglern und wer weiß was. Ging wohl mächtig blutig hier zu früher. Aber nicht nur früher.«
»Was soll das heißen, nicht nur früher?«
»Na ja, auch in letzter Zeit sind hier so einige Dinge passiert … Morde und so was. Sind aber aufgeklärt worden. Nur die Sache mit den Vampiren …«
»Vampire? Was denn für Vampire?«
»Ja, das ist so eine Sache.« Sarah sah sich nach allen Seiten um, so als hätte sie Angst, jemand könnte sie beobachten. Dann beugte sie sich zu Amber vor und sprach flüsternd weiter. »Kaum einer weiß, ob es stimmt oder nicht, aber es heißt, dass vor einiger Zeit Vampire ihr Unwesen in Deadman’s getrieben haben. Ist noch gar nicht so lange her, vielleicht ein halbes Jahr oder so. Damals soll es sogar Tote gegeben haben.«
Unwillkürlich rann Amber ein Schauer über den Rücken. Dann fing sie sich wieder und sie schüttelte den Kopf. »Vampire, so ein Quatsch!«, rief sie lachend. »An so was glaubst du doch nicht ernsthaft, oder?«
Aber zu ihrer Verwunderung stimmte Sarah nicht in ihr Lachen ein, sondern zuckte nur mit den Schultern.
Amber schüttelte den Kopf. Sollte Sarah wirklich an so einen Unsinn glauben? Aber letztlich war das auch egal. »Jedenfalls hab ich von Anfang an gewusst, dass das Kleinstadtleben nichts für mich ist«, sagte sie, um die Sprache wieder auf das eigentliche Thema zu bringen. »Aber natürlich ging es mal wieder nur nach meinen Eltern, ist ja klar.«
»Vergiss deinen Bruder nicht.«
Amber stöhnte. »Lucas ist neun, was erwartest du da? Dass der sich über die Sache nicht beschwert, war ja wohl klar. Für ihn ist das alles immer noch ein großes Abenteuer. Ich …«
»Achtung, Zickenalarm«, unterbrach Sarah sie.
Amber sah in die Richtung, in die auch ihre Freundin blickte, und rümpfte die Nase. Na toll, dachte sie seufzend. Jessica Overhead und ihre Anhängsel, die haben mir gerade noch gefehlt!
Mit der blonden Jessica hatte Amber gleich an ihrem ersten Tag an der Dedmon’s High unangenehme Bekanntschaft gemacht. Jessica war die absolute Oberzicke der Schule. Blond, mit Modelmaßen und einem alles andere als unauffällig geschminkten Gesicht rannten ihr die Jungs scharenweise hinterher, und Jessica machte kein Geheimnis daraus, dass sie es genoss, derart umworben zu werden.
Ihr Vater, Kiefer Overhead, war der Besitzer eines Sägewerks ganz in der Nähe und verdiente damit wohl auch nicht schlecht. Zumindest reichte es, um sein Prinzesschen nach Strich und Faden zu verwöhnen. Fazit war, dass Jessica nur in teuren Designerfummeln herumlief, ihre blonden Locken ausschließlich von einem Promifriseur stylen ließ und ein Ego besaß, das mindestens so groß war wie der Mount Everest.
Warum das Biest es ausgerechnet auf sie abgesehen hatte, war Amber immer noch ein absolutes Rätsel. Kaum vorstellbar, dass Jessica in ihr eine mögliche Konkurrentin sah. Sie waren vom Typ her so unterschiedlich, dass man sie kaum miteinander vergleichen konnte. Vielleicht war es auch einfach nur ganz profane Abneigung, schwer zu sagen. Jedenfalls machte sie Amber seit ihrer Ankunft in Dedmon’s Landing auf jede nur erdenkliche Art und Weise das Leben schwer.
»Hey Tremaine, ich wusste doch, dass du hier irgendwo in der Gegend steckst. Du solltest echt was gegen den Geruch von Mottenkugeln unternehmen, der um dich rumwabert.« Sie verzog das Gesicht. »Voll eklig, echt!«
Die Mädchen, die sich immer in Jessicas Dunstkreis herumdrückten, um ein bisschen von ihrem vermeintlichen Glanz abzukriegen, kicherten.
»Wirklich witzig«, schoss Amber sofort zurück. »Echt, selten so gelacht. Schon mal überlegt, ob du dir nicht besser einen Job als Stand-up-Comedian suchst? Ich meine, hier an der Schule nutzt du doch sowieso nur sinnlos die Stühle ab.«
Jessica brauchte einen Moment, um Ambers Worte wirklich zu verstehen, dann blitzten ihre blauen Augen vor Wut. Dass jemand ihr gegenüber auch mal Kontra gab, war sie ganz einfach nicht gewohnt. »Was willst du damit sagen?«, fauchte sie.
Amber lächelte. »Na, wenn du da nicht selbst drauf kommst, kann ich dir auch nicht helfen.«
»Miststück!« Jessica war drauf und dran, auf Amber loszugehen, doch zwei Mädchen aus ihrem Hofstaat verhinderten Schlimmeres. »Nimm das sofort zurück!«
»Jetzt lass sie doch endlich in Ruhe!«, mischte nun auch Sarah sich ein. »Du bist doch bloß sauer, weil mal jemand nicht nach deiner Pfeife tanzt. Außerdem hast du damit angefangen, auf Amber rumzuhacken.«
Völlig verblüfft starrte Jessica sie an. »Was mischst du dich denn jetzt ein?«
»Ja, wer hat dich denn gefragt?«, wollte nun auch Gisele, eine von Jessicas engsten Freundinnen, wissen. »Halt dich aus Sachen raus, die dich nichts angehen.«
Sarah lachte. »Das musst du gerade sagen! Aber zu deiner Information: Amber ist meine Freundin, und von daher mische ich mich ein, wann immer ich es für richtig halte.«
»Du solltest dir deine Freunde wirklich sorgfältiger aussuchen, McCoy.« Jessicas Stimme klang eisig. »Aber guter Geschmack war ja noch nie deine Stärke.«
»Als ob du das beurteilen könntest. Du umgibst dich doch bloß mit Speichelleckern, die dir nach dem Mund reden. Aber weißt du was? Es soll auch Leute geben, die andere nicht nach dem Inhalt ihres Portemonnaies beurteilen.«
Jessica schnaubte abfällig. »Ach komm schon, du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du die Familie unserer lieben Amber hier normal findest. Schon allein wie die rumlaufen! Das ist doch oberpeinlich!«
»Hör endlich auf, auf meinen Eltern rumzuhacken!«, schrie Amber, die jetzt richtig sauer wurde. Wenn es gegen sie ging, gut, da konnte sie noch irgendwie mit umgehen, auch wenn es ihr nicht sonderlich gefiel. Aber dass Jessica jetzt auch noch unbedingt ihre Eltern ins Spiel bringen musste, ging echt zu weit. »Bloß, weil sie nicht in Gucci und Versace rumlaufen sind sie keine schlechteren Menschen, weißt du? Sie sind nur ein bisschen …« Fieberhaft suchte Audrey nach dem richtigen Wort.
»Anders«, half ihr plötzlich eine dunkle Stimme aus. Amber blickte sich um, dann wurden ihre Knie plötzlich weich.
»Jack«, hauchte sie atemlos und hatte nur einen Gedanken. Wow! Dieser Junge war echt so was von süß! Vom ersten Blick an war Amber hin und weg gewesen von seinem Anblick. Und auch heute fing ihr Herz sofort an zu flattern, wenn sie ihn erblickte. Obwohl an seinen schlabberigen Jeans und dem verwaschenen Sweatshirt nun wahrlich nichts Besonderes war, sah Jack darin einfach zum Anbeißen aus. Aber wenn Amber ehrlich war, hätte er ebenso gut auch in einem Kartoffelsack vor ihr stehen können – sie wäre trotzdem dahingeschmolzen.
»Nerven dich die Mädchen?«, fragte er.
Für einen Moment war Amber richtig weggetreten, und so dauerte es einen Augenblick, ehe sie in der Lage war zu antworten. »Ich … Also …«
»Was ist, Tremaine – hat’s dir die Sprache verschlagen?«, fragte Jessica spöttisch. »Hey Jack-O, sieht aus, als hättest du einen neuen Fan gewonnen.«
Jack schaute sie finster an. »Halt die Klappe, Jessica. Und lass Amber endlich in Ruhe. Ich find es total daneben, dass du sie andauernd blöd anmachst. Was hast du für ein Problem?«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht. Und überhaupt, was ist eigentlich mit dir los? Ich dachte, du bist ein Typ mit Niveau, aber wie es aussieht, hab ich mich da wohl getäuscht.«
»Weißt du, es interessiert mich herzlich wenig, was du von mir denkst. Um ehrlich zu sein, ich finde dich und deine Lästerschwestern total ätzend. Ihr glaubt, bloß weil ihr Kohle habt und teure Klamotten tragt, seid ihr was Besseres. Aber ich sag euch was: Amber ist tausendmal mehr wert als ihr alle zusammen – ganz einfach, weil sie Charakter hat.«
So was hatte Jessica wohl noch nie gehört. Sie starrte Jack an wie einen Alien. »Was hast du gesagt?«
»Du hast mich schon verstanden«, erwiderte er ungerührt. »Und ich glaube, damit ist auch echt alles gesagt.« Er wandte sich an Amber und Sarah. »Kommt Mädels, so eine Behandlung habt ihr echt nicht nötig.«
Amber schluckte, folgte Jack aber widerstandslos. Na, hoffentlich war das kein Fehler. Es reichte, dass Jessica es auf sie abgesehen hatte. Sie wollte nicht, dass nun auch noch ihre Freunde in die Angelegenheit mit hineingezogen wurden. Auf der anderen Seite war sie aber froh und glücklich, dass Sarah und Jack ihr zur Seite standen. Sie wusste nicht, ob sie allein auch eine so große Klappe Jessica gegenüber gezeigt hätte.
Doch zum Glück hatte sie es ja nicht nur in Rekordzeit geschafft, sich an ihrer neuen Schule Feinde zu machen – sie hatte auch Freunde gefunden.
*
Knapp eine Stunde später saßen die drei in einer der kleinen, gemütlichen Nische im Burger Shack zusammen, dem einzigen In-Treff von Dedmon’s Landing.
Vor Amber stand ein Glas Cherry Coke auf dem Tisch, die anderen tranken Erdbeer-Milchshakes.
Gedankenverloren saugte Amber an ihrem Strohhalm.
»Was ist los?«, wollte Sarah wissen. »Liegt dir die Diskussion mit unserer lieben Jessica noch immer auf dem Magen?«
Amber schüttelte den Kopf. »Ist schon okay, echt.«
»Du solltest das nicht so an dich ranlassen«, riet Sarah ihr. »Jessica ist einfach nur total daneben, wenn du mich fragst. Ich konnte sie noch nie leiden, aber bisher sind wir immer noch irgendwie miteinander ausgekommen. Aber wenn sie jetzt auch noch anfängt, meine Freunde zu beleidigen ... Da hört der Spaß endgültig auf!«
»Ihr solltet euch aber nicht meinetwegen mit Jessica anlegen, das ist echt nicht nötig«, sagte Amber. »Ich will nicht, dass ihr Ärger kriegt, bloß weil ihr mir helfen wollt.«
»Ach, was!« Jack winkte ab. »Als ob diese dumme Gans uns irgendwas anhaben könnte. Was soll sie denn machen? Uns mit Lippenstiften und Eyelinern bewerfen?« Er lachte. »Gott bewahre, ich mag gar nicht daran denken.«
Darüber musste auch Amber lachen. »Du bist unmöglich, Jack Smith, weißt du das? Aber jetzt mal im Ernst – ich war ja nicht gerade begeistert, als meine Eltern mir eröffneten, dass wir aus L. A. wegziehen. Noch weniger hab ich mich darüber gefreut, dass wir von nun an in einer Kleinstadt leben. Aber dass es hier so schwierig für uns sein könnte, Fuß zu fassen, hätte ich wirklich nicht gedacht. Was ist denn an uns so schlimm?«
»Gar nichts«, erwiderte Sarah nüchtern. »Es liegt nicht an euch, sondern an der Intoleranz mancher Leute. Und in kleinen Nestern wie Dedmon’s Landing scheint es leider besonders viele von denen zu geben.«
»Allerdings«, seufzte auch Jack. »Das ist echt krass. Ich meine, ich kenne deine Leute ja nicht besonders gut, aber auf mich machen sie einen ziemlich normalen Eindruck. Außerdem sollte man andere Menschen nicht nach ihren Klamotten beurteilen. So was finde ich voll mies.«
Amber nickte stumm. Sie war absolut derselben Meinung wie Jack, auch wenn die seltsame Art, wie ihre Eltern sich neuerdings kleideten, ihr selbst oft ziemlich peinlich war.
Aber sie konnte ja verstehen, warum die beiden das machten. Seit Ambers kleiner Bruder Lucas an verschiedenen Allergien erkrankt war, probierten ihre Eltern so gut wie alles aus, was ihm ein bisschen Linderung bringen konnte. Seit ungefähr einem Jahr befanden sie sich auf einem regelrechten Öko-Trip mit ökologisch angebauten Lebensmitteln, ungebleichter Baumwollkleidung und ähnlichen Dingen, mit denen Amber sich bisher noch nicht näher befasst hatte.
Wie gesagt, sie konnte ihre Eltern verstehen. Mitmachen musste sie den Kram aber deswegen nicht zwangsläufig. Während der Rest der Tremaines in Solidarität mit Lucas in Sack und Asche herumlief, bestand Amber darauf, sich weiterhin wie ein Mensch kleiden zu dürfen. Und nur weil sie ebenfalls daran glaubte, dass die inneren Werte eines Menschen es waren, die wirklich zählten, wollte sie sich doch nicht unbedingt vor Gott und der Welt lächerlich machen.
Soweit es Jessica und ihre Crew betraf, schien es allerdings schon auszureichen, dass Ambers Familie ein bisschen schräg drauf war. Und das wurmte Amber doch weitaus mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte. Vor allem, da sich nun auch aus finanzieller Sicht dunkle Wolken am Horizont zusammenballten.
»Wie ist der Laden deiner Eltern eigentlich angelaufen?«, fragte Jack dann auch und legte damit den Finger mitten in die offene Wunde. »Geht das Geschäft inzwischen einigermaßen?«
Amber schüttelte den Kopf. »Kann man nicht gerade behaupten. Das ECO?logical scheint bei den Leuten hier nicht besonders gut anzukommen.« Seufzend hob sie die Schultern. »Wahrscheinlich ist man hier in der Gegend einfach noch nicht reif für Öko-Food.«
»Also, ich finde die Penne von deinem Dad total klasse«, schwärmte Sarah. »Und die Gorgonzolasoße – ein echter Traum.«
Amber lächelte. »Nett von dir, dass du versuchst, mich aufzumuntern. Aber ich fürchte, ein zufriedener Kunde allein rettet uns noch nicht vor dem Ruin.« Sie seufzte. »Ich fand die Idee, in einem kleinen Fischerdorf eine Pizzeria aufzumachen, in der ausschließlich ökologisch angebaute Lebensmittel verwendet werden, ja von Anfang an ziemlich dämlich. Die meisten Einwohner interessieren sich doch eher dafür, was eine Pizza kostet als für die Herkunft des Mehls, aus dem sie hergestellt wird.«
»Das stimmt schon«, gab Sarah zu. »Aber ich finde, es ist durchaus an der Zeit, dass die Leute hier mal den Unterschied zwischen gutem und schlechtem Essen kennenlernen. Allerdings fürchte ich, dass das Ganze ein bisschen dauern wird. Alte Gewohnheiten legt man halt nicht so einfach ab.«
»Tja, bis es so weit ist, wird es für meine Eltern wohl schon zu spät sein. Ich glaube nicht, dass sie es sich noch lange leisten können, den Laden offen zu halten, wenn weiterhin die Gäste ausbleiben. Im Höchstfall verirren sich mal zwei Leute pro Abend zu uns. Das reicht einfach nicht, um davon seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
»Und es hilft auch nicht gerade weiter, dass es noch eine zweite Pizzeria in Dedmon’s gibt«, warf Jack ein. »Übrigens, was sagt eigentlich Big Ed dazu, dass deine Eltern ihren Laden am anderen Ende der Mainstreet aufgemacht haben? Er dürfte ja nicht gerade begeistert sein. Macht er euch überhaupt keinen Ärger?«
»Keine Ahnung.« Amber zuckte die Achseln. »Bisher verhält er sich jedenfalls ruhig. Wahrscheinlich will er erst einmal abwarten, wie unser Geschäft sich so entwickelt.«
»Kann schon sein. Aber ich würde an eurer Stelle auf jeden Fall vorsichtig sein. Big Ed hat mir zwar nie etwas getan, aber ich trau ihm irgendwie nicht über den Weg. Der Typ hat was Verschlagenes an sich.«
»Ja, ich mag ihn auch nicht«, stimmte Sarah zu. »Und meine jüngere Schwester hat sich als kleines Kind immer hinter meiner Mom versteckt, wenn wir ihm mal zufällig auf der Straße begegnet sind.«
Amber nickte. »Okay, ich werd’s mir merken. Aber wenn es so weitergeht wie bisher, dann wird sich das Problem wahrscheinlich eh von allein erledigen.«
»Ach, jetzt sei nicht so pessimistisch.« Aufmunternd sah Sarah sie an. »Wir müssen uns einfach irgendetwas einfallen lassen, wie wir das ECO?logical zum Laufen bringen. Mensch, es kann doch nicht sein, dass die Leute euch keine Chance geben.«
»Und was willst du da machen?«, fragte Amber ohne viel Hoffnung. »Ich nehme an, du hast schon eine glänzende Idee auf Lager?«
»Na, das nicht gerade. Aber … Moment mal! Ja klar, die Lösung liegt doch auf der Hand!«
Amber blinzelte überrascht. »Ach ja? Dann klär mich auf, ich versteh nämlich kein Wort.«
»Na, wir müssen doch eigentlich bloß überall bekannt machen, wie genial eure Pizza schmeckt, richtig?«
»Ja, und?«
»Und die Zielgruppe für Fast Food sind ja wohl vor allem die Kids und jungen Leute in Dedmon’s Landing. Was liegt da also näher, als Kostproben eurer Pizzen kostenlos an der Schule zu verteilen?«
Für einen Moment war Amber richtig verblüfft, wie gut und zugleich einfach die Idee ihrer Freundin war. Sie strahlte. »Na klar, das ist die Lösung! Mensch, ich kann nicht fassen, dass ich darauf nicht schon längst selbst gekommen bin!« Sie war jetzt richtig Feuer und Flamme. »Mein Dad könnte Mini-Pizzen in allen möglichen Sorten machen, und meine Mom ein paar große Schalen Salat. Wenn das die Leute nicht umhaut vor Begeisterung, dann weiß ich’s auch nicht!«
»Na endlich, das ist doch die Amber, die wir kennen und lieben«, rief Sarah lachend. »Und jetzt lass uns am besten sofort zu deinen Eltern gehen und die Sache klarmachen. Mehr als schiefgehen kann’s ja nicht.«
Gesagt – getan. Auch bei Amber zu Hause stieß Sarahs Plan auf große Gegenliebe. Zum ersten Mal seit Tagen sah Amber ihren Eltern an, dass sie wieder Hoffnung schöpften. Es hatte sie ganz schön fertig gemacht, die beiden so down zu sehen. Aber jetzt leuchteten ihre Gesichter wieder vor Begeisterung, und Amber freute sich ehrlich für sie – auch wenn sie noch immer nicht wirklich davon überzeugt war, dass eine solche Aktion das ECO?logical zum Laufen bringen konnte.
Aber immerhin mussten sie jetzt nicht mehr tatenlos herumsitzen und abwarten, und das verbesserte die allgemeine Stimmung doch immens.
*
»Kann ich euch irgendwie helfen?« Die Frage kam von der siebzehnjährigen Lorna Demorneys.
Lornas Mutter hatte viele Jahre als Haushälterin für Ambers Großtante Ada gearbeitet. Nach Tante Adas Tod hatte Ambers Familie dann überraschend ihr Haus in Dedmon’s Landing geerbt, und dazu noch eine stattliche Summe Geld. Und das, obwohl sie eigentlich nie großartig Kontakt zu der alten Dame gehabt hatten. Amber und ihr Bruder hatten bis dahin nicht mal gewusst, dass sie überhaupt existierte.
Nach der Erbschaft waren ihre Eltern dann auf den Gedanken gekommen, aus L. A. fortzugehen. So waren sie schließlich in Dedmon’s gelandet.
Amber, die gerade dabei war, die Mini-Pizzen auf einem großen Tablett zu arrangieren, nickte. »Klar doch. Wenn du willst, kannst du schon mal das Joghurt-Dressing auf dem Salat verteilen.« Sie lächelte. »Meine Mom hat es selbst gemacht – natürlich aus rein biologischen Zutaten.«
»Und was soll ich tun?«, fragte Sarah, die jetzt auch dazukam. Sie lachte. »Ich könnte den Marktschreier für euch spielen. In so was bin ich echt gut. Und wenn Jack gleich kommt, kann er beim Verteilen der Pizzen helfen. Ich schwöre dir, dass die Mädchen aus der Unterstufe ihm aus der Hand fressen werden.«
»Und wer sagt, dass ich das will?« Jack nickte Sarah und Lorna zu und gab Amber einen Kuss auf die Wange. Wow! »Hey ihr drei. Alles vorbereitet für die große Werbeaktion?«
Amber schaute sich noch mal in der Eingangshalle der Schule um. Ihr Dad hatte am Morgen zwei lange Tapeziertische aufgebaut, die jetzt mit rot-weiß karierten Tischdecken dekoriert waren. Darauf standen zwei riesige Schüsseln mit gemischtem Salat und eine Ladung Pizza verteilt auf mehrere Tabletts. Als Deko hatte Amber Paprika und Tomaten aus Plastik besorgt (natürlich ohne Wissen ihrer Eltern, die das ganz und gar nicht befürwortet hätten). Es sah jetzt wirklich einladend aus und duftete ganz köstlich.
»Ja, ich glaube, das ist okay so«, antwortete sie schließlich. »Was meint ihr?«
»Toll«, sagte Sarah.
»Affenstark.« Der Kommentar stammte von Lorna, und Amber musste sich ein Lachen verkneifen. Es war typisch für sie, so altmodische Ausdrücke zu benutzen. Manchmal überlegte Amber ernsthaft, ob Lorna vielleicht von einem anderen Planeten stammte, so seltsam wie sie manchmal redete. Im Großen und Ganzen war sie aber wirklich total nett und hilfsbereit.
»Sieht gut aus«, stimmte auch Jack zu. »War aber auch Zeit, gleich fängt nämlich die Pause an.«
Wie auf Kommando schrillte die Pausenklingel los. Die Türen seitlich der Eingangshalle wurden aufgerissen, und Horden von Schülern stürmten aus den Klassenräumen. Die meisten blieben von ganz allein am Pizzastand stehen, die anderen wurden von Sarah angelockt, die lauter herumbrüllte, als Amber es ihr jemals zugetraut hätte.
Der Erfolg war überwältigend. Die Mini-Pizzen wurden ihnen förmlich aus den Händen gerissen, und schon nach den ersten paar Minuten musste Amber Nachschlag heranschaffen. Unglaublich! Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.
»Wow, die schmecken ja echt klasse«, hörte sie zu ihrer totalen Überraschung sogar die arrogante Jessica zu ihren Freundinnen sagen. »Wie man sich doch täuschen kann! Das hätte ich diesen Freaks gar nicht zugetraut.«
Der letzte Kommentar sorgte bei Amber zwar nicht gerade für Begeisterungsstürme, aber immerhin versprach die Pizza-Aktion ein echter Erfolg zu werden.
»Hey, wie findest du das?«, rief Sarah ihr zu. »Das ist echt der absolute Oberhammer, oder? Das ECO?logical wird sich von jetzt an bestimmt gar nicht mehr retten können vor Gästen!«
Amber nickte flüchtig. Es stimmte, die Aktion lief wirklich bombastisch – aber bedeutete das auch automatisch mehr Gäste für die Pizzeria ihrer Eltern?
Sie konnte es nur hoffen.
*
Eine Woche später stand Amber hinter der Theke des ECO?logical und versuchte dem Ansturm der Kunden Herr zu werden. Der Laden brummte – im wahrsten Sinne des Wortes. Alle Tische waren bis auf den letzten Platz besetzt, und Amber kam mit dem Servieren der Bestellungen gar nicht mehr hinterher. Auf Hilfe konnte sie dennoch nicht hoffen, denn ihre Mom musste ihrem Dad in der Küche helfen.
»Miss, was ist denn jetzt mit meiner Pizza?«, rief ein älterer Mann, der mit einem jungen Mädchen an einem der hinteren Tische saß. »Wird das heute noch was? Wir kommen um vor Hunger!«
»Ja, ich bin gleich bei Ihnen«, antwortete Amber in dem verzweifelten Versuch, den im Lokal herrschenden Lärmpegel zu übertönen. Sie ging zur Durchreiche, ein großes rechteckiges Loch in der Wand, durch das ihre Eltern ihr die Gerichte gaben, sobald sie fertig waren. »Dad, was ist mit der Bestellung für Tisch neun? Die Herrschaften werden langsam ungeduldig!«
»Die Pizzen sind im Ofen und müssten jeden Moment fertig sein«, erwiderte ihr Vater, wie immer ganz die Ruhe selbst. Er öffnete die Ofenklappe und holte zwei köstlich duftende Teigfladen daraus hervor, auf denen geschmolzener Käse blubberte, und beförderte sie auf zwei bereitstehende Teller. Diese überreichte er dann seiner Tochter. »Et voilá!«
»Danke«, brummte Amber wenig begeistert, nahm die Pizzen und trug sie zu Tisch neun. Wie erwartet durfte sie sich statt eines ›Dankeschön‹ eine dumme Bemerkung des Gastes abholen, während die nächsten schon nach ihrer Bestellung fragten.
Was für ein Stress! Hätte sie gewusst, was sie sich mit der Aktion ›Pizza 4 Free‹ an ihrer Schule antat, hätte sie es lieber sein lassen.
Auf der anderen Seite waren ihre Eltern total happy darüber, dass sie mit ihrem Öko-Restaurant endlich Erfolg hatten, und Amber gönnte es ihnen auch total. Und vielleicht warf der Laden ja auch bald endlich genug ab, damit sie sich eine Aushilfe leisten konnten und Amber nicht jeden Tag nach der Schule im ECO?logical mitarbeiten musste. Jedenfalls hoffte sie es sehr.
Als sie gerade wieder zur Theke zurückkehrte, betraten Jack und Sarah den Laden. »Hey ihr zwei«, begrüßte sie ihre Freunde erfreut. »Tut mir leid, aber ich werde leider nicht viel Zeit für euch haben. Wie ihr seht, ist hier die Hölle los.«
»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte Sarah. »Ich hab schon öfters als Kellnerin im Burger Shack gejobbt.«
»Kommt gar nicht infrage! Du bist meine Freundin, keine Angestellte.«
Sarah zuckte die Achseln. »Also, mir macht das nichts aus. Aber wenn du meinst ...«
»Ja, meine ich – und jetzt setzt euch, ich geb euch eine Coke aus.«
Sie holte gerade zwei Gläser aus dem Regal hinter sich, als schon wieder das Glöckchen über der Tür losklingelte. Amber unterdrückte ein Seufzen. Noch mehr Kundschaft? Sie drehte sich um – und erstarrte.
»Hallo Mr. ... ähm ...«
»Big Ed. Nenn mich einfach
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Tag der Veröffentlichung: 28.06.2023
ISBN: 978-3-7554-4557-9
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