Kelly zitterte am ganzen Körper. Nicht vor Kälte, denn es war ein lauer Sommerabend, sondern vor Angst.
Auf was hatte sie sich da bloß eingelassen?
Sie wagte nicht, nach unten zu schauen. Ihrer Schätzung nach aber befand sie sich ungefähr in der Mitte der Felswand. Mit aller Kraft klammerten sich ihre Finger in ein enges Loch im Stein, ihre Füße standen auf einem schmalen Vorsprung. Schon jetzt spürte sie, wie ihre Kräfte sie verließen.
»Geht’s heute noch weiter?«, hörte sie eines der Mädchen von unten rufen. »Ich hab keinen Bock, die ganze Nacht hier zu verbringen! Gib endlich auf, Matthews, die Sache ist gelaufen! Du bist und bleibst ein Feigling, also kannst du ebenso gut auch wieder runterklettern!«
Fast hätte Kelly hysterisch aufgelacht. Zu gern wäre sie dem Vorschlag des Mädchens gefolgt, doch dummerweise konnte sie sich nicht einen Millimeter vom Fleck rühren – weder in die eine, noch in die andere Richtung. Sie fühlte sich wie erstarrt. Unter ihr ging es mindestens zehn Meter steil in die Tiefe. Ein Sturz aus dieser Höhe würde wahrscheinlich tödlich enden. Dieses Wissen führte dazu, dass sie sich nur noch mehr verkrampfte.
Tränen strömten ihr übers Gesicht, und sie schluchzte. Sie wollte um Hilfe rufen, aber kein Laut drang aus ihrer Kehle. Verdammt, sie war gerade einmal dreizehn Jahre alt und hatte ihr ganzes Leben noch vor sich! Sie wollte noch nicht sterben!
»Jetzt reicht’s aber, du Loserin!«, rief nun ein anderes Mädchen. »Glaubst du, wir wollen hier ewig rumhängen? Wir verschwinden jetzt!«
Kelly wollte nach ihnen rufen, sie anflehen, nicht wegzugehen, doch mehr als ein heiseres Krächzen brachte sie nicht zustande. Sie wagte einen Blick nach unten – die anderen waren fort. Panik schwappte über sie hinweg wie eine Flutwelle. Was sollte sie jetzt bloß tun? Hätte sie bei dieser dämlichen Mutprobe doch bloß nicht mitgemacht! Wen interessierte es schon, was die anderen von ihr dachten? Doch diese Einsicht kam zu spät, denn in diesem Moment verließen Kelly ein für alle Mal die Kräfte.
Als sie in die Tiefe stürzte, löste sich endlich ein Schrei aus ihrer Kehle.
»Also, so wie du ihn anstarrst, scheint dir der Neue ja echt zu gefallen.« Grinsend sah Cleo ihre Freundin Jasmin an, als sie in der Pause auf dem Schulhof zusammen standen.
Die zuckte ertappt zusammen. »Quatsch!«, widersprach sie heftig. »Wie kommst du denn darauf? Ich starre niemanden an!«
Natürlich war ihr klar, dass diese Lüge ebenso offensichtlich war wie die Tatsache, dass Fletcher genau der Typ Junge war, auf den sie stand. Er war ziemlich groß, und seine kurzen, dunklen Haare standen ihm in einer wilden Frisur kreuz und quer vom Kopf ab, was ihm einen irgendwie verwegenen Touch verlieh. Seine langen Beine steckten in einem Paar überlanger, schlecht sitzender Levis, und das helle Hemd, das er trug, schlabberte über den Hosenbund. Doch all das nahm Jasmin nur nebenbei wahr. Es waren seine Augen, die sie sofort gefangen nahmen. Sie waren von einem dunklen, beinahe schwarz wirkenden Braun, wie sie es nie zuvor bei einem Jungen gesehen hatte.
Als er vor einer Woche am ersten Schultag nach den Sommerferien von Direktor Weinberg als »Fletcher Coleman, euer neuer Mitschüler« vorgestellt wurde, hatte Jasmin sofort weiche Knie und Herzrasen bekommen. Wow, hatte sie nur gedacht, was für ein Wahnsinnstyp! Dass Mr. Weinberg dann auch Fletchers gleichaltrige Stiefschwester Norah vorstellte, hatte Jasmin schon gar nicht mehr mitbekommen.
Richtig kennengelernt hatte sie Fletcher aber bislang noch nicht. Obwohl er total cool war, machte er gleichzeitig auch einen ziemlich verschlossenen Eindruck. Er sprach nicht viel und stand in den Pausen meistens allein rum. Getraut, ihn anzusprechen, hatte Jasmin sich bisher noch nicht.
Norah, seine Stiefschwester, war das genaue Gegenteil von ihm. Ruhig, zurückhaltend, schüchtern? Fehlanzeige! Gleich am ersten Tag hatte sie sich an die »In-Clique« der Dedmon’s High rangeschmissen, die aus Geraldine Taylor, Gail Johnson, Chelsea Waterstone und Marisa Preston bestand. Jasmin hasste alle vier wie die Pest. Kein Wunder, waren sie doch die eingebildetsten, arrogantesten und von sich selbst überzeugtesten Modepüppchen, die sie je kennengelernt hatte. Jetzt hoffte Norah wohl, in die Reihen der »heiligen Clique« aufgenommen zu werden, aber bis dahin war es noch ein weiter Weg, da konnte sie sicher sein.
»Erde an Jasmin, Erde an Jasmin«, riss Cleos Stimme sie aus ihren Gedanken. Cleo lachte. »Also echt, und du willst mir erzählen, dass du Fletcher nicht anstarrst? Vergiss es!«
Jasmin spürte, wie sie rot anlief. »Na ja«, gab sie zu, »irgendwie süß ist er ja schon.«
»Irgendwie süß?«, erklang plötzlich eine Stimme hinter Jasmin. »Mensch, ich lach mich kaputt. Von ›irgendwie süß‹ kann ja wohl keine Rede sein. Gib’s endlich zu, du hast dich Hals über Kopf in den Typ verknallt und kannst seit einer Woche nur noch an ihn denken!«
Jasmin drehte sich um. »Geht’s vielleicht noch lauter, Andrea? Sonst weiß nachher nur die halbe Schule Bescheid.«
Andrea Wilson, neben Cleo Brown die beste Freundin von Jasmin, hob entschuldigend die Schultern, grinste jedoch weiter. »Sorry, aber ich dachte mir nichts dabei. Wenn du nämlich nicht aufhörst, weiterhin so in seine Richtung zu glotzen, weiß sowieso bald jeder Bescheid.«
»Haha, sehr witzig.«
Jasmin musterte Andrea kurz. Sie und Cleo waren sich sehr ähnlich, Jasmin fand, dass sie ziemlich hübsch aussahen, und das, obwohl sie nicht viel Make-up verwendeten. Sie waren sehr natürlich und sahen damit in Jasmins Augen viel besser auf als so manches It-Girl hier im Ort.
Nicht erst einmal hatte sie ihre Freundinnen für ihr Aussehen beneidet. Sie selbst war zwar auch alles andere als hässlich, aber vor allem gefiel ihr nicht, dass sie ein paar Kilo zu viel auf den Rippen hatte und daher wohl allgemein als pummelig bezeichnet wurde. Ansonsten fand sie ihr Aussehen gar nicht mal so übel. Nicht zu klein, nicht zu groß, langes, schwarzes Haar und ein durchaus hübsches, wenn auch für ihren Geschmack ein wenig zu rundes Gesicht. Bloß dass sie eine Brille tragen musste, störte sie gewaltig, aber für Kontaktlinsen fehlte einfach das nötige Geld.
»Sag mal, hast du deine Eltern jetzt eigentlich schon wegen den Tickets für das Festival nächsten Monat gefragt?«
Jasmin stöhnte verhalten. »Erinnere mich bloß nicht daran. Ich hab meine Mom gestern um einen Taschengeldvorschuss gebeten, aber bekommen habe ich lediglich eine Standpauke. Kann mir mal jemand sagen, wie man als Fünfzehnjährige mit so wenig Taschengeld auskommen soll? Meine Eltern haben ja gar keine Ahnung, was es bedeutet, mit Klamotten von Woolworth rumzulaufen. Ehrlich, manchmal ist es echt erschreckend, wie wenig unsere Erzeuger uns kennen. Ich sag euch: Meine Alten kennen mich kein Stück!«
»Glaubst du, das geht uns anders?«, fragte Cleo. »Also, meine Eltern wissen auch nicht allzu viel von mir, aber ich find das auch irgendwie normal. Ist so eine Generationsgeschichte, wenn du mich fragst.«
»Aber du kriegst wenigstens genug Taschengeld, dass du dir anständige Klamotten kaufen kannst.«
Cleo hob die Schultern. »Stimmt schon, aber meine Eltern haben auch mehr Kohle als deine. Und Klamotten sind ja wohl auch nicht alles.«
»Das sagst du. Euch lassen Geraldine und die anderen ja auch in Ruhe. Würden sie mich vielleicht auch, wenn ich mir echte Markenklamotten leisten könnte.«
Wie immer, wenn das Gespräch auf die »In-Clique« der Dedmon’s High fiel, sank die Stimmung sofort auf den Nullpunkt. Kein Wunder, denn die Mädchen, die zur Clique gehörten, waren echte Zicken. Wenn jemand nicht mit ihnen mithalten konnte, wurde er rücksichtslos fertig gemacht. Und dummerweise hatten sie es vor allem auf Jasmin abgesehen. Die Gründe waren einfach: Jasmin konnte sich keine teuren Markenklamotten leisten, zudem entsprach sie nicht gerade dem gängigen Schönheitsideal, und hinzu kam, dass sie erst seit etwas über einem Jahr in Dedmon’s Landing, einem kleinen Ort an der Küste, wohnte. Somit war sie immer noch »die Neue«, was auch nicht gerade ein Vorteil war.
»Mag ja sein, dass sie uns in Ruhe lassen, aber dazu gehören wir auch nicht, wie du eigentlich inzwischen mitgekriegt haben dürftest«, stellte Cleo klar.
»Ja, ich weiß«, erwiderte Jasmin. »Wobei ich das noch immer nicht so recht kapiere. Ich meine, ihr seht gut aus, tragt coole Klamotten und seid beliebt. Warum nehmen die euch dann nicht in ihre heiligen Reihen auf?«
»Vielleicht einfach, weil wir nicht wollen.« Andrea schüttelte den Kopf. »Hör mal, du solltest eigentlich wissen, dass wir die Biester genauso wenig abkönnen wie du. Und nebenbei bemerkt: Uns haben sie auch nicht gerade in ihre Herzchen geschlossen.«
»Eben.« Cleo nickte zustimmend. »Und noch etwas: Was für ein Markenname auf deinem Shirt steht, ist echt total unwichtig. Du magst dir vielleicht keine coolen Klamotten leisten können, aber das macht dich nicht zu einem schlechteren Menschen. Lass dir von diesen dummen Gänsen bloß nicht einreden, dass du weniger wert bist als sie, bloß weil du Sachen vom Discounter trägst.«
»Schon okay.« Seufzend winkte Jasmin ab. Zwar war ihr durchaus klar, dass ihre Freundinnen recht hatten, andererseits war das Ganze dann doch leichter gesagt als getan.
»Na, da ist ja unser Mauerblümchen«, grinste Geraldine, als Jasmin am nächsten Morgen das Klassenzimmer betrat. »Alle Achtung, du hast dich heute aber ganz schön in Schale geworfen. Meine Güte, wo hast du denn die geilen Jeans her? Ich wusste gar nicht, dass man so alte Schätzchen noch irgendwo auftreiben kann.«
»Doch, kann man«, meldete Gail sich zu Wort. »Auf dem Flohmarkt und vielleicht sogar noch bei ebay. Obwohl, so altmodische Sachen gibt’s da wahrscheinlich gar nicht.«
Die beiden kriegten sich kaum ein vor Lachen, und Chelsea und Marisa, die ja auch immer mit ihnen zusammen hingen, machten natürlich mit. Außer der eingeschworenen Clique hielten sich zurzeit nur zwei Jungs im Klassenzimmer auf, alle anderen waren noch nicht da, und die beiden grinsten auch nur dämlich in sich hinein. Klar, kein Junge an der Dedmon’s High würde was dagegen sagen, wenn Geraldine & Co. jemanden fertigmachten. Die standen doch alle total auf diese ach so heißen Bräute.
»Wisst ihr was?«, fragte Jasmin gereizt. »Ihr könnt mich mal.«
Sie wollte an den vier Mädchen vorbei, um zu ihrem Platz zu kommen, doch Geraldine versperrte ihr den Weg.
»Ach, meinst du etwa, so mit uns sprechen zu können, Garland? Dann sag ich dir jetzt mal was: Du solltest deine Klappe lieber nicht so weit aufreißen, sonst …«
»Sonst was? Hetzt du mir deinen dämlichen kleinen Bruder auf den Hals oder was?«
»Glaub mir, das möchtest du lieber nicht herausfinden.« Sie lachte. »Und außerdem solltest du doch mittlerweile gemerkt haben, dass dich ohnehin keiner leiden kann. Kein Wunder, bei den Klamotten, die du trägst. Wer will denn schon mit einer Pennerin befreundet sein?«
»Lieber das als mit so falschen Schlangen wie euch«, erklang da plötzlich die Stimme eines Jungen.
Jasmin drehte sich um – und schnappte nach Luft. In der Tür zum Klassenzimmer stand Fletcher!
»Na, wen haben wir denn da?«, fragte Geraldine und wandte sich dem Jungen zu. Jasmin schien fürs Erste vergessen zu sein. »Ist das nicht der der neueste Bewohner von Deadman’s Landing?«
Unwillkürlich musste Jasmin schlucken. Viele Kids nannten den Ort »Deadman’s«, weil sich hier in der Vergangenheit mal üble Dinge zugetragen hatten. Sie mochte diesen Ausdruck nicht.
»Grad mal eine Woche hier und schon eine große Klappe riskieren, das haben wir ja gern«, mischte sich nun auch Chelsea ein. »Wo kommt ihr eigentlich her, deine Schwester und du?«
»Wir sind aus New York«, erklärte Fletcher.
»New York, wow!« Geraldine spielte die Beeindruckte. »Da bist du ja ein ganz Cooler, was?«
»Das kannst du sehen, wie du willst. Jedenfalls gibt es Mädchen wie dich zu Hunderten in New York, und eine ist wie die andere. Deshalb interessiert sich auch keiner für sie, weil sie einfach nur langweilig sind.«
»Ach, jetzt mach dich doch nicht gleich wieder bei allen unbeliebt«, meldete sich eine Stimme hinter Fletcher zu Wort. Gleich darauf drängte sich Norah in den Raum. »Nehmt es ihm nicht übel«, sagte sie zu Geraldine und ihren Freundinnen. »Mein Stiefbruder ist ein Trottel. Außerdem …«
Den Rest nahm Jasmin kaum noch wahr. Stattdessen stand sie da und starrte Löcher in die Luft. Träumte sie, oder hatte sich Fletcher eben tatsächlich für sie eingesetzt? Als sie begriff, dass es kein Traum war, wurde ihr richtig warm ums Herz.
»Na, geht’s wieder?«
Erschrocken wirbelte Jasmin herum, als in der Pause die Stimme hinter ihr erklang. Nachdem sie registriert hatte, dass es Fletcher war, der sie angesprochen hatte, lächelte sie erfreut.
»Hey«, sagte sie. »Du meinst, wegen Geraldine und den anderen?« Gelassen winkte sie ab. »Klar, das ist kein Ding. Daran bin ich inzwischen schon gewöhnt. Trotzdem danke wegen vorhin.«
»Kein Ding. Ehrlich gesagt kann ich solche affektierten Zicken nicht ab. Mädchen, die sich selbst für die Größten halten, nur weil sie reiche Daddys haben und sich teure Klamotten leisten können, sind mir schon in New York immer auf die Nerven gegangen.«
»Kann ich verstehen.« Jasmin lachte. »Na ja, deine Schwester scheint das aber ein bisschen anders zu sehen.« Sie deutete nach vorn, wo in einiger Entfernung Norah bei Geraldine und den anderen stand.
Fletcher winkte ab. »Ach, Norah ist eigentlich gar nicht so. Im Übrigen ist sie nur meine Stiefschwester. Jedenfalls hat sie immer Angst, irgendwo nicht dazu zu gehören und von anderen ausgeschlossen zu werden, weißt du? Deshalb schleimt sie sich bei Mädchen wie dieser Geraldine ein und gibt vor, genauso zu sein. Aber eigentlich ist sie echt ganz okay.«
»Na ja, wenn du meinst.« So ganz überzeugt war Jasmin nicht, aber eigentlich war es ja nur nett von Fletcher, dass er seine Stiefschwester in Schutz nahm.
»Also dann«, sagte er lächelnd und wandte sich ab. »Wir sehen uns.«
»Klar.« Als er weg war, seufzte Jasmin verträumt. Was für ein süßer Typ, und so nett! Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, dass er mehr wollte als nur mit ihr befreundet sein. Kein Junge hatte je irgendein gesteigertes Interesse an ihr gezeigt, und bei einem wie Fletcher standen die Mädchen sicher Schlange. Dass er sie, Jasmin, überhaupt bemerkt hatte, grenzte schon an ein Wunder.
In den letzten beiden Stunden hatten sie Sport bei Mrs. Halligan – Jasmins ganz besonderes Hassfach. Es gab einfach nichts, in dem sie wirklich gut war. Bei Base- und Basketball war sie immer schon nach fünf Minuten total außer Atem, Leichtathletik lag ihr überhaupt nicht, und beim Volleyball machte sie sich stets nur lächerlich. Hinzu kam, dass sie die engen Sporthosen tragen musste, die ihre Mom für sie gekauft hatte – und die ihre Figur nicht gerade vorteilhaft zur Geltung brachten.
Nach neunzig Minuten voller Spott und Häme durch Geraldine und ihre Freundinnen war Jasmin froh, dass der Tag endlich vorbei war. Einzig die Begegnung mit Fletcher war ihr in guter Erinnerung geblieben.
Seufzend stopfte sie ihre Sportklamotten in den Matchsack und verließ die Umkleidekabine, ehe die anderen Mädchen aus der Dusche kamen. Wann immer es möglich war, zog Jasmin es vor, zu Hause zu duschen, denn dort hatte sie wenigstens ihre Ruhe und brauchte sich nicht ständig irgendwelche bissigen Kommentare über ihre Speckröllchen anzuhören.
Sie war schon auf dem Weg zur Fahrradwache, als ihr einfiel, dass sie etwas Wichtiges vergessen hatte. Mr. Finnegan wollte morgen in Französisch einen Vokabeltest schreiben, und sie hatte ihre Französischsachen in ihrem Spind liegen lassen. Eigentlich war es nicht erlaubt, sich nach Schulschluss noch im Gebäude aufzuhalten, doch für den Fall, dass der Hausmeister sie erwischte, hatte sie wenigstens eine gute Ausrede.
Trotzdem erschrak sie halb zu Tode, als sie aus dem Treppenhaus kam und beinahe mit einer anderen Person zusammenknallte. Eine bunt gemusterte Plastiktüte landete mit einem feuchten Klatschen auf dem Fußboden.
»Sorry, ich … Es tut mir leid, ich wollte nicht …«
»Hey, keep cool, ist ja schon gut.«
Jasmin war richtig erleichtert, als sie Fletcher erkannte. »Gott sei Dank, du bist’s! Aber … Was machst du hier eigentlich? Ich meine, eigentlich dürfen wir nach Schulschluss nicht … Na ja, ich bin ja auch hier, deshalb …«
»Sag mal, bist du immer so nervös?«
Jasmin schoss das Blut in die Wangen, doch als sie ihn lächeln sah, beruhigte sie sich langsam. »Nein – das heißt, eigentlich schon.« Sie atmete tief durch. »Okay, ich glaube, jetzt geht’s wieder.«
»Schön, ich dachte schon, du fängst gleich an, dich wild im Kreis zu drehen und mit den Armen zu rudern.«
»Keine Sorge, das mache ich eigentlich immer nur, wenn meine Mom mal wieder zu viel Chilipulver beim Kochen benutzt hat.«
Er grinste schief. »Na, dann bin ich ja beruhigt.«
»Ist das deine Tüte?«
Fletcher schaute zu Boden, und Jasmin fragte sie sich, was wohl in der Tüte sein mochte. Eines stand fest, der Inhalt war irgendwie … feucht.
»Ähm … Ja stimmt, das ist meine«, sagte Fletcher, und auf einmal war er es, der nervös wirkte. Hektisch nahm er die Plastiktüte vom Boden auf und versteckte sie hinter seinem Rücken.
Jasmin runzelte die Stirn. »Störe ich gerade irgendwie?«
»Nein, überhaupt nicht, ich wollte bloß …«
»Schon klar, ich bin dann jetzt mal weg.« Jasmin lächelte. »Man sieht sich.«
Sie ging den Korridor zu ihrem Spind. Ehe sie die Tür öffnete, blickte sie noch einmal zurück und beobachtete, wie Fletcher den Inhalt seiner Tüte in einem der Schließfächer verstaute. Um was es sich handelte, konnte sie aber nicht erkennen. Und als sie mit ihrem Vokabelheft in der Tasche wieder auf den Schulhof hinaustrat, hatte sie die ganze Sache auch schon fast wieder vergessen.
»Und? Wie ist er so?«, fragte Cleo nach der Schule auf dem Nachhauseweg.
Fragend sah Jasmin sie an. »Wenn du mir auch mal erzählst, von wem du sprichst, kann ich vielleicht auch antworten.«
»Na, ich spreche natürlich von Fletcher. Glaubst du etwa, Andrea und ich haben nicht gesehen, wie du dich in der Pause an ihn rangemacht hast?«
Abwehrend hob Jasmin die Hände. »Rangemacht? Ich?«
»Jawohl, du! Ich sehe schon, wir haben uns total in dir getäuscht, Süße. Du bist ein echt schlimmer Finger, der den Jungs reihenweise die Köpfe verdreht!«
»Was für ein Blödsinn«, widersprach Jasmin. »Ich und Jungs die Köpfe verdrehen – wie lange kennen wir uns jetzt eigentlich?«
Cleo hob die Achseln. »Es heißt doch immer: Stille Wasser sind tief. Tja, und so wie’s aussieht, trifft das alte Sprichwort auf dich ja auch ziemlich gut zu. Also, jetzt erzähl schon – ist er so genauso süß wie er aussieht?«
Jasmin spürte, wie sie rot anlief. »Ja, total. »
»Wow, dich hat es echt heftig erwischt, was? Kann ich verstehen. Ist ja auch echt cute, der Typ. Aber keine Angst, mein Fall wäre er nicht«, fügte sie rasch hinzu. »Du weißt doch, ich stehe eher auf Lyle Gregson aus dem Footballteam.« Sie seufzte verträumt. »Kannst also unbesorgt sein, ich schnapp dir deinen Fletcher ganz bestimmt nicht weg.«
»Hey, jetzt mach mal langsam, ja?«, protestierte Jasmin. »Dass ich ihn ganz süß finde, heißt ja noch lange nicht, dass ich ihn mir angeln will. Ich hab schließlich gerade mal ein paar Worte mit ihm gewechselt. Wer weiß schon, ob wir auf einer Wellenlänge sind? Außerdem hab ich bei so einem eh keine Chance.«
»Spinnst du? Wieso das denn?«
»Na, guck mich doch mal an. Ich bin ja wohl nicht unbedingt der Typ Mädchen, auf den Jungs wie Fletcher abfahren.«
»Nur weil du ein bisschen griffiger bist? Pah, wenn du wüsstest! Genau auf so was stehen doch die meisten Jungs. Und nicht auf so Knochengerüste wie unsereins.«
»Wenn du meinst.« Jasmin war da zwar ganz anderer Ansicht, beließ es aber dabei. Solche Diskussionen führten ohnehin zu nichts.
Nachdem Cleo schließlich in ihrem Elternhaus verschwunden war, ging Jasmin noch ein Stück weiter und hatte dann ihr Zuhause erreicht. Kaum dass sie das Haus betreten hatte, quetschte ihre Mom sie auch schon aus, wie es in der Schule gewesen war. Jasmin erzählte das Nötigste, aß eine Kleinigkeit zu Mittag und verzog sich dann zum Hausaufgaben machen auf ihr Zimmer. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie schaffte es einfach nicht, sich auf die Aufgaben zu konzentrieren. Stattdessen musste sie immer wieder an Fletcher denken.
Als Chelsea Waterstone am nächsten Morgen um halb acht den Schulhof betrat, war noch keine ihrer Freundinnen da. Irgendwie war sie fast ein bisschen froh darüber, denn im Moment herrschte zwischen den Mädchen eine ziemlich angespannte Stimmung. Natürlich betrachtete Chelsea es nach wie vor als Privileg, zu Geraldines Clique zu gehören, denn so viel Glück hatten weiß Gott nur wenige. Gleichzeitig kam ihr das Ganze aber auch manchmal wie ein Fluch vor. Immer ging es nur darum, schöner, besser, beliebter zu sein als die anderen. Am meisten aber ärgerte sie, dass niemand in irgendetwas besser sein durfte als Geraldine höchstpersönlich. Früher hatte Chelsea sich damit noch arrangieren können, aber inzwischen fiel ihr das immer schwerer.
Vor allem nach dem, was am Wochenende passiert war.
Chelsea hatte sich am Freitag ein Wahnsinnsshirt und eine absolut geniale Hose gekauft. Sie hatte die Sachen in einer kleinen Boutique in Carson’s Creek entdeckt, einem echt edlen Schuppen, der nur Designerfummel führte. Die Kreditkarte ihres Dads hatte ganz schön unter dem Einkauf leiden müssen, aber das war es absolut wert gewesen, denn die Klamotten waren der Oberhammer.
Klar, dass sie diese auch gleich am Samstagabend anziehen wollte. Sie hatte sich mit der Clique verabredet, um erst bei Geraldine (ihr Dad hatte ein riesiges Haus am Stadtrand) ein bisschen abzuhängen und dann mit ein paar Jungs aus dem Footballteam in einen angesagten Club in Springdale zu gehen. Einen Führerschein hatten die Mädchen mit ihren sechzehn Jahren zum Glück alle schon.
Was dann passiert war, trieb Chelsea selbst jetzt noch vor lauter Wut das Blut ins Gesicht. Geraldine hatte natürlich gleich gecheckt, dass Chelseas neues Outfit der Wahnsinn war, und das hatte ihr nicht gepasst – vor allem, weil sie an diesem Wochenende selbst nicht mit was coolem Neuen aufwarten konnte.
Eine richtige Szene hatte sie veranstaltet, absolut filmreif. Am Ende war Chelsea von ihrem Getue so angenervt gewesen, dass sie nach Hause gefahren war, um sich umzuziehen. Und leider war dieser Vorfall nicht die Ausnahme von der Regel: Geraldine hielt es einfach nicht aus, wenn irgendjemand besser aussah als sie selbst. Das war so was von unfair!
An dem Abend hatte Chelsea nur noch das Nötigste mit ihr gesprochen, aber das war Geraldine nicht mal aufgefallen. Am liebsten hätte Chelsea ihr mal so richtig die Meinung gesagt, aber dann wäre sie in der Clique unten durch, und das durfte nicht passieren. Chelsea wollte dazugehören, und wenn sie dafür ihren Ärger runterschlucken musste, dann ging es halt nicht anders.
Sie war extra eher in die Schule gekommen, weil sie keine Lust gehabt hatte, zusammen mit den anderen aufzulaufen. Ohnehin war heute einfach nicht ihr Tag. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass das Wochenende schon wieder vorbei war, plagten sie auch noch schlimme Kopfschmerzen.
Als sie das Schulgebäude betrat und zu den Spinden ging, hielten sich erst wenige andere Schüler dort auf, was ihr nur recht war, so hatte sie wenigstens noch etwas ihre Ruhe.
Seufzend schloss sie ihren Schrank auf und griff nach ihren Schulbüchern. In diesem Moment fiel ihr Blick ins Innere des Schließfachs, und ihre Hand zuckte erschrocken zurück. Chelseas Augen wurden groß. Zwischen dem Durcheinander von Büchern und anderem Kram, den sie im Spind aufbewahrte, war da noch etwas anderes.
Etwas, dass hier ganz bestimmt nicht hingehörte!
Inmitten einer großen, schimmernden Blutlache lag da nämlich eine bleiche, von blau-violetten Adern durchzogene abgehackte Hand!
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Tag der Veröffentlichung: 28.06.2023
ISBN: 978-3-7554-4556-2
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