Es schüttete wie aus Kübeln. Schon den ganzen Tag über hatten dunkle Regenwolken drohend über Littlebourne gehangen. So als hätten sie die Tragödie, die über das kleine Städtchen hereinbrechen würde, bereits ankündigen wollen.
Fröstelnd zog Jennifer ihre Strickjacke enger um den schlanken Körper. Doch dem eisigen Wind, der mit Einbruch der Dämmerung aufgekommen war, hatte sie kaum etwas entgegenzusetzen. Er durchschnitt die groben Maschen wie Butter.
Zum Glück war es ja nicht weit bis zu ihrem Wagen, den sie am Straßenrand vor ihrem Elternhaus abgestellt hatte. Der altersschwache Pontiac war der ganze Stolz der Siebzehnjährigen. Er war beileibe keine Schönheit, doch Jennifer hatte die ganzen Sommerferien im Eisenwarenladen ihres Onkels gejobbt, um sich das Geld für einen eigenen Wagen zusammenzusparen.
Jetzt allerdings hatte sie kaum ein Auge dafür übrig. Es gab andere Dinge, die sie beschäftigten. Bedrohlichere Dinge. Mit einem Seufzen klemmte sie sich hinters Steuer und startete den Motor, der ausnahmsweise sogar gleich beim ersten Versuch ansprang. Dennoch fuhr sie nicht sofort los, sondern warf einen kurzen, verstohlenen Blick in den Rückspiegel.
Nichts regte sich.
Die Straße lag dunkel und verlassen da.
Fast hatte sie schon damit gerechnet, hinter sich die Scheinwerfer eines anderen Wagens aufflammen zu sehen. Doch da war nichts.
Absolut nichts.
Jennifer atmete erleichtert auf. Du fängst schon an, Gespenster zu sehen, dachte sie; dann fuhr sie los. Die Scheibenwischer liefen auf Hochtouren, schafften es aber trotzdem kaum, mit den vom Himmel herabstürzenden Wassermassen fertig zu werden. Die Schneise aus Helligkeit, die die Scheinwerfer in die Dunkelheit rissen, reichte kaum aus, um auch nur ein paar Meter die Straße voraus zu erhellen.
Was für eine Nacht …
Doch es waren ja nur noch ein paar Meilen bis Dixby. Ein paar Meilen, bis sie sich bei Brian befand.
Ein paar Meilen, bis sie in Sicherheit war.
Brian war der einzige Mensch auf der Welt, dem sie jetzt noch vertrauen konnte. Abgesehen vielleicht von ihren Eltern und ihrem Bruder, aber die konnten ihr jetzt auch nicht helfen. Wahrscheinlich würden sie ihr nicht einmal glauben …
Aber Brian würde ihr helfen. Ihm fiel immer etwas ein, auch wenn die Lage noch so hoffnungslos war. Und hoffnungslos erschien sie Jennifer in der Tat. Was hatten SIE an diesem Morgen zu ihr gesagt, als SIE sie auf der Mädchentoilette der Schule wie ein wildes Tier in die Enge getrieben hatten? Es wird dir noch leidtun, dich mit uns angelegt zu haben … sehr leid!
Jennifer wusste, dass diese Leute gefährlich waren. Und auch wenn sie sich noch vor ein paar Stunden mutig und selbstbewusst gestellt hatte, war ihr in Wahrheit beinahe vor Angst das Blut in den Adern gefroren!
Auch jetzt fiel es ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Was würden SIE mit ihr anstellen? Sie wusste zu viel, als dass sie noch darauf hoffen konnte, sich mit heiler Haut aus der Affäre ziehen zu können. Und wenn SIE sich bedroht fühlten, kannten SIE keine Gnade. Jennifer kannte SIE inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie kein Erbarmen von IHNEN erwarten durfte.
Wenn sie doch bloß endlich bei Brian wäre! Er würde Rat wissen!
Zumindest hoffte Jennifer es – denn er war ihre letzte Chance …
Die Siebzehnjährige zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich hinter ihr die Scheinwerfer eines anderen Wagens aufblendeten. Das Herz raste ihr in der Brust, als wolle es zerspringen! SIE hatten sie gefunden! Jetzt hatte sich auch ihre letzte Hoffnung in Luft aufgelöst!
Jennifer beruhigte sich erst, als der Wagen auf einmal den Blinker setzte und in eine Seitenstraße einbog. Was hast du denn erwartet? Sie werden wohl kaum riskieren, dich in aller Öffentlichkeit um die Ecke zu bringen!
Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. Normalerweise war sie nicht der Typ Mensch, der so leicht durchdrehte. Doch im Augenblick waren ihre Nerven einfach zum Zerreißen angespannt.
Sie erreichte den Wald. Der Regen ließ, abgeschirmt durch die dichten Baumkronen, ein wenig nach. Jetzt hatte sie es beinahe geschafft. In fünf Minuten würde sie Brian in die Arme schließen, und alles würde gut werden …
Doch Jennifer sollte diesen Augenblick nicht mehr erleben.
Direkt vor ihr zerriss mit einem Mal ein grelles Licht die Dunkelheit. Jennifer schrie erschrocken auf. Geblendet riss sie eine Hand vor die Augen. Als sie begriff, was dieses Licht bedeutete – irgendjemand fuhr geradewegs auf sie zu und drohte, sie zu rammen! –, handelte sie instinktiv und riss das Steuer herum. Sie sah noch den Baumstamm, an dem ihr heiß geliebter Pontiac nur einen Sekundenbruchteil später sein endgültiges Ende finden sollte. Den Aufprall spürte sie kaum noch.
Danach kam nur noch Dunkelheit.
Der bedrohliche Anblick der dunklen Gestalten, die aus dem entgegenkommenden Wagen stiegen und schweigend das schwelende Fahrzeugwrack umringten, blieb ihr erspart …
*
Megan Fairchild wischte mit dem Handrücken über die beschlagene Seitenscheibe des alten Fords und blickte ins Freie. Sie seufzte. Soweit das Auge reichte, nur Schnee, Schnee und noch mal Schnee. „Wie weit ist es denn noch, Mom?“
„Es kann nicht mehr allzu weit sein, Honey“, antwortete ihre Mutter, ohne den Blick von der vereisten Straße zu nehmen. „Der Makler hat mir den Weg genau beschrieben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass jeden Moment die ersten Häuser vor uns auftauchen müssten.“
Megan ließ sich tiefer in den Beifahrersitz sinken, verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. Was hatte sie hier eigentlich zu suchen? Sie sollte zu Hause in New York sein und mit ihrer Clique die irrsten Sachen unternehmen! Stattdessen befand sie sich mit ihrer Mom auf dem Weg in ihr neues Heim – mitten im Herzen von Nirgendwo!
Littlebourne. Wie das schon klang! Megan brauchte das Nest gar nicht erst zu sehen, um zu wissen, dass sich hier Fuchs und Hase gute Nacht sagten. Was konnte man einer Fünfzehnjährigen Schlimmeres antun, als sie direkt vom Big Apple in ein kleines Provinznest zu verfrachten? Sie würde vor Langeweile sterben!
Das Vertrackte an der Sache war, dass sie ihre Mutter durchaus verstehen konnte. Sie hatte es einfach nicht länger in New York ausgehalten, wo sie jederzeit Gefahr lief, ihren Ex-Mann mit seiner neuen Flamme zu treffen. Um ehrlich zu sein, war auch Megan nicht gerade scharf auf eine solche Begegnung. Sie hatte diese Debbie nur einmal getroffen, aber das hatte gereicht. Dass sich ihr Dad mit so einer abgab, ging über ihren Verstand.
Aber dass sie die Beweggründe ihrer Mutter verstand, bedeutete nicht, dass sie mit ihrer Entscheidung besonders glücklich war. Musste es denn ausgerechnet ein winziges Kaff in den Mountains sein? Warum nicht Los Angeles? New Orleans? Oder Houston? Warum ausgerechnet Littlebourne?
Dann lag es nach einer scharfen Kurve in all seiner Pracht vor ihr. Die Dächer der Häuser mit Schnee gepudert und umgeben von dichten Nadelholzwäldern, wirkte Littlebourne auf Megan wie das Motiv für eine kitschige Ansichtskarte. „Na, das kann ja heiter werden“, stöhnte sie leise. „Was für ein Kaff!“
„Jetzt warte doch erst mal ab, Schatz.“ Mrs. Fairchild lächelte ihr aufmunternd zu. „In ein paar Wochen hast du dich eingewöhnt, und dann willst du gar nicht mehr aus Littlebourne fort.“
Mühsam rang sich auch Megan ein Lächeln ab. „Sicher, wahrscheinlich hast du recht, Mom.“
Sich selbst konnte sie mit diesen Worten allerdings nicht überzeugen.
*
Drei Wochen später.
Es war kurz nach fünf Uhr. Die letzte Unterrichtsstunde war zu Ende, und das Burger Palace platzte aus allen Nähten. Kein Wunder, dachte Megan. Schließlich war es so ziemlich der einzige Ort, an dem sich die Teens nach Schulschluss aufhalten konnten. Die Glücklichen, die bereits einen Führerschein besaßen, hatten es da schon ein bisschen besser. Sie konnten wenigstens auf die andere Seite des Tales nach Dixby fahren. Dort gab es immerhin ein Kino und zwei Tanzschuppen, die zwar keinen Vergleich zu New Yorker Discos standhielten, aber für diese hinterwäldlerische Gegend eine Sensation waren.
Megan seufzte. In den drei Wochen, die sie jetzt in Littlebourne lebte, hatten sich all ihre Befürchtungen bewahrheitet. Das Schlimmste aber war, dass es ihr beim besten Willen nicht gelang, Kontakte zu den hiesigen Teenagern zu knüpfen. Der Grund war ihr völlig schleierhaft. In New York hatte sie keine Schwierigkeiten gehabt, neue Bekanntschaften zu schließen.
„Was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?“
Megan hatte das dunkelhaarige Mädchen überhaupt nicht bemerkt, das sich jetzt, ohne eine Antwort abzuwarten, auf die Sitzbank ihr gegenüber sinken ließ.
„Brr … Was für ein elendes Mistwetter“, schnaufte sie und streifte ein paar dicke pinkfarbene Fäustlinge von den Händen. „Also, wenn du mich fragst, dieser ewige Schnee geht mir ziemlich auf die Nerven. Seit über einem Monat nichts als Schnee, Schnee, Schnee. Wenn das so weitergeht, werde ich noch depressiv!“
Zu ihrer eigenen Überraschung war Megan sprachlos. Anscheinend war sie es nicht mehr gewöhnt, dass jemand – außer ihrer Mom – mehr als zwei Worte mit ihr wechselte.
„Du bist ja nicht gerade besonders gesprächig, was?“ Das Mädchen musterte sie und streckte ihr die Hand entgegen. „Joanna Baker. Aber nenn mich ruhig Jojo, das tun alle.”
„Megan Fairchild.“
„Ich hab dich heute an der Schule gesehen. Was, um Himmels willen, hat dich in unsere pulsierende Großstadt verschlagen?“, fragte Jojo neugierig. „Für ein echtes Landei ist dein Outfit jedenfalls viel zu freakig.“
Für zwei Sekunden starrten sich Megan und Jojo an, dann brachen sie in Gelächter aus. Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, musterte Megan ihre neue Bekannte eingehender. Jojo musste etwa in ihrem Alter sein, war aber einen Kopf kleiner als sie. Das kurze, schwarze Haar trug sie zu einer stacheligen Igelfrisur hoch gegelt. Ihren Nasenflügel zierte ein winziger funkelnder Glitzerstein. Allein das war wahrscheinlich in einer Kleinstadt wie Littlebourne schon Grund genug für eine Menge Tratsch und Klatsch.
„Was starrst du mich so an? Habe ich vielleicht einen Pickel auf der Nase?“
„Quatsch! Ich dachte bloß gerade, dass du auch nicht so ganz hierher passt. Na ja, ich meine …“
„Ich weiß schon, was du meinst.“ Jojo grinste. „Du hättest mal sehen sollen, wie mich die ganze Meute angestarrt hat, als ich zum ersten Mal mit meinem Piercing zur Schule gekommen bin!“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber was soll's? Ich steh halt nicht so auf rosa Twinsets und Ballerinas.“
Megan war happy. Sie und Jojo lagen völlig auf einer Wellenlänge. Sie hörten dieselbe Musik, standen beide auf Justin Bieber, lasen gerne Thriller und Science-Fiction – kurz, zwischen ihnen gab es jede Menge Gemeinsamkeiten und Gesprächsstoff. Dabei hatte Megan die Hoffnung schon beinahe aufgegeben, nachdem sich der erste Schultag an der Hamilton High als absoluter Reinfall herausgestellt hatte.
„Hey Jojo! Hätte ich mir ja denken können, dass du dir den Neuzugang gleich unter den Nagel reißt.“ Ein Mädchen in der Arbeitskleidung des Burger Palace bahnte sich einen Weg durch die Menge. Ihr rundliches Gesicht war gerötet. Die Schürze spannte ein bisschen um die Hüften, ließ sie aber durchaus attraktiv wirken.
Jojo verdrehte die Augen. „Darf ich vorstellen, Megan?“ Sie nickte in Richtung des Mädchens, das jetzt zu ihnen an den Tisch getreten war. „Das ist Phoebe, meine durchgeknallte Cousine.“
„Das habe ich zu deinem Vorteil überhört, Jojo.“ Phoebe knuffte sie spielerisch in die Seite. „Was soll deine neue Freundin denn für einen Eindruck von mir kriegen?“
Alles in allem einen recht sympathischen, dachte Megan.
Jojo winkte lässig ab. „Also mal ehrlich, was will man von einer halten, die sich als strenge Vegetarierin propagiert und dann in einem Burgerschuppen ihr Taschengeld aufbessert?“
Schmollend verzog Phoebe das Gesicht. „Ich weiß gar nicht, wo da der Widerspruch sein soll. Dass ich gebratene Tierkadaver zwischen zwei Brötchenscheiben durch die Gegend trage, heißt ja noch lange nicht, dass ich das Zeug auch esse!“
„Genau das meine ich“, stöhnte Jojo. „Im Ernst, es wundert mich, dass Minette dich nicht schon längst vor die Tür gesetzt hat. Deine ständigen Vorträge müssen für den Burger Palace einfach geschäftsschädigend sein. Und außerdem …“
Megan klinkte sich aus. Das Thema schien ein ewiger, aber für Megan uninteressanter Zankapfel zwischen den Cousinen zu sein. In der Zwischenzeit unterzog sie lieber die Besucher des Diners einer genaueren Betrachtung. Hauptsächlich handelte es sich dabei um Kids, die ebenso wie sie keine Lust hatten, ihre kostbare Freizeit zu Hause vor der Glotze zu verplempern. Und da man es bei den derzeitigen frostigen Temperaturen im Freien unmöglich länger als zehn Minuten aushalten konnte, ohne sich schwere Erfrierungen an den verschiedensten Körperteilen zuzuziehen, traf man sich eben im Palace.
Megan starrte durch die Schaufensterscheiben in das dichte Schneetreiben, als die Eingangstür des Diners aufgestoßen wurde. Eine kräftige Böe beförderte zwei vermummte Gestalten und einen Schwall frischer Schneeflocken ins Innere des Palace. Einen Jungen und ein Mädchen, wie Megan feststellte, nachdem sich die beiden aus ihren dicken Wintermänteln gepellt hatten. Das Mädchen bekam sie allerdings nur ganz am Rande mit. Ihre Aufmerksamkeit wurde von dem Jungen gefesselt, der gerade von einer ganzen Horde Leute überschwänglich begrüßt wurde. Er glich Ryan Phillippe aus dem Film „Eiskalte Engel“, allerdings als dunkelhaarige Ausgabe mit strahlend blauen Augen. Einfach super süß und ziemlich sexy.
„Was für Augen …“ Megan seufzte und stütze verträumt das Kinn auf die Hände. Sie war völlig hin und weg. Wer hätte das gedacht? Megan Fairchild begegnete am Ende der Welt dem Jungen ihrer Träume …
Leises Kichern holte sie wieder in die Realität zurück.
„Siehst du auch, was ich sehe?“, fragte Jojo grinsend.
Phoebe nickte. „Und ob! Dümmliches Grinsen, rote Wangen, rasender Puls. Ich würde sagen, akuter Fall von Verknallitis, Frau Doktor.“
„Hahaha, sehr witzig“, erwiderte Megan, während ihr das Blut ins Gesicht schoss. „Macht euch ruhig lustig über mich!“
„Ach was, wer macht sich denn lustig? Ob du's glaubst oder nicht: So geht's fast jeder, die dem umwerfenden, unwiderstehlichen und unnahbaren Corey Ellis über den Weg läuft.“ Jojo grinste. „Er ist der Herzensbrecher der Hamilton High. Zeig mir eine, deren Herzschlag er noch nicht aus dem Takt gebracht hätte.“ Sie erntete einen bösen Seitenblick von Phoebe und hob beschwichtigend die Hände. „Oh, außer unserer lieben Phoebe hier. Sie ist anscheinend immun gegen Coreys Reize.“
Ärgerlich schüttelte Megan den Kopf. „Was wollt ihr eigentlich? Der Typ interessiert mich überhaupt nicht. Ich kenn ihn ja nicht mal!“
„Ist auch gut so“, sagte Phoebe. „Besser, du schlägst ihn dir gleich aus dem Kopf. Erstens klebt unsere Dorfschönheit Uma Veddic an ihm wie eine Klette, und zweitens ist Corey einer von ihnen.“
Jojo bedachte ihre Cousine mit einem bitterbösen Blick. Doch Megans Neugier war geweckt. „Ihnen?“, fragte sie. „Klärt mich vielleicht mal jemand auf?“
Plötzlich schienen die beiden redseligen Cousinen mit Stummheit geschlagen zu sein. Während Phoebe mit rotem Kopf nur herumdruckste, verschränkte Jojo die Arme vor der Brust und schwieg.
Megan runzelte die Stirn. „Kommt schon Leute, lasst mich nicht dumm sterben!“
„Also schön.“ Jojo seufzte frustriert. „Früher oder später findest du's ja eh heraus. Sie nennen sich die Bones, und unser Schönling Corey Ellis gehört dazu. Ein Haufen Durchgeknallter, die sich für was Besseres halten und meistens in der Nähe der alten Mühle rumhängen. Bist du jetzt zufrieden?“
„Die alte Mühle?“, fragte Megan nach.
„Sag bloß, du hast davon noch nichts gehört?“, fragte Phoebe erstaunt. Dann schauderte sie. „Ein unheimlicher Ort für ein paar unheimliche Leute. Passt doch eigentlich ganz gut?“
Natürlich wollte Megan noch mehr wissen. Gerade sie, die doch von Rätseln und Geheimnissen anzogen wurde wie Motten vom Licht. Nicht, dass sie sich selbst als neugierig bezeichnet hätte! Aber sie interessierte sich nun einmal brennend für Dinge, von denen sie eigentlich nichts wissen sollte.
Und die Frage, wer oder was ein Bone war, ließ sie daher auch in der kommenden Nacht nicht zur Ruhe kommen, nachdem aus Jojo und ihrer Cousine nicht mehr viel herauszuquetschen gewesen war. Seit Stunden lag sie nun schon wach. Eigentlich hätte sie längst schlafen sollen, aber sie konnte einfach nicht! Gut, zum Teil mochte dies auch mit Corey Ellis zu tun haben, dessen süßes Gesicht sie jedes Mal vor sich sah, wenn sie die Augen schloss. Was für ein cooler Typ! Sofort begann ihr Herz, schneller zu klopfen. Schade nur, dass er schon eine Freundin hatte. Zumindest hatten Phoebe und Jojo so etwas in der Richtung angedeutet. Aber vielleicht, dachte sie verträumt, hatte sie ja doch eine Chance bei ihm. Dazu musste sie allerdings überhaupt erst einmal in seine Nähe kommen.
Verflixt! Wenn sie doch nur herausfinden könnte, was es mit diesen Bones auf sich hatte. Vielleicht war es so eine Art Schülergruppe oder Verein? Aber das erklärte nun wirklich nicht, warum Jojo und Phoebe ein solches Geheimnis daraus machten!
Megan gähnte. Neugierig oder nicht, so langsam nahm die Müdigkeit einfach überhand. Sie löschte das Licht und drehte sich auf die Seite. Trotzdem dauerte es noch eine halbe Ewigkeit, bis sie tatsächlich eingeschlafen war, und dann träumte sie natürlich von Corey.
Als der Wecker sie am nächsten Morgen mit einem grellen Schrillen aus dem Schlaf riss, fühlte sich Megan wie gerädert. Was für eine Nacht, dachte sie. Am liebsten wäre sie einfach liegen geblieben und hätte ein paar Stunden Schlaf nachgeholt. Doch schließlich gelang es ihr, sich aufzuraffen. Sie wollte nur höchst ungern zu spät zur Schule kommen. Und außerdem hatte sie vorher noch etwas mit Jojo zu besprechen.
Ihrer Mom zuliebe schlang Megan hastig einen Pancake mit Ahornsirup herunter, bevor sie aus dem Haus stürzte. Als sie den Bus-Stop erreichte, fluchte sie leise. Sie war gerade noch rechtzeitig angekommen, um den Bus vor ihrer Nase wegfahren zu sehen. So ein Mist! Jetzt blieb ihr wohl oder übel nichts anderes übrig, als ihre Mom zu bitten, sie zur Schule zu fahren.
Reichlich zerknirscht machte sie sich auf den Rückweg, als plötzlich ein Wagen direkt neben ihr an den Straßenrand fuhr. Es war ein vanillefarbener Chevrolet. Selbst Megan, die von Autos nicht viel Ahnung hatte, erkannte, dass es sich um einen liebevoll instand gehaltenen Oldtimer handelte. Das Fahrerfenster wurde heruntergekurbelt, und zu Megans Überraschung kannte sie den Fahrer des Chevys.
Es war Corey Ellis!
„Na? Den Bus verpasst?“, fragte er und lehnte sich mit einem coolen Lächeln aus dem Fenster. Megans Herz wummerte wie ein Vorschlaghammer in ihrer Brust. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Reiß sich zusammen, Megan Fairchild, reiß dich jetzt bloß zusammen!
Sie nickte stumm und wollte schon weitergehen, als Corey sagte: „Hey, nicht so schnell! Soll ich dich zur Schule mitnehmen? Du gehst doch jetzt auch auf die Hamilton, oder?
Megan lächelte scheu. „Ja, ich bin neu hier.“ Sie konnte es noch immer nicht glauben: Sie stand hier und unterhielt sich mit Corey Ellis! Mit dem Jungen, der sich in der vergangenen Nacht immer wieder in ihre Träume geschlichen hatte. Und er wollte sie sogar zur Schule fahren! Wahnsinn!
„Na, wie sieht's aus? Willst du jetzt mitfahren?“ Er grinste. „Du kannst aber auch auf den nächsten Bus warten, wenn's dir lieber ist.“
Megan schüttelte rasch den Kopf. Sie hätte sich lieber das rechte Bein abgehackt, als sich diese Chance entgehen zu lassen. Hastig rutschte sie auf den glatten Ledersitz. „Cooler Wagen“, bemerkte sie, mehr um überhaupt etwas zu sagen. „War bestimmt ziemlich teuer, oder?“
„Ach, so schlimm war's eigentlich gar nicht. Aber du hättest sehen sollen, in welchem Zustand er sich befand, als ich ihn gekauft habe. Ein Schrotthaufen war das!“
„Und du hast ihn ganz alleine wieder flott gemacht?“ Megan war ehrlich beeindruckt. „Wow, woher kennst du dich denn so gut mit Autos aus?“
Corey zuckte mit den Schultern. „Na ja, mein Onkel besitzt die Tankstelle am Ortseingang. Letzten Sommer hab ich die ganzen Ferien über dort in der Werkstatt gejobbt. Da schnappt man halt einiges auf.“
Megan strahlte. Jetzt, wo sie erst einmal mit Corey im Gespräch war, gestaltete es sich zu ihrer eigenen Überraschung als gar nicht so schwierig, sich mit ihm zu unterhalten. Als sie ein paar Minuten später das Schulgelände erreichten, war sie fast ein bisschen enttäuscht.
„Vielleicht sehen wir uns ja die Tage mal abends im Palace?“, fragte Corey, und Megans Herz machte einen Sprung. „Wäre bestimmt nett“, sagte er. „Ich könnte dir jede Menge Leute vorstellen. Schätze, du kennst bisher noch nicht so viele hier?“
„Na ja, um ehrlich zu sein …“
„Siehst du? Aber das nehme ich jetzt in die Hand!“ Er hob eine Braue. „Sag mal, wie heißt du eigentlich?“
„Megan Fairchild.“
„Cooler Name, Megan.“ Er hielt ihr die Hand hin. „Ich bin Corey. Corey Ellis.“
Megan überlief es heiß und kalt zugleich. Komplimente hatten sie schon immer ein bisschen verunsichert. Und noch dazu eines von Corey Ellis …
Sie war sich durchaus darüber im Klaren, dass sie ein ziemlich dämliches Grinsen vor sich hertrug, als sie zehn Minuten später auf dem Schulhof mit Phoebe zusammentraf.
„Sag mal, was ist denn mit dir los?“, fragte Jojos Cousine erstaunt. „Hattest du heute Morgen irgendwelche Muntermacher in deinem Frühstück?“
Megan schüttelte den Kopf. „Nein, viel besser.“ Sie seufzte. „Corey Ellis hat mich in seinem Wagen mitgenommen.“
„Oh, oh …“ Phoebe schüttelte den Kopf. „Du hast dich ganz schön in den Typen verknallt, oder?“
„Er ist echt furchtbar nett.“ Megan reckte trotzig das Kinn vor. „Ich weiß gar nicht, was Jojo und du gegen ihn habt. Ihr solltet ihm wenigstens eine Chance geben, finde ich!“
In dem Moment kam Jojo um die Ecke gebogen. „Ich hab wohl was verpasst, wie? Eine Chance geben? Wem denn?“
Phoebe warf Megan einen warnenden Blick zu, doch die hatte keine Lust, mit ihrer Meinung hinterm Berg zu halten. „Corey Ellis“, sagte sie. „Ich finde, er sieht nicht nur wahnsinnig gut aus, er ist auch wirklich nett. Und ja, ich bin der Meinung, dass ihr ihm eine Chance geben solltet. Was hat er euch denn getan, dass ihr so schlecht von ihm denkt?“
Megan wappnete sich innerlich schon auf eine verständnislose Reaktion seitens ihrer neuen Freundin. Doch die blieb überraschenderweise aus. Stattdessen nahm Jojo sie beim Arm und führte sie in eine ruhigere Ecke des Schulhofes, wo nicht so viele Kids herumstanden. Phoebe folgte ihnen.
„Ich kann dich ja verstehen“, erklärte Jojo. „Corey Ellis sieht wirklich zum Anbeißen aus, das weiß ich ja. Und er kann auch wirklich nett sein, wenn er sich Mühe gibt.“ Sie seufzte resigniert. „Im Grunde geht mich das auch alles überhaupt nichts an, aber ich möchte, dass du vorsichtig bist, Megan. Mit den Bones ist wirklich nicht zu spaßen. Das weiß hier jeder.“
Phoebe nickte bekräftigend. „Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Mit denen ist nicht gut Kirschen essen, wenn sie es erst mal auf dich abgesehen haben. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.“
„Könnte mich jetzt vielleicht endlich mal jemand aufklären, was diese ominösen Bones eigentlich sind?“, fragte Megan säuerlich. Ihr ging es gewaltig auf den Wecker, so von ihren neuen Freundinnen bevormundet zu werden. Sie war schließlich alt genug, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Und Corey Ellis würde sie sich ganz gewiss von niemandem ausreden lassen!
Doch auf ihre Frage nach den Bones erhielt sie wieder einmal keine Antwort.
*
Megan war erleichtert, als das Klingeln das Ende der letzten Unterrichtsstunde vor der Mittagspause ankündigte. Endlich! Den ganzen Tag über hatte Megan schon das Gefühl, auf einem Ameisenhaufen zu sitzen, so kribbelig war sie. Rasch stopfte sie ihr Geschichtsbuch in den Rucksack, warf ihn über die Schulter und rannte aus dem Klassenzimmer.
Die meisten Schüler tummelten sich noch im Gang und bei den Schließfächern herum, als Megan ins Freie stürmte. Heute hatte sie es besonders eilig. Sie war mit Jojo und Phoebe in der Cafeteria verabredet. Nicht, dass das etwas Besonderes gewesen wäre. Schließlich verbrachte sie in letzter Zeit jede Mittagspause in Gesellschaft der beiden. Aber heute war ein besonderer Tag. Jojo hatte sich nämlich bereit erklärt, sie in das große Geheimnis einzuweihen.
Heute würde Megan endlich erfahren, was es mit den ominösen Bones auf sich hatte.
Megan war neugierig. Am liebsten hätte sie Jojo und Phoebe schon während des Unterrichtes ausgequetscht. Doch ausgerechnet heute Vormittag hatte sie keinen Kurs mit den Cousinen gehabt. So hatte sie sich die ganze Zeit über in Geduld üben müssen – und Geduld war nicht unbedingt eine von Megans Stärken.
Jetzt hielt sie es vor Neugierde kaum noch aus. Zwei Tage lang hatte sie auf Jojo eingeredet, bis sie sie endlich erweichen konnte. Am Ende hatte sie ein Argument gefunden, das ihre Freundin überzeugte. Es ganz einfach gewesen: Wenn Jojo glaubte, sie vor Corey warnen zu müssen, hatte Megan ja wohl auch das Recht, den Grund zu erfahren.
Das hatte gewirkt. Zwar hatte Jojo ein Gesicht gezogen, als habe sie gerade in eine Zitrone gebissen, schließlich jedoch
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Tag der Veröffentlichung: 27.06.2023
ISBN: 978-3-7554-4543-2
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