Auf dem Friedhof war alles still.
Grabesstill.
Kimberley Harris wusste nicht, wie sie hierhergekommen war und was sie hier wollte. Es war mitten in der Nacht, nur der Mond warf seinen fahlen Schein auf das Gelände und ließ Grabsteine und Statuen in silbrigem Glanz erscheinen. Ab und zu stieß ein Käuzchen einen gequälten Laut aus, und als die Kirchturmuhr zwölf Mal schlug, zuckte Kim erschrocken zusammen.
Mitternacht!
Die Stunde der Geister und Dämonen. Und der zwölfte Schlag war noch nicht verklungen, als sie die Stimme hörte. Die Stimme einer alten Frau.
"Hüte dich, Kimerley Brown", sagte sie flüsternd. "Hüte dich, denn jetzt wird er kommen, um dich zu holen. Der Totenvogel!"
"Nein!", schrie Kim, doch in dem Moment erkannte sie, dass die Alte die Wahrheit gesprochen hatte. Plötzlich und unvermittelt tauchte er vor ihr auf – der Totenvogel!
Er flog direkt auf sie zu. Er war so groß wie ein Mann, mit einem gefährlich aussehenden, riesigen Schnabel und gewaltigen Flügeln.
Kim fuhr herum und begann zu rennen. Sie rannte, so schnell sie nur konnte, vorbei an Gräbern, Büschen und Sträuchern. Doch der Boden war uneben, und es war dunkel, und so verwunderte es nicht, dass sie nicht weit kam. Sie sah die aus dem Boden herausragende Baumwurzel zu spät, stolperte über sie und fiel der Länge nach hin. Mit den Händen federte sie den Sturz noch einigermaßen ab. Die Haut an ihren Handflächen riss auf. Blut quoll heraus und vermengte sich mit dem Matsch des Bodens.
Kim sah so gut wie nichts mehr. Der Bodennebel, der sich wie Todesfinger um Bäume, Sträucher und Grabsteine legte, raubte ihr die Sicht.
Da hörte sie das Geräusch hinter sich. Sie wollte sich noch umdrehen, doch da wurde sie bereits gepackt. Ein heftiger Schmerz durchfuhr sie, als sich die Krallen des Riesenvogels in ihre Haut am Nacken bohrten. Eine Sekunde lang geschah nichts, dann wurde sie ruckartig hochgerissen.
Kim schloss die Augen. Sie wusste, dass sie keine Chance mehr hatte. Es war aus.
Aus und vorbei.
Der Totenvogel hatte seine Beute gefunden – und flog mit ihr ins Reich der Toten.
*****
Einige Tage zuvor.
"Nach London? Aber das ist ja großartig!" Ellen strahlte ihre beste Freundin Kimberley begeistert an.
Die nickte und strich sich eine widerspenstige Strähne ihres langen, blonden Haares aus der Stirn. "Du weißt ja, dass ich vor ein paar Jahren schon mal in London war. Es ist einfach großartig dort. Und das Beste ist, dass es mich erstens keinen Cent kostet, und ich zweitens sogar noch ein ganz schönes Sümmchen verdiene."
Das stimmte in der Tat. Kimberley arbeitete nämlich als freiberufliche Fotografin. Ihr Spezialgebiet waren Tierfotografien aller Art. Hauptabnehmer waren private Personen und diverse Zeitschriften. Jetzt hatte sie von der Redaktion des bekannten Tiermagazins "Animal’s Live" den Auftrag bekommen, die berühmten grauen Eichhörnchen im Londoner Hyde Park für einen mehrseitigen Bericht zu fotografieren. Man zahlte ihr einen dreiwöchigen Aufenthalt mit allem Drum und Dran sowie ein ansehnliches Honorar. Letzteres bekam sie natürlich erst bei Ablieferung der Bilder und auch nur dann, wenn die Redaktion mit den Fotos zufrieden war, weshalb sich die junge Frau natürlich besonders ins Zeug legen musste.
Ellen lächelte. "Ich beneide dich wirklich. Ich wollte auch schon immer mal nach London. Du musst mir hinterher aber wirklich alles haarklein erzählen. Und vergiss bloß nicht, mir zu schreiben. Ich will mindestens drei verschiedene Ansichtskarten, hörst du?"
"Geht klar." Kim lachte. "Ich hoffe nur, dass ich gute Fotos hinbekomme. Und dass da auch sonst alles glatt läuft. Ich war ja schon ewig nicht mehr weg."
"Hey, sind doch nur drei Wochen. Aber wer weiß – vielleicht bleibst du ja auch länger in London."
Kim sah sie fragend an. "Wieso sollte ich?"
"Na, wer weiß. Wenn dir da ein süßer Typ über den Weg läuft, wäre das doch eine prima Gelegenheit, für immer auf der Insel zu bleiben, oder etwa nicht?"
"Hör mir bloß auf! Von Männern habe ich die Nase erst mal gestrichen voll. Nach der Pleite mit Michael will ich nur noch meine Ruhe haben."
"Ach was!" widersprach Ellen sogleich. "Wenn dir der Richtige über den Weg läuft, denkst du schon wieder ganz anders darüber. Sicher, Michael war ein Mistkerl – aber das heißt noch lange nicht, dass alle Männer so sind. Sieh mich an – Jack und ich sind schon seit vier Jahren verheiratet, und er war mir immer treu. Na ja, jedenfalls nehme ich das mal stark an!"
Sie lachten beide, und Kim wurde einen Augenblick nachdenklich. Sie beneidete ihre Freundin für deren privates Glück schon ein wenig. Schon seit Jahren war Ellen verheiratet, und bald wollten sie und ihr Mann eine Familie gründen.
Auch Kim wünschte sich Kinder. Doch ob sich dieser Wunsch je erfüllen würde, stand in den Sternen. Bis vor kurzem hatte sie noch fest daran geglaubt, dass ihr Michael, mit dem sie seit zwei Jahren verlobt gewesen war und den sie eigentlich bald heiraten wollte, in absehbarer Zeit ein Kind schenken würde. Doch dann hatte er sie verlassen – wegen einer anderen Frau, mit der er schon länger eine heimliche Affäre hatte.
Kim war aus allen Wolken gefallen. Immer hatte sie geglaubt, dass Michael nur sie und keine andere liebte – und dann das! Mit einem Mal war ihre kleine heile Welt in tausend Scherben zerbrochen. Sie war in ein tiefes Loch gefallen und hatte es nur Ellen zu verdanken, dass sie inzwischen einigermaßen darüber hinweg war. Ihre Freundin hatte ihr in dieser schweren Zeit geholfen, war immer für sie da gewesen und hatte ihr klar gemacht, dass es keinen Sinn machte, Michael für den Rest ihres Lebens nachzutrauern.
Dennoch nagte das alles noch ziemlich an Kim, und auch deshalb war sie froh, nach London zu können. Vielleicht gelang es ihr ja dort, die Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen und Michael ein für alle Mal zu vergessen.
***** ***** *****
"Meint ihr wirklich, das ist eine gute Idee?" Die Stimme des fünfzehnjährigen Eddie Justin zitterte leicht. "Was, wenn wir erwischt werden?"
Ben, ein Jahr älter, mindestens einen Kopf größer und sehr viel stämmiger als sein jüngerer Bruder Eddie, lachte laut auf. "Das war ja mal wieder klar, dass klein Eddie sich in die Hosen macht. Hau doch ab zu Mum und Dad, wenn du keinen Mumm in den Knochen hast!"
"Genau", lachte auch Jenny. Sie und Ben waren ein Paar und machten sich gern über Bens Bruder lustig.
"Ist ja schon gut", sagte Ben jetzt. "Ich bin dabei."
"Dann komm auch!"
Gemeinsam traten sie auf das große Eingangstor des Hyde Parks zu, das jede Nacht Punkt Mitternacht geschlossen wurde, um Obdachlose und Drogensüchtige fernzuhalten. Die Schließung des Parks war vor genau zehn Minuten vorgenommen worden. Durch die dicken schwarzen Gitterstäbe des Tores sahen die drei Teenager den Park, der friedlich dalag. Die Laternen innerhalb der Umzäunung waren ebenfalls um Mitternacht gelöscht worden, jetzt wurde das riesige Gelände nur durch den silbrigen Schein des halb vollen Mondes erhellt.
"Eddie geht als Erster", bestimmte Ben. "Wenn drüben die Luft rein ist, pfeifst du kurz, dann kommt erst Jenny nach und danach ich."
Eddie nickte. Dass ihm nicht wohl bei der Sache war, war nicht zu übersehen. Doch er wollte nicht als Feigling gelten, und so nahm er all seinen Mut zusammen und kletterte über den Zaun. Kein einfaches Unterfangen, er war nun mal nicht geübt in so etwas, und sehr sportlich war er ohnehin nicht, doch schließlich schaffte er es. Als er auf der anderen Seite des Zaunes stand, blickte er sich kurz in alle Richtungen um. Viel war im Mondlicht nicht zu sehen, zudem hatte sich auch leichter Bodennebel gebildet, doch es schien alles in Ordnung zu sein. Er stieß einen leisen Pfiff auf und half kurz darauf der sportlichen Jenny nach unten, die ohne Probleme über den hohen Zaun kletterte.
Ben war zuletzt an der Reihe. Im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder trieb er viel Sport, so dass es für ihn ebenso wie für Jenny ein Leichtes war, über den Zaun zu klettern.
"So", sagte Ben schließlich, "jetzt haben wir es gleich geschafft. Kommt mit!"
Ben ging voran, die anderen folgten ihm. Im Park war alles ruhig. Nur der Wind fuhr leise pfeifend durch die Zweige der hohen Bäume, und ab und zu stieß ein Käuzchen einen klagenden Schrei auf.
Sonst war alles still.
Totenstill.
"Ist es noch weit?", fragte Jenny flüsternd, wobei ihre Worte fast völlig von den aufsteigenden Nebelschwaden verschluckt wurden, die sich wie Todesfinger um Bäume und Sträucher legten.
"Nur noch ein paar Yards, und wir sind da." Ben hielt kurz inne und deutete nach vor. "Dort ist es schon."
Sie gingen weiter auf eine große Statue zu. Direkt vor ihr blieben sie stehen. Ben zog sich den Rucksack vom Rücken und packte den Inhalt aus.
"Und los geht’s", raunte er den anderen zu. "Macht schnell, damit uns keiner erwischt. Sobald alles erledigt ist, hauen wir ab. Alles klar?"
Die anderen nickten hastig und machten sich sogleich ans Werk.
***** ***** *****
Inspektor Noel Bragnans Sinne waren geschärft wie die eines Raubtieres auf Beutejagd. Wie jedes Mal, wenn er auf Streife war.
Doch "auf Streife" hieß bei ihm nicht, dass er wie die sogenannten Bobbys durch die Straßen Londons ging, in den Vierteln nach dem Rechten sah und Touristen Auskünfte erteilte.
Nein, sein Revier war ein anderes: der Hyde-Park.
Noel war Inspektor bei der Park-Police. Inmitten des Londoner Hyde Parks gibt es eine Polizeistation, die nur für den riesigen Park zuständig ist. Und da gibt es immer etwas zu tun: Kinder, die sich verlaufen haben, zu ihren Eltern zurückbringen, Touristen Auskünfte erteilen, Betrunkene in Gewahrsam nehmen oder Diebstähle aufklären. Bragnan und seine Kollegen hatten zwar viel zu tun, richtig große Fälle standen bei ihnen aber nicht gerade auf der Tagesordnung.
Doch in der letzten Zeit verdichteten sich die Hinweise, dass im Hyde Park nachts mit gestohlener Ware, aber auch mit Drogen und Waffen gehandelt wurde. Deshalb war äußerste Achtsamkeit geboten, und die Beamten hatten ihre Streifengänge in der Nacht verdoppelt.
Auch jetzt war es Nacht. Mitternacht. Geisterstunde. Der Mond lugte zwischen den tiefgrauen Wolken hervor und warf seinen silbrigen Schein auf den riesigen Park. Bei Tag war dieser eine Oase mitten in der Metropole, beinahe wie eine Insel der Ruhe. Da kamen die Menschen, um vom Arbeitsalltag abzuschalten, zu picknicken oder auch Sport zu treiben.
Bei Nacht war der Park verlassen, für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Alles war still, nur die Tiere der Nacht gaben ihre Laute von sich, und immer wieder raschelte es in Gebüschen und in den Bäumen.
Von diesen Geräuschen ließ sich Noel Bragnan nicht ablenken. Er kannte sich hier aus, wusste auch, welche Geräusche von Tieren stammten und welche nicht. Als er jetzt ein leises Flüstern vernahm, war er sofort alarmiert. Es war nämlich nicht das Flüstern des Windes gewesen. Nein, es waren eindeutig Menschen im Park, ganz in seiner Nähe. Menschen, die hier nichts zu suchen hatten.
Noel blieb stehen und blickte in die Richtung, aus der das Flüstern gekommen war. Er stand auf einer Anhöhe und blickte jetzt genau auf die große Statue an der Westseite des Parks. Im fahlen Schein des Mondes konnte er die Statue erkennen – und drei dunkle Gestalten!
Der Inspektor kniff die Augen zusammen, um mehr erkennen zu können – doch in diesem Augenblick schob sich eine tiefgraue Wolke vor den Mond und sorgte für absolute Dunkelheit.
Noel unterdrückte einen Fluch, griff zu seinem Funkgerät und gab seinen Kollegen so leise wie möglich seinen Standort durch. Dann pirschte er sich weiter vor, langsam und in geduckter Haltung, sehr darauf bedacht, jedes noch so kleine verräterische Geräusch zu vermeiden.
Endlich zog die Wolke weiter, und der Mond konnte wieder ungehindert seinen Schein auf das weitläufige Areal werfen. Die Gestalten waren jetzt noch etwa zehn Yards von ihm entfernt. Noel sah, dass alle drei ganz in Schwarz gekleidet waren, sodass sie kaum zu erkennen waren, und mehr konnte er auch nicht von ihnen sehen.
Er musste noch näher an sie heran. Seine Vermutung, dass es sich bei den Gestalten um Hehler handelte, wuchs mehr und mehr. Per Funk erfuhr er, dass sich ein Kollege ganz in der Nähe befand, jederzeit bereit, einzugreifen.
Noel gab sein Okay – und sprang mit gezogener Waffe vor.
"Das Spiel ist aus!", rief er, und in dem Moment sprang auch sein Kollege aus seinem Versteck hervor.
Da erkannte der Inspektor, dass er sich getäuscht hatte: Bei den Personen handelte es sich keineswegs um Verbrecher, sondern um ein paar Jugendliche, die sich, mit Farbspraydosen bewaffnet, an der Statue zu schaffen machen wollten und die Beamten jetzt mit ängstlichen Blicken anstarrten.
Gequält seufzte Noel auf. Das war wohl nichts!
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Kimberley Harris atmete tief durch, als sie aus dem riesigen Flughafengebäude in London Heathrow trat.
Londoner Luft! Die junge Frau merkte erst jetzt, wie sehr sie die Großstadt seit ihrem ersten Besuch vermisst hatte. Sie mochte diese Stadt einfach sehr, alles war so ganz anders als in den USA, und die Leute ebenfalls. Obwohl sie selbst Amerikanerin war, mochte sie die Briten einfach.
Als sie jetzt, ihren Trolley hinter sich herziehend und eine Reisetasche tragend auf den Taxistand zuging, dachte sie über ihren Auftrag nach. Sie war froh, die Fotos für das Magazin machen zu können, und das nicht nur, weil das Honorar wirklich gut war. Ihre eigenen Fotos in der Zeitung zu sehen, war für sie einfach immer wieder ein unbeschreibliches Gefühl.
Aber auch sonst wollte sie ihren Aufenthalt in London genießen. Sicher würde sie die Zeit finden, einige Museen und Sehenswürdigkeiten zu besuchen und davon Fotos für ihre private Sammlung zu machen. So etwas musste schließlich auch sein!
Als sie das erste Taxi in der Reihe erreichte, genoss sie einen Moment den Anblick des Wagens. Die "Black Cabs" waren irgendwie eine Augenweide, obwohl sie allesamt schon ziemlich viele Jahre auf dem Buckel hatten. Aber drinnen waren sie urgemütlich, weil sie außerordentlich viel Platz boten.
Sie nannte dem Fahrer durch die geöffnete Seitenscheibe ihr Ziel; dann wuchtete sie ihr Gepäck in den Wagen und stieg ein. Anschließend ging die Fahrt auch schon los. Kim freute sich auf drei wundervolle Wochen in London. Sie konnte ja noch nicht ahnen, was in der nächsten Zeit alles auf sie zukommen sollte.
Dunkle Wolken zogen am Horizont auf, um nie wieder auch nur einen Funken Sonnenlicht durchschimmern zu lassen.
Unheil tat sich auf.
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Als sie ihr Hotel in einer kleinen Seitenstraße in Bloomsbury erreichte, war Kim ganz schön erledigt. Der lange Flug hatte doch seine Spuren bei ihr hinterlassen, und die Taxifahrt war ebenfalls recht anstrengend gewesen, weil die Straßen in der City wie immer brechend voll gewesen waren.
Bei dem Hotel handelte es sich eher um eine größere Pension mit einfach eingerichteten Zimmern. Die Redaktion hätte Kim auch ein teureres Hotel bezahlt, doch die junge Fotografin hatte schon bei ihrem ersten Aufenthalt vor einigen Jahren hier gewohnt, und sie hatte sich sehr wohl gefühlt. Das Hotel war sehr britisch eingerichtet, zudem waren die Angestellten nett und der Service ausgesprochen gut. Deshalb hatte sie nicht gezögert, erneut ein Zimmer in diesem Hotel zu buchen.
Obwohl sie so erschöpft war, gönnte sie sich keine Minute der Erholung. Sie war einfach viel zu aufgedreht, um jetzt schlafen oder auch nur ausruhen zu können. Sie wollte raus in die Stadt,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: S. Krüger
Bildmaterialien: Daxiao Productions/Shutterstock
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2016
ISBN: 978-3-7396-3685-6
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