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Der grosse, graue Hengst stand auf einer Felsklippe und starrte auf das stürmische Meer hinaus. Die Wellen donnerten gegen die schroffen Felsen und der Himmel verdüsterte sich immer mehr.
Die Insel war sein Reich. Es war eine karge Landschaft aus Ginstergesstrüpp und zähem Heidekraut, mit steilen Felsklippen, in denen Seevögel nisteten. Im Nordosten der Insel sprudelte ein kleiner Bach aus einer Süsswasserquelle. Die Insel war praktisch nicht begehbar - bis auf eine Bucht im Süden, an der die Klippen zerfallen waren und die Felsen einen Durchgang ins Innere der Insel freigaben.
Auf den Felsen befand sich ein uraltes Haus, von dem man aufs Meer blicken konnte.
Der Hengst machte auf der Hinterhand kehrt und begann auf das Haus zuzulaufen, bis ihn das Wiehern seiner Stuten abrupt zum Stehen brachte. Er zögerte. Obwohl die Stuten bei ihm an erster Stelle standen, zog ihn dieses alte Haus magisch an. Die Ereignisse der letzten Tage zogen noch einmal an ihm vorüber...
Die Stuten riefen erneut, und da preschte der silbergraue Hengst entschlossen los, zurück zu seiner Herde.
Das alte Haus war in einem erbärmlichen Zustand:die Holzbalken verrottet, das Dach undicht, die Boden fliesen gesprungen. Ein kunstvoller Messingknopf zierte die Vordertür, aber schon seit Ewigkeiten war er von niemandem mehr benutzt worden. In den letzten Jahren hatten sich nur wenige auf die Insel verirrt. Das Haus war alles, was Henry Absalom hinterlassen hatte.

Vor langer Zeit war Henry Absalom ein gut aussehender Mann gewesen, mit markanntem Gesicht und dunklen, aufmerksamen Augen.Aber mit Ende siebzig war sein einst tiefschwarzes Haar schlohweiss geworden und fiel ihm in langen Strähnen über den Rücken, was ihn wie einen exzentrischen Sonderling aussehen ließ. Sein Gesicht wirkte so verwirren wie die Felsen - eine Landschaft aus Furchen und Vertiefungen, in die sich jede leidvolle Erfahrung tief eingegraben hatte.
Als Henry die Insel vor vielen Jahren zum ersten Mal betreten hatte, wollte er sich dort ein Haus bauen. Aber dann hatte er entdeckt, dass er das gar nicht brauchte :Hier gab es bereits ein Haus, selbst wenn es verlassen und vollkommen heruntergekommen war.Von seinen früheren Besitzer wusste er nichts - weder, warum sie sich auf dieser Insel niedergelassen hatten, noch wann und warumm sie diese verlassen hatten. Nach dem Tod seiner Frau hatte er sich nur noch um seine Pferde gekümmert. Soweit er wusste, waren sie schon immer hier gewesen - lange bevor jemand das erste Mal den Fuss auf diese Insel gesetzt hatte.
Ganz früher einmal hatte er ein Gestüt besessen, das weltweites Ansehen erlangt hatte. Seine Pferde hatten viele Preise bekommen und waren berühmt gewesen für ihre Schönheit und Ausdauer. Käufer aus aller Welt waren gekommen und hatten Unsummen für eines seiner Zuchtpferde hingeblättert. Henry Absalom war ein steinreicher Mann geworden. Aber wo das ganze Geld geblieben war, wusste er selbst nicht mehr - und es war ihm auch gleichgültig. In seinem selbst gewählten Exil hatte er menschlichen Kontakt vermieden, so gut er konnte.
In seiner Anfangszeit auf der Insel und bis vor einem Jahr hatte Henry gelegentlich noch einige ausgewählte Hengstfohlen verkauft. Seine Geschäfte hatte er über das Internet abgewickelt. Auf diese Weise konnte er den Kontakt zur Außenwelt auf ein Minimum beschränken. Aber dann hatte er eines Tages beschlossen, künftig alle seine Pferde auf der Insel zu behalten.
Das Stallgebäude stand im rechten Winkel zum Haus und beherbergte acht Stuten, Zwei davon mit Fohlen. Das Pferd in der letzten Box war sein über alles geliebter Hengst. Henry hatte ihn als Fohlen aufgezogen und Zephyr getauft - nach dem griechischen Gott des Westwinds. Das Pferd war ein Vollblutaraber. Es hatte ein silbergraues, seidiges schimmerndes Fell mit rötlichen und schwarzen Strähnen im Schweif und schwarzen Flecken an den Beinen. Es hatte einen edelen Kopf, grosse , samtene Augen, weite Nüstern und ein feines Maul. Immer wenn der alte Mann mit ihm sprach, spielten seine grauen Sichelohren aufmerksam.
Das Pferd hatte niemals einen Reiter oder einen Sattel auf seinem Rücken gespürt un ähnlich wie Hanry hatte er sich gegen jeden gewehrt, der ihm zu nahe kommen wollte- und sei es nur um es zu putzen. Nur Hanry gegenüber verhielt es sich zutraulich wie ein kleines Kätzchen.
Trotz seines hohen Alters und seines schlechten Gesundheitszustandes hatte Henry seine Pflichten niemals vernachlässigt. Dank seiner jahrzehntelangen Erfahrung war er für seine Tiere Ernährer und Arzt in einer Person. Trockenfutter und Frisches Heu ließ er sich per Boot vom Festland liefern und im Schuppen abstellen. Bezahlt wurde das Futter über Henrys Anwalt.
Oft lernte er sich mit rasselndem Atem erschöpft an Zephyrs Boxen tür und griff sich ans Herz. Die Ohren des Hengstes zuckten beunruhigt und für einen kurzen Moment war er von seinem Futtertrog abgelenkt.Aber gleich darauf tauchte sein Kopf wieder in das duftende Heu.
In der Nacht damals, als die wunderschöne Rappstute Amra den kleinen Zephyr zur Welt gebracht hatte, war er auf der Insel ringsum merkwürdig still und friedlich gewesen. Das Licht des Vollmondes hatte sich auf den silbrigen Wellen gespiegelt, als das winzige , graue Fohlen ins Stroh geglitten war. Es war ganz feucht gewesen und hatte sich seine zarten Flanken in regelmässigem Rhythmus gehoben und es hatte ruhig zu atman begonnen. Es war eine problematische Trächtigkeit gewesen und das Fohlen war längst überfällig gewesen - aber das Warten hatte sich gelohnt.

-fortsetzung folgt-
lg svipa.

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Tag der Veröffentlichung: 04.06.2010

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