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Der erste Tag


Na, das war vielleicht ein Theater. Ich habe das ganze ja schon vorher so ein bisschen mitbekommen. Das Gemaule. Von wegen über der Zeit und so. Dabei waren es erst zwei Wochen. Die konnten aber auch einen Wind machen. War doch gemütlich. Man bekam alles was man brauchte, es war kuschelig warm und keiner ging einem auf den Sack. Zugegeben, es war ein bisschen eng in der Bude, aber seien wir doch mal ehrlich, wann bitte schön kam denn Besuch, ha? Abgesehen von, na Sie wissen schon. Die glaubten wohl ich bekomme nicht mit was da gespielt wurde. Aber ich denke, ich sollte mal von vorne anfangen. Mein Name ist Tim. Gewünscht hätte ich mir ja Martin, aber gefragt hat mich keiner. Zumindest vorher. Keiner hat dran gedacht. Aber ich will mich auch nicht beschweren, besser als Fridolin. Geboren wurde ich am 16.November. Ich bin, ohne falsche Bescheidenheit, ein hübsches Kerlchen. Blonde Haare und blaue Augen, obwohl ich fast sicher bin, dass sich das noch ändern wird. Das mit den Augen. Kommt mir vor als wäre ich ein bisschen klein für mein Alter, aber das kann ich mir auch einbilden. Mir geht da noch ein wenig die Perspektive ab, muss ich zugeben. Der letzte Tag war die Hölle. Nicht eine Minute alleine gelassen hat man mich. Ständig Leute um mich herum, die alles Mögliche wissen wollten. Ich kann Ihnen sagen. Wird eigentlich an jedem Geburtstag so ein Wirbel gemacht? Nicht das Sie mich falsch verstehen, ich meine Geburts – Tag. Der 16 November war gestern. Der Tag als ich mein kuscheliges Eigenheim aufgeben musste und der erste Kontakt stattfand.

Zuerst ist alles glattgelaufen. Ein total durchweg normal verlaufender Kaiserschnitt.
Erst war alles warm und gemütlich und dann kam auf einmal Hektik auf. Es wurde gleißend hell, irgendjemand packte mir an den Hintern und hob mich hoch, drehte mich auf die Seite und klapste mir auf den Allerwertesten. Ich glaube es hackt. Wir wurden noch nicht mal vorgestellt.
"Wenn du das noch mal machst, schmier ich dir eine. Glaubst du, weil du größer bist, kannst du dir alles erlauben?“
Eine der Schwestern fiel in Ohnmacht und klatschte förmlich auf den Boden. Gekümmert hat sich keiner um sie. Meine Mutter, meine eigene Mutter! verdankte nur der Umstand, dass sie eh schon lag vor einem schmerzhaften Sturz.
Der Weißkittel riss die Finger von mir weg als wäre ich heißes Eisen.
"Mach den Mund zu, hier zieht´s. Hat denn keiner mal eine Decke oder sowas. Was ist denn das für ein Laden hier. Gibt es hier denn keine Organisation.“

Ich bin sicher, jemand hat die Laute „äh, äh, äh“ auch schon mal sinnvoller über die Lippen gebracht. Wahrscheinlich aus reinem Reflex nahm er ein Betttuch und legte es über mich.
Er schüttelte kurz den Kopf und schaute auf die am Boden liegende Schwestern als wollte er das als Zeichen nehmen, wirklich was gehört zu haben, was seines Erachtens nicht sein konnte. Ich konnte zusehen wie er, immer noch wie unter Schock, den Anästhesisten glubschäugig anschaute, der wiederum stocksteif mich anstarrte. Mit offenen Mund und fast sabbernd wie Irrer. So etwas ließen die hier arbeiten? Man konnte sich nur wundern.

Ist das denn alles wahr. Haben die denn die elementarsten Dinge der Neugeborenpflege vergessen. Musste ich hier alles selber machen? Ich lag da in so einer glitschigen Soße und, wie ich gestehen muss, hatte mich auch etwas erleichtert. Das stank vielleicht. Und Hunger. Gott, hatte ich einen Kohldampf.
"Hallo. Bedienung. Ich habe Hunger. Sieht mich jemand? Was ist denn los mit euch. Kann mal jemand meine Mutter hier aufwecken, ich will an die Milchbar."
Jetzt ging ein ruck durch den Hampelmann von Arzt, er drehte sich in alle Richtungen und sagte, "Ok, ok, einen guten Spaß kann ich immer vertragen, aber schaut mal was ihr mit Schwester Claudia gemacht habt. Schluss mit dem Blödsinn, weckt die Mutter auf und badet das Kind. Dr. Schneider, jetzt kriegen Sie sich wieder ein, das ist ein Scherz, irgendjemand hat ein Lautsprecher hier versteckt und lacht sich jetzt weg und ich ...".
"Jetzt pass mal auf", unterbrach ich ihn und drohte mit dem Finger, "wenn ich nicht sofort etwas zu essen bekomme und mir einer den Glibber hier wegwischt, nicht zu reden von meiner Scheiße, dann mach ich hier ne Welle, so etwas habt ihr noch nie erlebt."
Das Ergebnis: Er rannte aus dem Zimmer wie von der Tarantel gestochen. Wie auf Kommando jagte ihm der Anästhesist hinterher. An der Tür mussten sie sich fast kloppen, wer zuerst durchkam. Da lag ich nun, hungrig, alleine und frierend. Aber schau, schau, meine Frau Mutter schlug die Augen auf, sah mich, die Tränen schossen ihr in die Augen und sie nahm mich auf den Arm. Ich roch sofort den leckeren Geruch der Milch in Ihrer Brust und machte mich, zufrieden schmatzend, über sie her. Eigentlich wollte ich mich noch ein bisschen aufregen, aber durch das Essen bekam ich nur Grmpf, ka, wi raus.
"Bist du süß", säuselte meine Mutter, und fuhr mir durch die verschleimten Haare.
"Mein kleiner Tim. Beinahe hab ich gedacht du hast geredet, muss die Teilnarkose gewesen sein, bin immer noch ein bisschen groggy. Wir beide schlafen dann ein bisschen, gell."

Die Tür flog mit einem Scheppern auf und lauter Weißkittel kamen in den Saal gestürzt. Alle redeten sie Durcheinander und gestikulieren, am lautesten der Arzt der mich rausgeholt hat. Er vertrat immer noch die Meinung, dass sich jemand einen Spaß erlaubt hat. Kann ja nicht sein, ein Neugeborenes Kind sprach. Eigentlich wollte ich ihm ja widersprechen, aber wie schon gesagt, der Hunger. Und eigentlich war ich auch müde, zugegeben, war doch anstrengend bis dahin. Also schlief ich an meiner Mutters Brust ein.

Wie ich wieder aufwache, stehen lauter Leute um mich rum. Es herrschte eine gespenstische Stille. Ich schaute in die Runde, lauter männliche und weibliche Gesichter, blonde und braune Haare, bärtige und geschminkte. Ich schaue weiter und bekam es langsam wirklich mit der Angst zu tun. Was wollten die von mir? Also, ich bin ja nur ein Baby und die kommen mit einer Armee. Trotzdem sah ich, wie die Gesichter plötzlich allgemeine Zufriedenheit annahmen. Die Schultern sackten in sich zusammen, die Anspannung fiel sichtlich ab. Ein dümmliches Grinsen spiegelte sich in einigen Gesichtern. So, so. Ihr freut euch also wenn ich mich ängstige. Sofort wurde ich ärgerlich.
"Gefällt es euch, einem Kleinkind Angst zu machen? Euch werde ich es zeigen. Ich will sofort alle Namen sämtlicher hier Anwesender. Mein Vater wird euch Beine machen. Wo ist der überhaupt?"
Man konnte sehen wie es sie alle riss. Die Schultern ruckten wieder in Position, in den Gesichtern der meisten machte sich Ratlosigkeit breit.
Ein Weißkitteln, den ich bisher noch nicht gesehen hatte, räusperte sich.
"Äh, entschuldige, äh, Tim. Wir wollten dich nicht erschrecken. Kannst du mich verstehen?"
Ich schaute ihm direkt in die Augen. "Sehe ich aus, als hätte ich eine Wolldecke in den Ohren. Natürlich. So wie es aussieht sprechen wir ja sogar dieselbe Sprache, oder etwa nicht."

Die Anspannung wuchs, war förmlich zu spüren. Wieder der Arzt, vielleicht hatten sie als Vorsprecher erkoren. "Weißt du, es ist nur, normalerweise reden Babys nicht wenn sie auf die Welt kommen, eigentlich schreien sie mehr. Das ist ziemlich, äh, ungewöhnlich."
"Was ist ungewöhnlich, das schreien?“, fragte ich. „Nun, ich rede jedenfalls und wenn euch das nicht passt kann ich ja auch nix dafür. Aber jetzt mal unter uns Männern. Das ist neu für euch, okay, und was kommt jetzt?"
Die Antwort konnte ich mir ja fast denken und sie kam prompt.
"Ja, weißt du, wir würden ganz gerne ein paar Tests mit dir machen. Intelligenz, Sprachvermögen und so weiter. Nichts was wehtut, du brauchst keine Angst haben."
Na, da hatten wir doch die Antwort. Mir war klar, dass mein Start ins Leben nicht gerade einfach sein würde, aber da musste ich wohl jetzt durch. Aber einfach würde ich es denen nicht machen.

Nachdem die Weißkitteln wieder rausgeturnt sind, versuchte ich mich erst einmal mit meinen Leidensgenossen um mich herum auszutauschen. "Na Mädels, alles klar mit euch. Wie geht´s euch denn so?" Ich hatte natürlich nicht mit einer Antwort gerechnet und dann, als ich so darüber nachdachte, fiel mir auf, dass es totenstill im Saal war als die Ärzte alle hier waren. Davor haben die Windeltiger alle gequäkt und gebrüllt als gäbe es kein morgen.
Es war fast, als hätten sie zugehört. Aber, das konnte doch nicht sein. Der kleine Scheißer neben mir schaute zur Tür ob jemand kam und dann, – sprach er plötzlich. "Sag mal, bist du nur noch blöd. Jeder weiß doch, man muss die Klappe halten und höchstens ein bisschen sabbeln, sonst bekommen die sich nicht mehr ein. Sprechen darf man erst später, dann freuen sie sich ein Loch in den Bauch, aber bis dahin ist Ruhe im Karton. Jetzt hast du das Theater, Trottel".
Jetzt war ich perplex, völlig von den Socken. "Aber der Heinz gerade hat doch gesagt das noch nie..."
"Ja, eben. Du hast es geschafft. Jedes Baby seit Menschengedenken hält sich daran und weiß, dass es besser ist den Mund zu halten. Herzlichen Glückwunsch, mein Freund. Idiot."

Jetzt liege ich hier und kann es nicht fassen. Gerade habe ich mich für etwas Besonderes gehalten und schon platzt die Seifenblase. Aber ich kann es nicht verstehen. "Aber ist es nicht besser zu sagen was man will, anstatt rumzuschreien wie ein Blöder", frage ich.
Ein anderes Baby lacht laut auf. "Ja klar, was glaubst du, wenn du zum x-ten mal am Tag sagst, du hast Hunger. In die Hose geschissen. Willst spielen. Nach kurzer Zeit würde das den Erwachsenen auf den Keks gehen. Und unserer Bewegungsfreiheit ist ja noch eingeschränkt. Wenn du aber schreist als wenn dir einer ein Stück Kohl.e in den Arsch gesteckt hat, kommen sie angerannt und tun alles damit du aufhörst"
Der neben mir mischte sich wieder ein, "Du bist bestimmt auch so einer der schon mit ein paar Monaten laufen kann, anstatt sich so lange es geht den Arsch nachtragen zu lassen. Die Doofen sterben nie aus." Zustimmendes Gemurmel im ganzen Saal.
Was soll ich denn jetzt tun. Ich bin fertig mit meiner Welt. Jetzt einfach wieder das reden einstellen und einen auf Baby machen? Das nimmt mir doch keiner mehr ab. Ich muss mir was einfallen lassen. Soviel steht fest.
Aber morgen ist ja auch noch ein Tag.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum 9. Scripthalon Wettbewerb

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