Cover

„Aargh“. Machte Wolfgang.
Ihm fiel in der kurzen Zeit wirklich nichts besseres ein.
Dann fiel er um.

Wolfgang war so schockiert, dass er sich noch nicht mal abstützen konnte. Zum Beispiel, um seinen Fall, der übrigens zur Seite hin erfolgte, nach links, abzufedern.
Dem entsprechend hart war der Aufprall. Voll auf die linke Schulter.
„Scheiße. Aua.“ Fluchte Wolfgang laut.

Auf dem Boden liegend wunderte er sich über zweierlei. Erstens, über den Grund seines umfallens.
Gerade eben stand er noch auf der Straße, vor dem kleinen Kiosk und wollte sich die neueste Stern kaufen. Zugegeben, sein eigentliches Ziel und Wunschobjekt war der Focus, aber er traute sich nie, diesen hier, an dem kleinen Kiosk an der Ecke der Seitenstraße zu seiner Wohnung zu kaufen. Er wollte nicht, dass die Leute dachten, er wäre ein Focus Leser.
Warum auch immer.
Er äußerte also seinen Wunsch dem Kioskbesitzer gegenüber, kramte in seiner Hosentasche nach Kleingeld, in der linken Hosentasche, und fiel auf einmal um. Daher das „Aargh“.
Zweitens dachte er natürlich – er war ja nicht dumm - über den Grund seiner Schmerzen nach. Die in der Schulter. Ansonsten hatte nämlich keine. Was wichtig ist, zu erwähnen.
Die Schmerzen in der Schulter kommen von Aufprall auf den harten Boden, dachte er. Was ihn wieder zum Grund des Umfallens brachte.

Der Kiosbesitzer, der Zwischenzeitlich „Ach, du Scheiße“ rief, kam aus dem Kiosk gerannt und half Wolfgang wieder vom Boden hoch.
„Haben Sie sich was getan?“, fragte er freundlicherweise noch. Dachte Wolfgang.
Der Kioskbesitzer allerdings hatte nur Angst, dass er irgendwie haftbar gemacht werden könne.
Er zog Wolfgang also hoch, welcher schwankend stehen blieb.
„Haben Sie vielleicht getrunken?“, fragte der Kioskbesitzer.
Wolfgang ignorierte ihn. Ihm selber war der Umstand des Schwankens durchaus bewusst und da er sich sicher war, in den letzten Jahren keinen Tropfen Alkohol getrunken zu haben und auch keinen Grund sah, warum er an diesem Morgen damit hätte anfangen sollen, kam ihm der Umstand schon merkwürdig vor.
Wolfgang hielt sich am Tresen des Kiosks fest und schaute an seinem Körper herunter.
Sofort erkannte er den Grund all seines Dilemmas.
„Mein Bein ist weg. Das rechte.“

Womit er recht hatte.

Mittlerweile hatte sich ein weiterer Passant dazugesellt, so dass sie nun zu dritt vor dem kleinen Kiosk standen.
„Und das ist Ihnen erst gerade aufgefallen, dass Sie ein Bein verloren haben?“, fragte der Passant erstaunt, aber auch mit einem leicht spöttischen Unterton in der Stimme.
„Nicht verloren.“, sagte Wolfgang. „Zumindest wüsste ich nicht wo. Vorhin hatte ich es noch.“
Der Kioskbesitzer sah sich um.
„Nee, so ein Bein verliert man doch nicht einfach. Vielleicht ist es nur runtergefallen?“ Vorsichtshalber sah er sich um und ging sogar in die Hocke, um eine genauere Sicht auf den Bürgersteig zu haben.
„Was sind Sie beide denn für welche?“, fragte der Passant. „Beine fallen weder einfach ab, noch runter.“ Er schüttelte den Kopf und wandte sich an den Kioskbesitzer.
„Ich hätte gerne eine Focus.“
Wolfgang bewunderte ihn für seinen Mut.

Der Passant verschwand. Wolfgang stand wieder alleine vor dem Kiosk. Verwirrt und irritiert.
„Mein Bein?“, fragte er.
Der Kioskbesitzer zuckte mit den Schultern.
„Ich habe keins gesehen, tut mir leid“, sagte er.
Wolfgang ließ nicht locker.
„Aber ich bin doch mit zweien gekommen?“
„Zwei, was?“ stellte sich der Kioskbesitzer dumm.
„Na, zwei Beinen.“
„Also, ich habe keine gesehen“.
Wie? Nicht gesehen?“, fragte Wolfgang verwundert.
„Nun ja, einfach nicht drauf geachtet“, antwortete der Kioskbesitzer.
„Ach so.“ Sagte Wolfgang. „Ich bin mir aber sicher, zwei gehabt zu haben.“
Der Kioskbesitzer lehnte sich bedrohlich vor.
„Wollen Sie damit behaupten, ich wäre schuld? Ich hätte ihr Bein weggenommen?“
„Nein, nein.“, wehrte Wolfgang ab.
„Was sollte ich auch mit nur einem Bein?“, empörte sich der Kioskbesitzer weiter. „Dann auch noch einem rechten. Wer hat denn sowas schon gehört?“

„Regen Sie sich nicht auf“, sagte Wolfgang. „Keiner gibt Ihnen die Schuld.“
„Das will ich Ihnen auch geraten haben. In meinem Kiosk kommen keine Beine abhanden.“
„Das glaube ich Ihnen“, sagte Wolfgang. „Stellt sich aber immer noch die Frage, wo meins abgeblieben ist“.
„Stimmt.“
Eine kurze Sekunde lang bekam Wolfgang einen Schrecken, ob des Blutverlustes, den er wohl erleiden würde/bis jetzt erlitten hat, bis ihm aber einfiel, dass bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt kein Blut geflossen ist. Das war nun wirklich merkwürdig. Genauso wie der Umstand, dass sein rechtes Hosenbein durchaus vorhanden war. Nur kein Bein drin. Auch fehlte unten der Schuh.
Es war also nicht nur ein Bein abgängig, auch dass Fußwerk.

Wolfgang verlor kurzfristig die Nerven.
„Wo ist mein verdammtes Bein, verfluchter Mist“, fluchte er lautstark.
„Nun mal nicht so rumschreien, hier“, sagte der Kioskbesitzer. „Wollen Sie jetzt etwas kaufen? Ansonsten würde ich Sie bitten …“.
„Was ist hier los?“
Da Wolfgang, auf einem Bein stehend und sich mit zwei Armen auf dem Tresen abstützend, zwangsläufig in das Innere des Kiosk blickte, bekam er gar nicht mit, dass noch jemand die Szenerie betreten hatte. Sich weiterhin mit einer Hand festhaltend, drehte er sich vorsichtig um.
„Warum schreien Sie hier so herum, möchte ich wissen“, sagte Wachtmeister Müller.
„Gar nichts, gar nichts“, sagte der Kioskbesitzer schnell.

„Wohl, wohl“, widersprach Wolfgang. „Mein Bein ist nämlich verschwunden“.
„Welches?“, fragte Wachtmeister Müller und sah Wolfgang abschätzend in die Augen.
„Wie, welches? Na, dass rechte. Das sieht man doch.“
„Eben nicht, eben nicht“, sagte Wachtmeister Müller. „Sie sagten ja selber, es wäre verschwunden.“
Wachtmeister Müller strich sich mit dem rechten Zeigefinger an der Nase entlang.
„Wicki“, sagte Wolfgang irrationaler weise.
Der Wachtmeister stutzte. „Was sagten Sie?“, fragte er.
„Hä?“, machte Wolfgang. „Ach so, entschuldigen Sie. Mir fiel nur gerade ein, dass Wicki das immer so machte. Sie wissen schon. So eine Kinder Zeichentrickfilm. Wicki, der kleine Wikinger.“
„Das kenne ich“, sagte der Kioskbesitzer. „Schaut mein Enkel immer, wenn er bei uns ist“.

„So,so“, sagte Wachtmeister Müller. „Wollen Sie mir nicht lieber erklären, was denn nun mit Ihrem Bein passiert ist?“, fragte er.
„Ich weiß es doch auch nicht“, sagte Wolfgang. „Ich stand genau hier und wollte den Foc … Stern kaufen, dann fiel ich um.“
„Warum?“, fragte Wachtmeister Müller sogleich, der aufmerksam zugehört hatte.
„Na, weil mein Bein weg war ?“ Wolfgang musste sich beherrschen, gegenüber der Amtsperson einen vernünftigen Ton anzuschlagen.
„Ah ja“, sagte der Wachtmeister.
„Also, ich glaube ja nicht, dass es direkt hier vor meinem Kiosk abhanden gekommen ist“, sagte der Kioskbesitzer. „Ich führe einen ehrlichen Kiosk, bei mir ist noch nie etwas weggekommen.“
„So, so“, sagte Wachtmeister Müller. Wieder.
„Wollen Sie eine Anzeige aufgegeben?“, fragte er Wolfgang.
„Eine Anzeige? Gegen wen oder was denn?“
„Ja, dass weiß ich auch nicht. Das müssen schon Sie mir sagen. Wenn Sie es wissen, besuchen Sie mich einfach auf der Wache.“
Wachtmeister Müller tippte sich freundlich – und keck, wie er innerlich hoffte – an die Mütze, drehte sich um und ließ den verdatterten Wolfgang auf einem Bein stehen.

Wolfgang überlegte. Eine Anzeige. Vielleicht gar keine so üble Idee. Schon alleine wegen versicherungstechnischer Fragen konnte das eventuell wichtig sein. Vielleicht tauchte sein Bein irgendwo, irgendwann mal wieder auf. Was sollte er, Wolfgang, denn sagen, wenn er den Besitz einfordern würde, aber auf die Frage: „Wieso haben Sie denn nicht früher schon angezeigt, dass Ihnen ein Bein fehlt?“ , keine Antwort hätte. Wolfgang glaubte nicht, dass ein „Uups, hatte ich glatt vergessen“ ihm irgend jemand glauben würde.

Nun gut. Eine Anzeige. „Beindiebstahl“ kam ja wohl kaum in Frage. Seine gesamte Bekanntschaft würde ihn auslachen, dass er sich ein Bein hat klauen lassen, ohne dass er es bemerkt hatte.
Wie peinlich wäre das denn? Ein einfacher „Verlust“? So wie eine verlorene Brieftasche vielleicht. Das wäre ja nicht so schlimm. Verlieren konnte jeder ja mal etwas. Das würde gehen. Ja. Wo gibt man eigentlich gefundene Beine ab? Im ganz normalen Fundbüro? Und wenn ja, wie bewies man, dass einem das Bein wirklich gehört. Würde er eventuell ein anderes Fundbein nehmen können, wenn der Besitzer sich nicht meldete? Wolfgang würde sich mal schlau machen müssen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /