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Ich sitze auf meiner Couch. Alleine. Der Regen draußen passt zu meiner Stimmungslage. Meine Seele gleicht dem düsteren Himmel auf der anderen Seite des Fensters. Ich denke an Thomas.
Thomas war ein Wanderer. Genauer gesagt ein Kopf-Wanderer. Er war sicher, dass er, wenn er lange genug nachdachte, den Sinn seines Lebens finden würde. Thomas war sicher, es gab diesen Sinn. Aber man musste ihn suchen. Und das tat er. Seit seiner Kindheit las er sehr viel. Unmengen von Büchern, die in Büchereien, Antiquariaten, Flohmärkten oder von Kaufhausgrabbeltischen besorgt, gelesen und verwertet wurden. Dann entsorgt wie eine leere Plastikflasche die, von ihrem Inhalt getrennt, ihren Nutzen getan hatte, keinerlei Wertung mehr erfuhr und ihren leeren, hohlen Körper in der Gosse liegend wieder fand. Seine Literatur umfasste alle Bereiche und Genres und in jedem Buch erwartete er den Schlüssel seines privaten Glücks.
Schnell war ihm sein Umfeld zu klein. Die immer selben Fragen den immer selben Leuten zu stellen war für beide Seiten unbefriedigend. Er musste raus.
Thomas durchpflügte die Welt wie ein Bauer, der, bevor der große Regen kommt, noch sein Feld abernten muss und Angst hat, es nicht zu schaffen.
Nun ist Thomas aus dieser Welt gegangen - und ich las mir die Briefe und Postkarten durch, die er mir durch die Jahre aus aller Welt gesandt hatte. Schnell geschriebene Sätze, als hätte er keine Zeit, mir das von ihm Erlebte genauer mitzuteilen. Früher? sagte er einmal, es läge daran, dass es keinen Sinn mache, mich mit nutzlosen Erfahrungen zu belasten. Triviale Alltagsaktivitäten, eigentlich nur durchgeführt um seinen Körper, wenn schon nicht seinen Geist, am Leben zu erhalten.

London, 20. März
Lieber Stefan, nun bin ich zurück in diesem Auswurf europäischer Lungen und versuche mir notwendigerweise wieder ein wenig Geld zu verdienen. Wie viele großartige Gedanken müssen dieses Land und diese Menschen schon an das Tageslicht befördert haben. Und nun sitze ich hier in einem Cafe und sehe tote Seelen an mir vorbei ziehen. Oh, sie atmen. Zumindest bewegen sich ihre Brustkörbe und seltsame Töne verlassen ihre Münder. Ich habe mich mit ein paar jungen Leuten in den letzten Tagen unterhalten. Ein Großteil ihrer Gedanken dreht sich um das Finanzielle. Aber auch hier geht es nicht um einen Lebensunterhalt - nein, der einzige Sinn ist es, dieses auf welche Weise auch immer erworbene Geld abends in Clubs, Diskotheken oder wo auch immer, wieder auszugeben. Dies ist im Übrigen ein weiterer Großteil ihrer Gedankengänge. Die Menschen können stundenlang zusammensitzen und sich darüber auslassen welcher Club gerade "angesagt", ist, welche Kleidung sie anziehen müssen, um da hinein zu kommen, und wie viel Geld sie dort möglichst schnell für Alkohol oder Drogen ausgeben können.
Gruß Thomas

London, 23. März
Lieber Stefan, wie kann es sein? Tagsüber sind diese Menschen Sklaven ihrer Bedürfnisse und Sorgen, die sie versuchen am Abend zu vergessen, nicht daran denkend, dass ihre Probleme erst daher kommen, dass sie tagsüber unausgeschlafen und mit einem dicken Kopf ihren ungeliebten und schlecht bezahlten Jobs nachgehen müssen, in einer Stadt deren Fassungsvermögen schon seit Jahren erreicht ist und - wäre sie ein alter Joghurtbecher - ihr Verfallsdatum schon vor so langer Zeit überschritten hätte, dass niemand überhaupt noch weiß, ob sie je eines gehabt hätte. Ich glaube, diese Leute hier sind schizophrene Geister, jeder gefangen in seinem 12 -Stunden-Rhythmus und seinen Gegenpart wie den Teufel hassend. Ich verachte diesen alles verschluckenden Moloch und das Getier auf seinem Rücken und doch - finde ich hier wenigstens die Bestätigung, dass dies kein Leben ist.
Gruß Thomas

London, 27. März
Habe meinen alten Job wieder. Die Bezahlung ist wie beim letzten Mal auch. Mies. Aber ein kleines Zimmer - dass ich mir mit drei anderen Bewohnern teile - ist dabei. Sobald ich genug Geld zusammen habe, möchte ich einmal nach Israel. Ich versuche, in einem Kibbuz unterzukommen. Mal sehen was man dort finden kann.
Grüße Thomas

Ein weiterer Brief, den ich viel später nach diesem erhalten habe, ist 30 Seiten lang. Ich habe eine halbe Nacht gebraucht, ihn zu lesen. Noch viel länger, ihn zu verstehen. Ich fragte mich auch ständig, warum er gerade mir all diese Briefe sendete. Ich kannte Thomas seit dem Kindergarten und wir waren auch das, was man Freunde nannte. Aber so weit ich wusste, hat er nie einem anderen unserer gemeinsamen Bekannten geschrieben. Immer nur mir. In einem der wenigen Briefe, die er von mir bekam, habe ich danach gefragt.
Er antwortete:
Ich glaube, jeder Mensch hat - wenn er ihn schon auch nicht gebraucht - nicht nur einen inneren Geist. Sondern auch einen äußeren. Der eigene Geist kann trügen. Er ist parteiisch und denkt nur an sich selbst. Er lügt und betrügt und versucht, mir Dinge vorzugaukeln, die nicht richtig sind. Der äußere Geist, wiederum dein innerer, zeigt mir, wie ich mich verhalte. Er reflektiert mein Tun und daran kann ich ersehen, ob das, was ich mache und wie ich mich verhalte, korrekt ist. Dieser, unser beider Geist, muss (und jetzt drück' ich mich ein wenig unausgegoren aus, es trifft nicht richtig den Punkt, aber ich denke, du weißt was ich meine) kompatibel sein. Es ist wie mit zwei Magneten. Entweder die Geister stoßen sich ab, oder sie ziehen sich an. Anders ausgedrückt, entweder man kann sich leiden - oder eben nicht. Ich habe mir viele Gedanken über dieses Thema gemacht, aber das zu erklären würde den Rahmen hier sprengen. Vielleicht erzähle ich es dir einmal, wenn ich wieder im Lande bin.

In den letzten Tagen wurde mir bewusst, wie oberflächlich ich Thomas oft fand. Nun konnte ich nicht anders, als mich zu schämen. Betraf das, was ich als oberflächlich auffasste, nicht einfach nur die Tatsache, dass er manchmal schlicht nicht antworten konnte? Vielleicht konnte er zu dem Zeitpunkt einfach nicht darauf entgegnen, musste erst darüber nachdenken. Vielleicht war ihm der Gedanke auch einfach nur zu trivial, als dass er großartig darauf eingehen wollte. Vielleicht war ich der oberflächliche Mensch. Thomas konnte ich nicht mehr fragen. Leider.
Er ist tot. Starb nach einem normalen Autounfall, irgendwo im Mittleren Westen der USA. Sein Mutter rief mich an, wollte mir, als seinem besten Freund, sofort Bescheid geben. Sie sagte, niemand habe Schuld, ein ganz normaler Unfall, sollte es normale Unfälle geben. Nur Thomas habe es schwer erwischt.
Er schrieb mir einmal, dass die USA eigentlich eine seiner letzten Stationen sein würden. Die Amerikaner, die er in anderen Teilen der Welt traf, kamen ihm zu unvollständig vor, zu naiv. Seines Erachtens lebten die meisten von ihnen nur vor sich hin. Auf die Welt gekommen, um zu sterben. In sarkastischen Momenten nannte er sie auch "Lückenfüller". Nur dazu da, dass man nicht so weit laufen müsse, um einer menschlichen Seele zu begegnen. Aber das betraf eigentlich alle Leute, die für Thomas leere Hüllen waren. Und das war - de facto - jeder, der keinen Sinn im Leben fand.
Thomas starb nicht sofort. Ich weiß das, weil ich einen letzten Brief von ihm bekam. Einer fremden Person diktiert, einem deutschen Arzt in dem Krankenhaus, in dem er lag. Dieser Arzt schrieb vorweg, dass es Thomas zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr sehr gut ging. Er wusste, er würde an den Folgen des Unfalles sterben, hatte Schmerzen. Wenn Sie wissen wollen, welcher Art von Mensch Thomas war, dann kann ich Ihnen sagen, das in diesem Brief von diesen Dingen nicht die Rede war.

Wisconsin, 4. August
Lieber Stefan, ist es nicht komisch? Nie schrieb ich dir einen Brief, der nicht meine Handschrift trug. Nie einen Brief, der von Maschine geschrieben war oder, Gott bewahre, eine Email. Nun wird der letzte Brief, den du von mir bekommst, eine fremde Handschrift tragen. Herr Dr. Herzog ist so nett, ihn für mich aufzunehmen. Mit Rechts kann ich ja, wie du wohl mittlerweile weißt, eh schlecht noch schreiben. Die Ärzte weigern sich den Arm aus der Mülltonne zu fischen. Ich glaube fest daran, dass ein mit der Maschine geschriebener Brief jeglicher Seele entbehrt. Mit dem Aufkommen von Schreibmaschinen - oder schlimmer, Computern - hat sich das letzte bisschen Menschlichkeit von diesem Planeten entfernt und an den äußeren Rand der Galaxie zurückgezogen. Und viel peinlicher - auch das Denken. Nehme ich einen Stift in die Hand und fange an einen Brief zu schreiben, muss ich nachdenken. Was möchte ich schreiben? Wie schreibe ich es? Ist das, was ich sagen möchte, wirklich von solch einer Wichtigkeit, das ich mir die Mühe mache und die Zeit in Anspruche nehme, um es niederzuschreiben? Ausradieren möchte man nichts, das sieht blöd aus. Neu anfangen auch nicht. Eine Maschine stilisiert, schafft Künstlichkeit - nicht Kunst - in meinen Gedanken. Was ich mit einem Knopfdruck wieder auslöschen kann, ist es nicht wert, niedergeschrieben zu werden. Ich glaube, nur etwas, über das man wirklich nachgedacht hat, wird auch wahrgenommen. Stefan, ich bin lange Zeit gereist. Du kennst meine Suche. War sie überflüssig? Kannst du es beantworten? Ich kann nun nicht mehr glauben, dass du glücklicher - oder unglücklicher - bist mit deinem Leben, als ich mit meinem. Sind deine Ziele, in diesem Teils des Seins (oder auch der Sinn dessen) andere, als meine es waren. Ich glaube, ich habe es geschafft, wenigstens eine Erkenntnis mitzunehmen. Ich urteile nicht mehr. Sei jeder Mensch mit dem zufrieden, was er hat. Ist der Normalverbraucher zufrieden damit zu arbeiten, nach Hause zu kommen und seinem schlafenden Kind über den Kopf zu streicheln - so mag es sein. Wer bin ich, dass ich mit diesem Lebensziel hadern sollte. Jahrelang habe ich es mir zu Aufgabe gemacht, andere Menschen davon zu überzeugen, sie müssten Ihren Weg im Leben suchen. Ohne zu sehen, dass sie ihn schon gefunden haben. Ich ärgere mich nicht über die verlorene Zeit, nein, mehr über meine Ignoranz, es nicht eher erkannt zu haben. Ich habe mein Problem zu den Problemen anderer gemacht. Dafür schäme ich mich. Ich habe nicht gesucht, ich habe missioniert. Nun, die Mission ist vorbei, wenn es denn eine war. Ich hadere nicht, Stefan, und ich sage dir auch, warum. Genau dies war der Sinn meines Lebens. Mein Ziel war es, diese Erkenntnis zu erlangen. Ich musste fragen, reisen und suchen. Ich bin dankbar für alles was ich gesehen habe, für alle Gespräche, die man mir zu führen gewährte, für alle Menschen die ich kennen lernen durfte. Viele Leute, denen ich meine Gedanken nahe zu bringen versuchte, haben manchmal merkwürdigerweise später etwas zu mir gesagt, das ich nie erwidert habe (weil ich es nicht verstand), das ich selber nie gesagt hätte: Bleib, wie du bist. Ist das zu fassen, Stefan? So einfach ist das Leben. Aus diesem Grunde sage ich es jetzt erstmalig zu dir, mein Freund, und verabschiede mich gleichzeitig. Bleib, wie du bist!
Dein Thomas

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Tag der Veröffentlichung: 28.05.2009

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