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Der erste neue Morgen in seinem Leben

Morgens erwachten sie aus ihrem wilden nächtlichen Reigen. Eine Stille erfüllte sie beide, das man glauben konnte, sie wären selig und beseelt. Draußen begann ein neuer Tag. Die Vögel zwitscherten leise und der Straßenlärm schien gedämpft zu sein. Julias Zimmer war ein kleiner Tempel, dessen Herzstück ihr samtbezogenes Wasserbett darstellte. Die Fenster wurden umhüllt von wunderschönen halbtransparenten schwanenweißen Gardinen, durch die das Sonnenlicht milchig strömte und den Raum in sanftem Licht erhellte. Die Wände geschmückt mit zwei großen Tüchern, die mit ihren Mandala-Motiven den Raum verzauberten. Einzelne große Grünpflanzen standen auf dem blauen Velur-Teppich.

Jens lag einfach da. Sein Blick war ruhig, sein Atem ging leise und bedacht. In seinen Augen lag ein seltener Glanz, der von ganz weit her kommen schon und dennoch vollkommen präsent war. Als würde er ganz weit in die Höhe schauen ohne sich von der Sehnsucht fesseln zu lassen. Sein Gesicht wirkte weich, fast fließend. Und diese wundervolle Stille in ihm. Er fühlte sich fast aufgelöst und musste aufpassen, seine Tränen nicht zu vergießen. Dafür weinte sie eine Träne, die langsam und zärtlich ihre Wange herunterlief. Stille. Kein Wort durchbrach sie. Draußen zwitscherten die Vögel. Die Sonne strömte milchiges, warmes Licht.

„Lebe ich?“ fragte er sich. Die Frage ergab keinen Sinn.

Sein Verstand glaubte es immer noch nicht was sein Herz schon lange wusste. Sein Verstand versuchte ihm immer die tausend Gründe einzuflüstern, dagegen zu sein und fand sich tausend Wege für seine Begründungen seiner eigenen Lügen. Doch die Stille gab dem Verstand keine Macht. Sie löste ihn in sich auf, das er ein Gefühl hatte, von innen her am leuchten zu sein.

Julia lag neben ihm. Ihr Körper war sehr warm, von ihm ging eine große Hitze aus, die sich wie Strahlung verbreitete. Ihre Augen waren geschlossen und lagen ganz ruhig in den Höhlen. Ihm war noch niemals bewusst geworden, wie schön Frauen sein können, wie schön eine Frau sein kann, wenn sie schläft. Ungeschminkt, ungekämmt noch im Geruch der Nacht. Weich in ihrer Bettdecke eingewickelt eine kostbare Blume. Wie eine Zerbrechlichkeit, die bei jeder Berührung zerbrechen kann. Er wollte sie streicheln. Er machte es nicht.

Ihm fiel kein Wort mehr ein. Schönheit und Freiheit und Liebe und Wahrheit sprachen sein Herz. Was auch immer letzte Nacht passiert ist, etwas ist gestorben und etwas anderes ist geboren worden. So war alles Stille. Die Stille danach. Wenn sich alles auflöst, wenn sich alles neu geboren ist. Die Stille nach dem Sterben und dem Sturm.


Etwas was schon lange sich gesehnt hat zu sterben und etwas, was schon lange gewartet hat, geboren zu werden. Irgendwann stand er auf, er musste pinkeln. Auf dem Klo war ebenfalls diese Stille. Selbst als er pinkelte kam es wie Stille aus ihm heraus.

„Seltsam, wie in einem verzauberten Traum“, dachte er sich, „oder bin ich aus einem verfluchten Traum aufgewacht?“

Was war das gestern Nacht? Fäden aus zweifelnder Erinnerung wischte er weg. Was ist letzte Nacht passiert? Er fühlte sich stark, Kraft durchfloss ihn. Was war das für ein nackter Ausbruch von Lust gewesen, einer entsetzlichen Lust.

„Träume Ich?“

Der Geschmack war nicht bitter. Nicht von Kummer zerfressen. Nicht von Sorgen ausgebohrt. Nicht von Zweifeln zerbrochen. Der Geschmack war leere und hatte einen süßen Charakter. Die Musik floss leise durch den Raum

„Om namah shivaya, om namah shivaya.“

Eine Ode an den Gott der Zerstörung und Erneuerung. Sein Lieblingsgott unter allen möglichen Göttern damals. Möge Shiva unsere Verblendung und Illusionen zerstören, die uns befangen in den Schatten und Schleiern und Spiegeln unseres Egos.

In diesen Klängen kam es ihm vor, als bröckelte alter Staub von dem ab. Staub des vergangenen. Gibt es nur die Gegenwart? Ist jede Erinnerung nur ein Traum aus Illusionen, in denen man selbst das Opfer spielt.

Er ging ganz gedacht die Wohnung als würde er aufpassen, durch Unbedachtheit etwas zu zerbrechen. Er kannte sich gar nicht so. Ein seltsamer Gedanke kam in ihm hoch.

„Bin ich vielleicht glücklich?“

Der Gedanke machte ihn traurig. Er konnte gar nicht mehr an seine Vergangenheit, sie kam ihm wie ein seltsamer Alptraum vor, der in dieser Stille keinen Raum mehr fand. So taperte er zurück ins Zimmer, öffnete ganz ruhig die Tür, ging zielstrebig zum dem CD-Player und drückte Play.

Indische Mantren erfüllten den Raum. Er hatte so etwas so lang nicht mehr gehört, es kam ihm vor wie aus einer ganz weiten Welt, die er vergessen hatte und Sanftheit streichelte sein Haar. Im Grunde wusste er auch nicht weiter. An seiner sozialen Situation hatte sich nichts geändert. Erstmal hier bleiben, hier ist es so schön, mit trüben Gedanken wollte er diese Momente nicht zerstören. Außerdem fühlte er sich gleichwohl total wach und klar, lebendig, sein ganzer Körper war warm und lebendig. Auch das wollte ihm sein Kopf verderben, der wieder sagte, dass er spätestens morgen wieder draußen zu pennen habe.

Sie lagen einfach dort. Neben ihrem Bett stand eine Statue von Shiva, ebenso wie auf dem kleinen Schränkchen ein Bild von Shiva und seiner Gemahlin Shakti standen, beide in Nacht gehüllt und mit dem Mond in den Haaren geschmückt als ein Liebespärchen in absoluter Einheit.

„Ich liebe diese wundervolle Shakti“, sinnte er

Er legte seine Hand auf ihren Bauch. Die Bauchdecke hebte und senkte sich. Sie lächelte mit geschlossenen Augen. Er lächelte mit offenen Augen. Und zwischen ihnen lag ein warmes Bett der Stille, die alles umhüllte. Schüchtern näherte sich sein Kopf ihr. Je näher er kam, desto wärmer schien sie zu werden. Sie bemerkte ihn, grinste leicht spitzbübisch dabei. Seine und ihre Lippen lagen auf Augenhöhe und hielten inne. Kein Wort verließ seine Lippen. Für einen halben Moment Ewigkeit. Dann küsste er sie. Er küsste sie ganz zart und sanft als wäre es ein seltener Lotus, der unter soviel Druck zerbrechen würde.

Nicht getrieben von dem Verlangen der letzten Nacht sondern von der Kraft des Fließens. Einfach fließen und es geschehen lassen ohne Reflexionen im Geist. Sie lächelte, er lächelte, beide lächelten sanft ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Er war über sich selbst verwundert, dass er zu solchen Gefühlen fähig sei. Einen Reim konnte er sich nicht daraus machen.

„Ein warmes und großes Meer in einem und um ihn selbst herum“, dachte er.

Ihre Küsse wurden ein Kuss und ihre Lippen bildeten keinen Übergang zueinander ohne zu saugen, ohne zu pressen. Wie ein Gesang, in dessen Wind sanfte Engel sangen. Seine Hand lag immer noch auf ihrem Bauch während ihre beiden Gesichten nebeneinander im miteinander lagen. Sie legte ihre Hand auf seine Hand und öffnete ihren warmen Mund. Ganz langsam glitt seine Zunge in sie hinein, legte sich auf ihre Zunge um beide ihr stilles Spiel vollführen zu lassen.

Keine entfesselte Leidenschaft, kein nacktes Verlangen, kein Ausbruch des inneren und keine dämonische Entfesselung von Sehnsüchten und Wünschen drangen in sie. Nur diese unendliche Stille im Schweigen, die voller Zärtlichkeit war und voller Geduld, Hingabe, Vertrauen und Liebe.

In beiden regte sich die Liebe in Form der Lust, ganz langsam stieg sie in ihnen auf wie eine Schlange, die ihren Rücken hochkriechen würde. Immer und wieder küssten sie sich, er nahm ihren Kopf in seinen Händen und dirigierte den Kurs der Sinne ohne ihren eigenen Willen zu nehmen. Beide vollführten gemeinsam einen Tanz auf dem samtigen Rosenbett aus warmen und weich wiegenden Wellen aus Wasser

„Tanzen wir?“ fragte er sich. Sie tanzten.

Selbst die Zeit hatte ihren Rhythmus vergessen. Wer mag sagen, wie lange die beiden tief in ihren küssen versanken ohne sich zu verlieren. Ihm war so warm wie selten, eine angenehme Wärme, die ihn erfüllte so als sie ihn nähren würde.
Nach einer Weile machten sie Liebe. Ganz langsam und sicher voller Hingabe und Vertrauen. Ohne den Wunsch nach einem Orgasmus oder nach Erregung. Eintauchen in ein großes Meer wie in den großen Uterus der Mutter, das große Meer in allen, wo alles miteinander eins ist.

„Ist das Liebe?“ fragte er sich. Die Frage löste sich auf. Sie liebten.

Er küsste ihre warme Brust, nahm sie an seinen Mund, umspielte die Warzen, die heute weit und rund waren, ganz weich und entspannt. Und streichelte sie, legte seine Hand auf ihren Nabel. Und drang in sie ein. Ganz langsam doch nicht minder erregt glitt er wie von selbst in sie hinein, in ihren Muttermund, sein Glied wurde umhüllt.

Und immer wieder passierte alles wie von selbst als gäbe es keine Anstrengung, keinen Wunsch, kein Verlangen. Und immer legte er seinen Kopf an ihren Busen. Immer wieder legte sie ihren Kopf an seine Brust. Dazwischen nichts nur Augenblicke in einem einzigen Fluss ohne Unterbrechung. Und Atem, ein Atem, der einfach floss.

Das ging eine Weile so. Sie sprachen kein Wort. Irgendwann nachdem er gekommen war, leise und ruhig in sie stand er auf und zog sich an.

Irgendwann war es ihm ein wenig peinlich. Vielleicht weil er sich berührt fühlte und in der Gastrolle war. Er beschloss einfach zu gehen und Julia alleine dort liegen zu lassen. Die Tür leise geschlossen ging er in Küche und schrieb ihr noch einen Zettel, wo er sich bedankte für alles.

„Vielen Dank, liebe Julia, für diese unglaubliche Nacht und diesen bezaubernden Morgen“

Jens wusste nicht ob er träumen würde oder hellwach war. Das Gefühl von Glück bereitete ihm ein wenig Schwierigkeiten. Er hatte echt vergessen, dass es so ein Gefühl überhaupt geben kann. Zulange war er schon völlig fertig gewesen, von einem Alptraum zum nächsten gesprungen und doch niemals aus dem Alptraum herausgekommen.

Auf dem Weg in die City zündete er sich eine Zigarette an. Er kam sich ein wenig seltsam dabei vor. Die ersten Züge schmeckten giftig, doch dann griff die Macht der Gewohntheit wieder und holte ihn wieder ein wenig zurück auf diese Erde. Die Stadt bot den Anblick der Gewohntheit. Häuserschluchten, Straßenfluren, dazwischen die Menschen, die Gesichter. Zeichen und Symbole, Plakate und Ampeln. Und ein blauer, warmer und weiter Herbsthimmel. Die Zigarette schmeckte nach Gift, er rauchte weiter.

„Na ja, dann hab ich die Gute halt gepoppt, mein Gott, was ist die abgegangen“, quittierte er die letzte Nacht wie eine Bilanz ohne nennenswerte Fortführung. Vielleicht wollte er mit dieser Trivialität den Zauber ein wenig nehmen.

Die Selige Stille ihrer Wohnung fand ein Ende in der Welt der tausend Ablenkungen und Bewegungen. Er machte ihr ein Ende. Holte sich ins Leben zurück, in die Üblichkeit. Doch etwas blieb in ihm selbst

Vermutlich wusste er gar nicht, ob er sie und ob sie ihn liebte. Solche Gedanken schob er zur Seite. „Bloß nicht selbst verrückt machen“, sagte sein Stolz.

Dennoch fühlte er sich leicht, sein Gang war federn als würde er auf Wolken tanzen und überhaupt ging er wie in Trance und war total wach dabei. So als er LSD genommen hätte, doch anders, sauberer und klarer. Auch meinte er zu Vernehmen, das er sich irgendwie so fühlte, als ob er ein wenig leuchten würde.

Doch bevor er in zuviel esoterischem sich verloren hatte, holte ihn sein Verstand und Bodenständigkeit wieder auf den Boden. Im kam es so vor, als würde er in einem riesigen Meer schwimmen, das ihn umhüllte. Alles umhüllte ihn wie das Fruchtwasser einen Embryo umhüllt. Eins mit der Mutter, eins mit dem Leben, eins mit allem sein. So fühlte er sich ohne in großen Gedanken abzudriften. Immer wieder überkamen ihn sanfte Wellen grundloser Heiterkeit, das der leise kichern musste. „Mein Gott, was hat die mit dir gemacht, Jens?“, fragte er sich selbst, „Ich hab die doch einfach nur gevögelt“ Er musste über sich lachen.

Irgendwann kam er in der Wohnung von Franki an. Sie gegrüßten ihn. Franki, Steve und Andi grinsten in bis über beide Ohren an ganz so ganz gebe es einen stillschweigenden Codes des Verstehens, wenn jemand eine Frau vögelt, die sie gut kennen. So als es eine besondere Tat, die vollsten Respekt bedeutet. Ihm war überhaupt nicht nach saufen wie sonst. Sie setzten sich in die große Wohnküche.
Im Hintergrund liefen entspannende Ambientsounds mit weiblichen Gesang.

„Ich sag’s dir, Andi, schau mal den Jens an, wie der strahlt, der hat die gute gevögelt.“ Jens sagte kein Wort. Andi schenkte ihm eine Zigarette dabei und fragte einfach: „War Julia gut im Bett?“

Andi kannte Julia schon ein paar Jahre und wusste, dass sie ein durchaus sexuelles Wesen hatte, was keinen Hehl aus ihren Bedürfnissen machte. Andi hatte ja seine Freundin, von daher war es ihm egal.

Als Jens keinen Ton sondern nur mit leuchtenden Augen in die Leere blickte hob Franki seine Stimme:

„Der Typ ist verknallt, schau mal an, so ruhig kenn ich dich doch gar nicht. Ich weiß, was dir fehlt. Du brauchst einen kräftigen Schluck Rotwein, der belebt dich wieder“

„Nein, Franki, ich brauch im Augenblick nix, rein gar, noch nicht einmal Wein“

„Hey Andi, Jens ist verknallt, wenn das so weiter geht, hockt der noch auf seiner Alten und lässt sich monatelang nicht mehr sehen“, fuhr Franki frech und provokant hoch.

„Hey, Alter, lass mich in Ruhe bitte. Ich hab echt ein Gefühl, ich brauch absolute Ruhe im Augenblick. Ich glaub ich gehe gleich mal ne Runde spazieren und dann ins Schwimmbad und in die Sauna. Fühl mich ein wenig so, als würde ich durch Wasser gleiten im Augenblick.“

„Den Schweiß der letzten Nacht abspülen“, lachte Andi, ebenfalls in leicht frecher Pose, denn beide waren Schwaben und es lag scheinbar in ihrer Art, immer wieder mit gutmütigen, doch frechen Kommentaren zu provozieren.

„Andi, ich brauch mal einen Kaffee, ich mach mir mal einen“ sagte Jens und bediente sich an der Bodum-Apparatur

„Komm Jens, was hältst du von der Idee, Julia heute Abend einzuladen. Komm schon, dass die dich mag, ist ja wohl echt nicht übersehen. Steve kocht war feines zu Essen und dann wirst du verheiratet. Wie damals, die eine, weißt du noch?“ lud Franki in begeistertem Tonfall ein.

Jens wusste gar nicht, was er sagen sollte. Nachdem dieser heftigen Nacht wusste er echt nicht, wie Julia darauf reagieren würde. Er hielt es für möglich, die sie ihn nie wieder sehen will. Seiner Erfahrung kann es sein, das es einer Frau peinlich im Nachhinein ist, das sie sich so geöffnet und sich gezeigt hat. Einige mal schon passiert und dann sucht die sich einen Schuldigen, weil sie mit sich selbst ein Problem hat, sich fallenzulassen und sich zu öffnen.

„Ne, lass mal, Franki, bin fertig, hab heute echt keine Lust auf große Aktion, will noch nicht mal einen trinken“, entkräftigte Jens und machte sich an der Kaffeeapparatur zu schaffen.

Er trank den Kaffee mit viel Milch und noch mehr Zucker. Zückte seine Kippenschachtel und steckte sich in Seelenruhe eine an. Rauchen wie eine Meditation dachte er dabei. Wieder befing ihn eine warme Stille.

Sie redeten nicht viel. Jens ging kurz auf das Klo. Er hatte das Gefühl, schon wieder pinkeln zu müssen, als würde er etwas aus sich heraus strömen lassen. In dem schönen, exotisch eingerichteten Badezimmer, las er ein paar Minuten Allan Watts „Die Schönheit des Seins“.

Zwei Handtücher vom Stapel, Duschzeugs in den Rucksack gesteckt verließ er die Wohnung.

„Ciau“, rief er noch zurück. „Weiß nicht, wann ich wieder da bin.“

Impressum

Texte: Svenson
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
ich widme dieses Buch "Shakti", der großen Stille und der Zartheit des Seins.

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