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Baku, Aserbaidschanische Sozialistische Sowjetrepublik
16. September 1984



Baku.
Hauptstadt der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik.
Vierzig Grad im Schatten. Ich fragte mich jeden Tag auf's neue, warum ich eigentlich hier war. Warum gerade ich?
Ich absolvierte hier eine Hochgebirgsausbildung. Denn der Kaukasus berührte fast die Stadtgrenzen von Baku. Das sollte mich für meinen nächsten Auftrag fit machen. Nicht dass dieser in der Sowjetunion sein sollte, nein, er führte mich geradewegs nach Afghanistan.
Irgendein hoher Offizier der Sowjetarmee verkaufte Waffen an die Mujaheddin. An die Freiheitskämpfer. Warum er das machte, wussten wir alle. Er kaufte sich Garantien. Für sich und seine Soldaten. Ich persönlich konnte ihm da keine Vorwürfe machen. Verstehen konnte ich es. Was ich allerdings nicht tolerierte, war die Tatsache, dass genau diese Waffen, sowjetische Soldaten tötete. Gut, mögen einige jetzt sagen, dass ist Krieg. Ein Krieg, den die Afghanen nicht wollten, den ihr gebracht habt.
Mag stimmen. Aber glauben dann diese Leute, dass die Rekruten und Offiziere den Krieg wollten? Dass sie da freiwillig sind?
Klare Antwort - nein.

Seit dem vierundzwanzigsten Dezember neunzehnhundertneunundsiebzig befand sich die Sowjetarmee in Afghanistan. Zugegeben, wir hätten da schon ein etwas anderes Weihnachtsgeschenk mitbringen können. Zu welchem Zweck und zu welchem Grund wir dort angagiert waren wird mir auf ewig ein Rätsel bleiben.
Die Demokratische Volkspartei Afghanistans hatte neunzehnhundertachtundsiebzig die Macht übernommen und versuchte nun, den Sozilismus anzupreisen. Ohne viel Erfolg natürlich und als dann die Suppe am überkochen war, musste der große Bruder helfen...
Wie konnte man versuchen einem Bergvolk den Sozialismus nahe zu bringen. Das einzige Buch, das dort gelesen wird ist der Koran.
Religion!
Wie wollte man also den einfachen Bergmullah davon überzeugen, dass nur der Sozialismus ins Paradies führt, wenn das schon im Ostblock scheitert? Abgesehen davon sind die Menschen dort weitaus gebildeter. Vielleicht war das ja der Grund, dass das nicht so klappte.

Strategisch sah das schon ganz anders aus.
Afghanistan granzt an den Iran. Da gab es Öl, wie Sand am Meer. Iran grenzt an den Irak. Dort war die Lage der Resourcen ähnlich.
Öl!
Gut, das hatten wir in Sibiren auch, aber man muss ja nicht warten bis die Leitung trocken ist. Es wäre vielleicht besser gewesen, durch ganz Afghanistan zu marschieren und dann beim Ajatollah an die Tür zu klopfen. Ganz unverfänglich "Guten Tag" sagen. Ihn immer daran erinnern, wer da plötzlich an der Tür stand. Oder die einfache Variante wählen und direkt aus der Sowjetunion kommen. Denn die grenzte ja auch an den Iran. Verstehen konnte ich es nicht.

Meine Aufgabe in diesem großen Spiel war es, den unbekannten Offizier zu finden. Ihn nach Moskau zu überführen und in die Lubljanka zu bringen. Keinesfalls, das war oberstes Gebot, sollte ich ihn töten. Nur wenn es notwendig war.
Deshalb befand ich mich in Baku. Oberstleutnant Khulov wollte, dass ich gut vorbereitet in die Schlacht zog. Ich ging natürlich nicht allein, nein Juri Owetschkin kam mit. Ich erinnerte mich noch genau an die Zusammenkunft in Moskau:


Moskau, UdSSR
25. Juli 1984
Ljubjanka
Lubjanskaja Ploschtschad Nr. 2




"Sascha. Ich freue mich, dass Du hier bist." Oberstleutnant Khulov versprühte einen seltsamen Humor.
"Ich freue mich natürlich auch Genosse Oberstleutnant. Warum diese Eile? Prag ist noch nicht einmal vier Wochen her." Es galt ein ungeschriebenes Gesetz. Zwischen zwei Einsätzen wollte ich genug Ruheapusen haben. Vier Wochen waren da definitiv nicht lang genug.
Anstatt einer Antwort vom Oberstleutnant hörte ich ein Klopfen an der Tür.
Es trat ein - Juri Pawlowitsch Owetschkin.
Oh. Das bedeute nichts Gutes!
Das sah Kashtan wohl ähnlich, denn in seinem Gesicht zeigte sich ein Hauch von Überraschung. Man musste Juri aber sehr gut kennen, um das zu sehen.
"Priwjet Orion. Kak djela?"
"Charascho. Priwjet Kashtan. I tebja?"
Statt einer Antwort hörte ich ein Knurren. Hätte mich auch überrascht, wenn da was vernünftiges gekommen wäre...
"Wenn ihr dann fertig seid, darf ich dann?"
Selbstverständlich Genosse Oberstleutnant.
"Kirenkov!"
Oh, der war ja auch noch da. Aus Leutnant im KGB Alexej Kirenkow war ein Hauptmann im KGB geworden. Glückwunsch zur Beförderung.
Wie immer erschien er mit einem dicken DIN-A-4 Umschlag.
Wie immer wurde es im Büro dunkel und plötzlich erschien eine riesige Karte von Afghanistan. Juri und ich wechselten vielsagenden Blicke.
"Wir haben Probleme."
"Das wissen wir. Wir sind in der Lage, die Berichte zu lesen, die da kommen. Verluste, Vermisste, Kranke. Gut, dass das der Rest des sowjetischen Volkes nicht konnte."
"Das eigentliche Problem kommt von unserer Seite. Von einem sehr hohen Offizier im Raum Kandahar. Sehr im Süden des Landes." Bei diesen Worten schlug er mit dem Zeigestock auf einen Punkt, der den Namen Kandahar trug.
Beim Einmarsch der Armee wurde Kandahar als "Treffpunkt" einer zangenförmigen Bewegung gesehen. Der linke Flügel marscherte von Kushka über Herat und Farad nach Kandahar, der rechte lief von Termez über Mazar-I-Sharif, Kunduz, Kabul, Muqur nach Kandahar. Ein Teil führte von Kunduz nach Falsabad und von Kabul nach Jalalabad. Dieser "Ring" sollte das einzige Territorium bleiben, das die Sowjetarmee kontrollieren konnte. Die großen Städte und wichtige Straßen allein waren ziemlich wertlos, wenn der Nachschub und der Transport aus dem Land heraus nicht sicher waren.
Und nun sollten Juri und ich in diesen Wahnsinn?
"Was macht er da? Jungen Afghaninnen auflauern?"
"Juri Pawlowitsch, das ist keine gute Zeit für dumme Scherze. Nein, er verkauft sowjetische Waffen an die Mujaheddin."
Das saß. Wir verstanden, dass es keinen Grund für dumme Scherze gab.
"Ihr zwei sollt ihn finden."
"Eine Frage sei gestattet, Genosse Oberstleutnant. Warum Juri und ich? Sind da die Kameraden vom GRU nicht besser geeignet. Schließlich ist das Militär."
GRU war die Abkürzung für Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije. Vollständig allerdings: Glawnoje Raswedywatelnjoe Uprawlenije Generalnogo Staba Wojsk. Hauptverwaltung Aufklärung im Generalstab der Streitkräfte.
Das, was wir in legerer Alltagskleidung machten, machten die Kameraden dort in Uniform.
Aus unserer Sicht waren sie bestens für diesen Job geschaffen.

"Das mag stimmen, aber die Genossen Tschebrikow und Iwaschutin hatten wohl ein Wort unter Kollegen." Pjotr Iwanowitsch Iwaschutin war im GRU das, was Wiktor Michailowitsch Tschebrikow im KGB war. Der Boss! Klasse. Die ganze Sache entwickelte sich sehr zu unserem Nachteil.
"Ihr werdet morgen nach Baku fliegen. Dort erhaltet ihr eine Hochgebirgsausbildung. Diese dauert acht Wochen. Danach fliegt ihr nach Taschkent, der Hauptstadt der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Dort ist das Hauptquartier des Turkestanischen Militärbezirks. Dort meldet ihr euch bei Major Schawelnikow, der erzählt euch dann alles weitere. Das ist dann alles. Danke. Der Flug geht morgen um sieben Uhr morgens."
Damit waren wir entlassen.
"Und nun?"
"Gute Frage Juri. Ich habe keine Ahnung. Das war das erste Mal, dass uns der alte Mann im Dunkeln gelassen hat! Ich habe kein gutes Gefühl dabei."
"Ja, das ist nicht Budapest, oder Prag. In Afghanistan fallen wir auf. Es hilft nicht mal, wenn wir uns einen Bart wachsen lassen. Hast Du schon mal einen blonden Afghanen gesehen? Mit leuchtend blauen Augen? Ich nicht."
Wir beschlossen zwei Flaschen Stolitschnaja zu kaufen und gingen danach in unsere Wohnung in der ulitza Pokryshkina. Dort packten wir alles zusammen, fanden zwei Teegläser und tranken den Wodka.
Einen nach dem anderen. Bis beide Flaschen leer waren. Bis wir beide nicht mehr stehen konnten. Ich kroch auf allen vieren ins Bett, Juri brach auf der Couch zusammen....


Baku, Aserbaidschanische Sozialistische Sowjetrepublik
17. September 1984.




Baku.
Acht Wochen Hochgebirgsausbildung lagen hinter uns. Die Kaserne haben wir nur zwei Mal gesehen. Bei der Ankunft und seit gestern. Den Rest der Zeit verbrachten wir im Gebirge. Die ersten zwei Tage ganz langsam zum eingewöhnen, dann ging der Tanz richtig los.
Bergauf und Bergab.
Hoch und runter.
Mit Ausrüstung, ohne Ausrüstung.
Am Tag. Nachts.
Der Kaukasus bot uns dafür ein uneingeschränktes Repertoire.
Wir lernten das Wetter zu lesen. Am Himmel genau abschätzen zu können, wann es regnet, wann es schneit. Ob uns das in Afghanistan allerdings helfen würde, bezweifelten wir. Der Kaukasus ist nicht nur ein Gebirge, sondern er beherbergt auch alles, was man zum leben braucht.
Wir lernten dort zu leben und zu überleben.

Wir saßen am Flughafen von Baku auf gepackten Koffern und warteten auf die Antonow An-26, die uns nach Taschkent fliegen sollte.
Aus einem uns unbekanntem Grund verzögerte sich der Abflug mehr und mehr.
"Vielleicht haben die uns auch vergessen und wir können zurück nach Moskau fliegen!"
"Hör auf zu träumen Juri. Wenn uns alle vergessen, denkt wenigstens Oberstleutnant Khulov fürsorglich an uns und sorgt dafür, dass wir tief in der Scheiße stecken!"
Ich sollte an dieser Stelle vielleicht noch erwähnen, dass Juri und ich im miltärischem Bereich des Flughafens saßen.
Denn plötzlich kamen wie aus dem nichts zwei Militärpolizisten auf uns zu.
"Wenn wir jetzt Ärger machen, sperren die uns ein und wir sind aus dem Schneider."
"Juri, wenn die uns einsperren, weiß das Khulov in fünf Minuten und in sechs Minuten sitzen wir wieder hier."
"Guten Tag Genossen, wir sorgen dafür, dass sie ihr Flugzeug nicht verpassen."
"Wann fliegen wir denn? Noch in diesem Jahr?"
"Ja. Die Maschine steht abflugbereit und wartet nur auf Sie. Also los geht's!"
Er unterstrich seine Worte mit einer Handbewegung. Wir sammelten unseren Kram und gingen in der brütenden Hitze zum Flugzeug.


Baku / Taschkent
17. September 1984.




Unsere Flugzeit von Baku nach Taschkent betrug etwa fünf Stunden.
Leider ist der Service nicht vergleichbar mit der zivilen Luftfahrt. Es war keine Stewardess an Bord. Es wurden keine Getränke und kein Essen gereicht. Mit uns flog die Besatzung und ein mürrischer Feldwebel. Er war der Lademeister an Bord.
Also entschieden wir uns für Schlaf. Wer konnte wissen, wann wir das nächste Mal ausgiebig schlafen konnten...

Bei unserer Ankunft in Taschkent waren es gefühlte fünfzig Grad Celsius mehr als in Baku. Ein UAZ-469 holte uns vom Flughafen ab und wir fuhren geradewegs zum Hauptquartier des Turkestanischen Militärbezirks.
"Das Büro von Major Schawelnikow ist in Gebäude A, im sechsten Stock und jetzt raus mit euch!"
Wir brauchten danach fast zwanzig Minuten, um in das besagte Gebäude zu gelangen. Dann standen wir vor seinem Büro.
Ein Leutnant befahl uns mit herrischer Geste zu warten. Das taten wir auch - fünfundvierzig geschlagene Minuten! Dann hatte der Major Zeit für uns.

"Setzen Sie sich. Oberstleutnant Khulov hat gerade mit mir geredet. Ich habe alle nötigen Informationen für Sie zusammenstellen lassen."
Dann hob er die Stimme und donnerte: "Malinowski!"
Der Leutnant von vorhin war auf einmal gar nicht mehr so groß....
Er übergab uns einen Ordner und verließ fluchtartig das Büro.
"All die Informationen können Sie nachher im Bett lesen. Sie haben noch zwei Tage hier zu verbringen, dann fliegen Sie nach Termez. Dort werden Sie am Flughafen abgeholt und zu der Einheit gebracht, die mit ihnen nach Afghanistan gehen wird. Das ist dann alles. Raus!"
Das war schon das zweite Mal, dass man uns so rüde loswerden wollte. Zeit, den Genossen mal zu zeigen, wer hier Herr im kommunistischen Haus ist.
Das übernahm Juri.
"Genosse Major, eine Sache. Sollte es nochmals vorkommen, dass wir hier nur Worte wie: Raus, das wäre alles hören, dann sorgen wir dafür, dass Sie und ihre Einheit mit uns nach Afghanistan kommen, alles klar? Sie wissen, wer wir sind und von wo wir kommen und glauben Sie uns, wir machen das unmögliche möglich!"

Mit diesen Worten verließen wir Major Schawelnikow.

Unsere Unterkunft hatte auch schon bessere Tage gesehen. Aber wir waren ja nur zwei Tage hier und in dem Land hinter dem Berg war alles noch viel grausamer. Zeit zu lesen hatten wir morgen, also gingen wir in die Stadt und kauften zwei Flaschen Wodka, etwas Tee und ließen uns den Abend gefallen.


Taschkent, Usbekische Sozialistische Sowjetrepublik
18. & 19. September 1984




Juri und ich wurden zur Kleiderkammer gerufen. Wir sollten hier die komplette Ausrüstung empfangen. Also jedes Uniformteil, dass der gewöhnliche Rekrut erhält.
Viel zu viel unnützes Zeug!
Der Oberleutnant hinter seinem Tisch wollte schon zur Tat schreiten. Doch wir konnten ihn überzeugen, uns erst anzuhören!
"Da wo wir herkommen und da, wo wir hingehen, herrschen andere Gesetze. Wir sagen, was wir brauchen und damit hat es sich."
Er wollte sich gerade aufregen, aber ein Blick auf unsere Ausweise ließ ihn verstummen und mit einer einladenden Handbewegung überließ er uns die Kleiderkammer.
So, mal überlegen.
Was brauchen wir?
Etwas, um den Krempel zu transportieren.
Rucksack.


Etwas für die Fahrt.
Sommeruniform.


Etwas für kalte Nächte.
Wolldecke.


Schuhe?
Womöglich noch diese Schaftstiefel und keine Socken dazu, sondern Fußlappen.


Wir behielten unsere Adidasschuhe.
Noch etwas?
Essen können wir mit den Händen und trinken aus der Flasche. Den Rest gaben uns dann die Afghanen, oder die toten Kameraden.
Wählerisch zu sein, war ein Luxus, den wir nicht hatten.
Der erste Afghane, den ich sah, würde mir all seine Kleider geben. Ich würde den Zusammenstoß überleben - er nicht.
Juri dachte ähnlich.

Nächster Punkt auf der Liste war die Waffenkammer.
Wir mussten erst Informationen sammeln.
Fernglas.


Verteidigen mussten wir uns auch.
Pistole Makarov PM.


Vielleicht mussten wir das auch über eine weite Entfernung, vielleicht auch nicht. Deshalb nahmen wir den Klassiker aus dem Hause Kalaschnikow auch mit.
AK-47.


Den Rest gab es vor Ort.
Dann waren wir fertig, kritzelten unleserlich etwas unter ein Stück Papier und gingen.

Wir erledigten den Rest ziemlich schnell und konnten uns dem wichtigsten Teil zuwenden. Informationsgewinnung.
Juri und ich saßen auf dem Dach unserer Unterkunft und studierten die neuesten Entwicklungen.
Der GRU hatte es geschafft, ein dünnes Dossier über unsere Zielperson anzulegen. Ich öffnete den Ordner und ein verschwommenes Foto war das erste, was ich sah. Darunter stand seine Kurzvita.

Name: Orlow, Wladimir Wladimirowitsch
Geboren: 25.05.1930 in Leningrad
Absolvent verschiedener Akademien und Militärschulen
Jetziger Dienstgrad: Oberstleutnant
Er hatte das Kommando über einen Fallschirmjägerverband und regierte innerhalb der Region mit harter Hand.
Vielleicht war das der Grund, warum er sich durch die Waffenverkäufe Freiheiten erkaufen musste. Denn er verkaufte alles, was man mit Munition füllen konnte. Pistolen, Gewehre, Mörser... alles. Dem sollten Orion und Kashtan nun ein Ende machen.

"Was denkst Du über ihn?"
"Kurzvita ist Kurzvita. Mir gefällt die Sache mit dem Fallschirmjägerverband nicht. Die sind etwas anders drauf, als gewöhnliche Infanterie. Da kommt einiges auf uns zu. Ich denke, er ist macht das alles nicht allein. Um das Zeug zu verhökern, braucht man Logistik. Ich glaube nicht, dass die Afghanen mit Esel und Klapperwagen ankommen!"
"Das wird was anderes als Prag, oder Bogotá. Scheiße."
"Ich will den Wilden nicht in die Hände fallen, Juri. Sollte das passieren, erschieß mich vorher."
"Mach ich und Du machst das, falls mir das passieren sollte. Die machen mit mir kein Hemd-ausziehen!"
Es gab in unserer Welt wirklich schreckliche Dinge. Aber die afghanische Methode des Hemd ausziehens stand unangefochten auf Nummer eins!
Es war eine Art der Folter.
Man schlitzte die Haut in Bauchhöhe auf. Einmal ringsherum um den Körper. Zog diese dann nach oben und knotete alles über dem Kopf zusammen. Das hieß also, dass das Opfer mit nacktem Fleisch in der prallen Sonne stand, oder bis zur Gürtellinie im Sand saß.
Sie können mir glauben, es gab bessere und einfache Arten zu sterben.

"Keine Sorge. Ich lass Dich da nicht verrecken!"
Dann gingen wir zurück.
Die restliche Zeit des Tages machten wir uns mit unseren Waffen und der Ausrüstung vertraut. Zerlegen und Zusammensetzen der Pistolen und der Kalaschnikow. Wir schossen mit den Waffen, bis der Waffenmeister genug hatte.
Wir schossen mit dem SWD (Snaiperskaja wintowka Dragunowa), Scharfschützen-Gewehr Dragunow. Man konnte ja nie wissen, welche Fähigkeiten man in der Hölle brauchte. Da konnte es auch nicht schaden, etwas mehr zu wissen.
Am Abend gab es für uns noch ein extra Dossier über die Art des Krieges der Sowjetunion in Afghanistan.
Das reichte uns dann auch. Die Zahl der Verwundeten, Vermissten und Toten stieg täglich. Viele von den Wehrpflichtigen, waren nicht einmal ausreichend ausgebildet, um zu überleben.

Wir schliefen in dieser Nacht nicht in unseren Betten, sondern unter freiem Himmel.


Termez, Usbekische Sozialistische Sowjetrepublik
19. September 1984
09:55 Uhr




Termez.
Willkommen im Krieg.
Die ganze Stadt roch nach Krieg. Überall Soldaten, Panzer, Waffen. Kaum Zivilbevölkerung. Die Stadt an der Grenze zu Afghanistan war ein wichtiger Transitpunkt der Sowjetarmee. Etwa einhunderttausend Soldaten waren hier stationiert. Sie kamen aus der Hölle und gingen in die Hölle. Manche von ihnen schon zum zweiten, oder dritten Mal!
Die, die es heil über die Brücke der Freundschaft

geschafft hatten, hatten es geschafft. Die, die auf die andere Seite mussten, wollten nur die Zeit vorwärts drehen. Ankömmlinge wurden von denen getrennt, die ins Feuer mussten.
Horrorgeschichten sollten nicht an die Öffentlichkeit. Wer aber die gezeichneten Gesichter der Soldaten sah, brauchte keine Geschichten. Die Wahrheit stand in den Augen.
Welchen Platz hatten also Juri und ich in diesem Wahnsinn?
Würden wir es überhaupt

über die Brücke schaffen?
Wir hatten immerhin die Fähigkeit, hier unbemerkt zu verschwinden. Wir hatten Bankkonten im Westen, Häuser und Kontakte, die uns nie im Leben verraten würden. Aber wir konnten nicht. Sozialistische Pflichterfüllung stand ganz oben auf der Tagesordnung.
Aber es das erste und einzige Mal, dass ich vor einem Einsatz so etwas wie Angst spürte.
In einer fremden Stadt hatte man immer Helfer, es war einfacher unterzutauchen, andere zu beobachten, ohne aufzufallen. Aber in einem vom Krieg gebeuteltem Land zu operieren, allein und ohne Hilfe ist etwas anderes. Wir waren keine ausgebildeten Supersoldaten wie die Kameraden vom Speznaz. Wir waren dazu da, zu beobachten, Informationen zu gewinnen, zu infiltrieren und zu töten. Aber auf zivile Art und Weise.
All das ging mir durch den Kopf, als ich mit Juri in Termez ankam.

Wieder wartete ein UAZ-469 auf uns.
Der Fahrer, ein Oberleutnant, war wortkarg. Er sagte die ganze Zeit nichts. Dann standen wir vor einem kleinem sandfarbenen Haus. Unser Ziel. Die Temperaturen erreichten auch im September noch spielend die vom Sommer.
Die Tür des Hauses ging auf und ein Major begrüßte uns.
"Sie sind also Borganow und Schaburow. Die zwei, die mit uns gehen." Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
"Ich bin Major Beresin. Ich habe das Kommando über die Einheit. Wir sind gerade in den letzten Vorbereitungen. Morgen früh vier Uhr geht es rüber. Die Kolonne werde ich anführen. Dann folgen etliche Schützenpanzerwagen und LKW. Besonders auf die Tankwagen werden wir aufpassen müssen. Deshalb wird zwischen jedem LKW ein SPz fahren. Sie fahren in der Mitte des Konvois!"
Super!
Die Mitte ist am anfälligsten!
Greift man einen Konvoi auf offener Straße an, macht man das am besten wie folgt.
Man versteckt eine Sprengladung in der Straße, lässt die ersten vier bis sechs Fahrzeuge über die Falle fahre, bevor man sie zündet. Der Rest der Kolonne steht dann offen und anfällig, vor allem ziemlich wehrlos dem Angreifer gegenüber. Klar haben die Besatzungen Waffen und Munition. Aber die ist irgendwann auch aufgebraucht. Ich kenne dauerschießende Waffen nur aus Filmen. Steht dann noch ein Tankwagen in der Kolonne, geht die Party richtig los. Der Wagen ist mit ungefähr eintausend Litern Sprit beladen. Ein kurzer Treffer im Tank, dann gibt es zusätzlich noch schönes Licht!
Die Aussichten waren nicht besonders gut für Juri und mich.

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Tag der Veröffentlichung: 17.12.2009

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