Heute war der Tag.
Mein Tag.
Der schönste meines Lebens, hätte ich fast gesagt. Denn heute ging es zurück!
Alles war gepackt, alles war fertig. Ich freute mich, dass es hier vorbei war und ich endlich wieder im Kreis der Wahnsinnigen war. Das von mir bestellte Taxi kam pünktlich und nach einer eher frostigen Verabschiedung von Astrid war ich auf dem Weg zum Bahnhof. Alles klappte, alles war in Ordnung und die Deutsche Bahn spielte auch mit. Der Zug kam pünktlich und verließ Füssen auf die Minute genau! So sollte das immer sein.
Gemächlich - gemütlich ging es nach München und nach kurzem Aufenthalt weiter Richtung Heimat.
Immer wenn ich zu Hause ankomme, habe ich das Gefühl, dass alle Taxifahrer wissen, dass ich im Zug sitze. Ich erwische nie eines in der gewünschten Zeit. Habe ich dann doch das Glück und ein Taxi steht da, dann braucht der Fahrer garantiert ein GPS-System, um den Weg zu finden.
So blieben mir nur zwei Alternativen.
1.) Wir fahren mit dem Bus heim, warten aber noch weitere fünfzig Minuten.
2.) Wir fahren mit dem Taxi, vertrauen auf das GPS, warten aber nur fünf Minuten.
Logischerweise entschied ich mich nicht für Variante eins, sondern rief bei der Taxizentrale an. Es entwickelte sich folgendes Gespräch:
"Taxi Rumpprecht. Guten Tag."
"Guten Tag. Ich hätte gern ein Taxi zum Hauptbahnhof."
"Wann?"
"Jetzt!"
Gut dachte ich, halten wir das Gespräch kurz, knapp und verständlich.
"Wohin?"
Mir wäre an dieser Stelle ja beinahe "nach Hause" herausgerutscht. Mir lief hier langsam die Zeit davon und ich wollte zu Hause sein, bevor die Sonne den Horizont küsst, daher beschleunigte ich das Gespräch etwas.
"Es geht vom Hauptbahnhof in die Heinrich-Heine-Straße 30. Es ist für eine Person auf den Namen Sven, ich stehe ann der, von der Straße aus gesehenen, linken Telefonzelle, trage schwarze Cargo-Pants, schwarze Addidas-Sneaker, eine bordeauxrote Oakley's Jacke und eine schwarze Mütze, Typ Military Cap. Reichen diese Informationen? Wann ist das Taxi hier?"
"Äh..., ja. Das Taxi sollte in etwa fünf Minuten eintreffen."
Na also.
Geht doch!
Kurzer Griff in die Hosentasche, schließlich wollen fünf Minuten irgendwie überbrückt werden, Zigarette raus, Feuerzeug an....
"Hallo. Was machst Du denn hier?"
"Hallo Melanie. Ich stehe hier einfach am Bahnhof, weil es zu Hause zu langweilig war."
"Du bist also wieder zurück..."
"Ja, enttäuscht?"
"Ich dachte ehrlich, dass Du da bleibst, schon wegen..."
Sie musste den Namen nicht erwähnen, wir wussten beide, wer gemeint war.
"Ich habe hier meine Wohnung, meine Freunde, meine Arbeit, meine Clubs und Bars und mein Chaos. Warum dort bleiben, wenn es sich nicht lohnt?"
"Hm..."
"Ich weiß, dass Anka und Du es ihr gewünscht hätten, aber das ist nun einmal das Leben und nicht das Weihnachtsfest. Compris?"
Das tat sie. Schon allein die Tatsache, dass ich den Namen Britta nicht erwähnte, sollte ihr zeigen, dass hier jeglicher Gesprächsbedarf erschöpft war.
"Nun entschuldige mich bitte, mein Taxi ist da."
"Hallo. Taxi für Sven?"
"Jepp, das ist dann für mich."
"Und die Dame?"
"Läuft."
"Gut... Dann..."
"Heinrich-Heine-Straße 30, bitte."
"Aha. Ins Verrücktenviertel."
Oh ja, die Straße hatte ihren Ruf weg.
"Wohnen Sie da?"
"Nein, ich bin da nur zu Besuch."
"Dann passen Sie bloß auf. Die alte Schabracke unten links ist die Mutter vom Teufel. Dagegen waren Stalin und Berija Weisenknaben."
Oh, oh. Ob es wohl Frau Plattmann bekannt war, welch Bild sie in der Öffentlichkeit abgab? Ob der Taxifahrer wohl wusste, welche Strafe ihn erwartete, sollte Frau Plattmann jemals herausfinden, wie hier über sie gesprochen wurde?
So ließ er sich während der Fahrt liebevoll über die Bewohner aus.
Gut kam dabei keiner weg.
Außer "die fesche Blonde aus dem fünten Stock"
Na sicher!
Dann träum mal weiter, mein Lieber.
Glaub mir, die fesche Blonde fährt auch in der Wüste mit Dir Schlitten. Im Sand. Ohne Schnee.
Ich nahm mir vor ihn als unseren Fahrer zu engagieren, wenn wir alle auf Tour gingen und Julia, die fesche Blonde, sitzt dann neben Dir!
"Naja", sagte ich stattdessen. "Ist ja nur für ein paar Tage."
"Die reichen, um ihre Welt zu zerstören."
Ja, das weiß ich nur zu gut. Diese Straße ist wie ein sinkendes Schiff. Einmal im Sog, geht man gnadenlos unter. Aber etwas anderes machte mich auf dieser Fahrt stutzig.
Der Taxifahrer war neu, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben. Irgendwas musste hier wieder passiert sein, dass jetz schon am anderen Ende der Stadt von der Heinrich-Heine-Straße gesprochen wird.
Getreu dem Motto, dass Dinge zu dem kommen, der warten kann, wartete ich einfach. Warum dem Chaos entgegengehen, wenn mich das Chaos spielend fand?
Das erste Anzeichen von Leben erschien in Frau Plattmanns Wohnzimmerfenster. Die Gardine bewegte sich, als das Taxi zum stehen kam. Man konnte machen was man wollte, ihr blieb nichts verborgen....
"Wusste ich es doch. Der Drachen steht schon am Fenster. Sie können nicht einmal unbemerkt an ihr vorbei." Mit diesen Worten öffnete der Taxifahrer den Kofferraum, stieg aus und stellte mein Gepäck auf den Gehsteig. Stieg ein, fuhr los... und ich wartete, dass er zurück kam. Schließlich hatte ich ja noch nicht bezahlt. Er tat mir diesen Gefallen aber nicht und ich ging frohen Schrittes Richtung Haustür.
Diese wurde so schwungvoll in meine Richtung gestoßen, dass ich fast Richtung Bahnhof zurück fiel. Da stand die Mutter aller Hausverwalterinnen in der Tür und blickte streng auf mich herab.
Sie wollte schon zu einer ihrer berühmten Tiraden ansetzten, als irgendetwas in ihrem Hirn KLICK machte und sie den Übeltäter vor ihr erkannte.
"Hallo Frau Plattmann. Ich weiß, ich war lange weg, aber doch nicht so lange, dass Sie sich nicht mehr an mich erinnern?!"
Ihre Antwort bestand nur aus murmeln. Irgendwo hörte ich ein "...leider nicht lange genug..." heraus.
Toll.
Ich war gerührt.
Es war schwer in Worte zu fassen, mit welcher Herzlichkeit ich begrüßt wurde.
Kopfschütteln beeilte ich mich die Tür zu erreichen, bevor sie ins Schloss fiel.
Im Treppenhaus hing ein Schreiben von der Hausverwaltung am schwarzen Brett:
"Werte Hausbewohner.
Bitte beachten Sie, dass vom 26. - 31. d.M. auf Grund von Wartungsarbeiten kein heißes Wasser zur Verfügung steht.
Die Hausverwaltung."
Na prima. Als ich das letzte Mal kalt geduscht hatte, trug ich noch Uniform. Einen Wasserkocher gab es in meinem Haushalt nicht. Da musste ich wohl streng riechend durch die Gegend laufen. Ich dankte meinen Mitbewohnern recht herzlich für weitergeleitete Informationen.
Danke Dirk.
Danke Guido.
Offenbar war das keine wichtige Information für euch, für mich allerdings schon.
Ich stieg die Treppen zu meiner Wohnung hoch, schloss auf und war zu Hause.
Tasche ausgepackt, Wäsche gleichmäßig in die Waschmaschine, Gang zur Küche und erstmal ein Bier aus dem Kühlschrank.
Dann saß ich im Wohnzimmer und malte vor Langeweile kleine Männchen in den Staub. Es kann sich innnerhalb von acht Wochen beträchtlich viel davon ansammeln.
Irgendwo zwischen dem nächsten Bier und noch mehr Langeweile meldete sich mein Magen.
'Hey, ich bin leer.'
Ja und?
Was soll ich jetzt mit Dir machen? Nach acht Wochen außer Haus sind halt keine Lebensmittel im Kühlschrank. Also mussten ich meinen Magen wohl in ein Restaurant schaffen.
Unser Weg führte uns direkt zu dem Restaurant mit den zwei goldenen Bögen der Fast Food Erleuchtung.
Dort angekommen stellte ich allerdings fest, dass es wohl besser gewesen wäre, den Lieferservice zu beauftragen. Denn vor mir standen fünf von diesen Kaputtnix, die dachten es wäre eine super Idee etwas Helium zu inhalieren, um der Angestellten die Laune erheblich zu verderben.
Also zurück ins Auto, eine Runde um den Block und im "Drive-in" angestellt. Als ich so schön mit Burgern und Cola nach Hause fuhr, schoss mir nur ein Gedanke durch den Kopf: Das hatte was von Essen auf Rädern!
Dann meldete sich auch mein Telefon zu Wort.
Dirk.
"Nimm Dir für morgen nichts vor, wir haben eine Überraschung für Dich."
"Lass mich raten, wir gehen allle ins Blaue Piano?"
"Hat Guido etwa geplaudert?"
"Nein, aber falls Du Dich dunkel erinnern kannst, gehen wir da fast jedes Mal hin wenn einer lange weg war."
Das sah er ein und legte auf.
Ich kann an dieser Stelle alle beruhigen, ich telefonierte über die Freisprechanlage.
Zehn Minuten später war ich dann zu Hause und wollte in meine Wohnung, als sich mir Frau Blum in den Weg stellte.
Auch das noch.
Erst musterte sie mich mit deutlichem Missfallen, dann fiel ihr Blick auf die Tüte mit dem großen 'M'.
"Wissen Sie eigentlich, wie ungesund das ist?!"
"Ja ich weiß, deswegen heißt es ja auch "fast food", also beinahe Essen."
"Das sind alles nur Dickmacher. Das würde ich im Leben nie essen."
'Ich aber schon Frau Blum. Könnten Sie sich bitte etwas beeilen, denn die Burger werden langsam in der Tüte kalt und dann muss ich zu Julia, um den Burgern mit Hilfe der Mikrowelle neues Leben einzuhauchen.'
"Ich danke Ihnen wirklich für die tolle Aufklärungsstunde, Frau Blum, aber nun muss ich, denn das ungesunde Essen will verzehrt werden."
Das letzte was ich von ihr sah, war ein pikierter Gesichtsausdruck. In meiner Wohnung nahm ich dann die Burger in Augenschein und kam zu der Ansicht, dass ich der lieben Julia einen Besuch abstatten musste. Hoffentlich war sie zu Hause.
Nachdem ich vier Mal die Türklingel betätigt hatte, öffnete sie endlich.
"Hallo Julia. Wie geht's? Ich weiß, dass mag jetzt ziemlich komisch klingen, aber ich würde gern Deine Mikrowelle benutzen."
"Das ist im Moment etwas ungünstig."
"Ah, Du hast Besuch?"
Ein vages Nicken beantwortete diese Frage.
"Okay, nichts für ungut. Bis denn irgendwann."
Ich drehte mich um und ging zurück in meine Wohnung.
Da saß ich dann bei kalten Burgern und (inzwischen) ziemlich warmer Cola und sinnierte über das Leben.
Kein fließendes warmes Wasser.
Kein heißes Abendessen.
Das Bier ging rapide zur Neige.
Die Burger liefen vor Kälte schon blau an.
Perfekt.
Bevor ich mir vor lauter Depressionen die Pulsadern aufschnitt, nahm ich mein letztes Bier, setzte mich auf meinen Balkon, trank es aus und ging schlafen.
Am nächsten Morgen entschied ich mich nach dem Frühstück etwas für mein privates Fernseherlebnis zu tun. Ich fuhr in die Stadt und wurde stolzer Abonent von Premiere. Wenn Fussball, dann richtig. Im Supermarkt kaufte ich etwas Bier und Kartoffelsalad aus dem Plastikbecher. Das Mittagessen war gerettet.
Dann hatte ich noch drei Stunden Zeit, um die Zauberbox an den Fernseher anzuschließen und aus selbiger sowohl Bild als auch Ton zu entlocken.
'Wow' dachte ich dann, 'das hat was.'
Bayern München spielte gegen Borussia Dortmund und ich war 'live' dabei.
Nachdem mich Fritz von Thurn und Taxis begrüßte, wechselte ich schnell auf Stadionatmosphäre. Dummes Gelaber kann ich mir auch selber machen. Immer wenn ich die Sportschau im Öffentlich-Rechtlichen ansah, war ich dem Herrgott dankbar, dass er "N'Abend, allerseits" in Rente geschickt hatte. Bei Premiere war er wohl noch nicht so weit. Warum gab es keine Spiele mehr mit dem Duo Reif / Jauch. Deren Kommentierung war doch was. Unvergessen das Spiel Real Madrid gegen Borussia Dortmund. Was hatten wir nun aber hier und heute? Den Fritz und der kommentierte das Spiel "seines" FC Bayern. Der war so gut, der konnte sogar einen Fehlpass als taktisch kluges Manöver verkaufen. Wenn die Kamera dann auf die Bayernbank schwenkte, sahen Felix Magath und Uli Hoeneß das taktisch kluge Manöver allerdings etwas anders.
Ebenso Herr Gärtner. Der sah Fußball auch für sein Leben gern und an ihm ist ein Meistertrainer verloren gegangen. Das zeigte sich besonders vor Spielbeginn, wenn die Aufstellungen bekanntgegeben wurden. Ihm zum Beispiel war es unverständlich, warum ausgerechnet "der Schweinsteiger" spielte und Ze Roberto auf der Bank saß. Ihn freute es, dass der "gute Felix" die Fähigkeiten vom "Olli" erkannte und ihn ins Tor stellte. Nicht so wie der "Bundesjürgen, die schwäbische Grinsefresse." Er führte mit Fritz von Thurn und Taxis einen unaufhörlichen Dauerdisput über die Art und Weise einer Kommentation. Schade, dass es nur ein Dauermonolog war. Ich wollte dieses Mal Gnade vor Recht walten lassen und nicht an seine Tür klopfen, deshalb nahm ich meine Kopfhörer und ließ das Stadion in meine Ohren brüllen. Somit war ich komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Das Spiel hatte es in sich. Beide Mannschaften legten los wie die Feuerwehr und nach nur sechs Minuten stand es schon 1:1. Eben der von Herrn Gärtner so verschmähte Bastian Schweinsteiger erhöhte kurz nach der Pause auf 2:1 und der Capitano der Nationalmannschaft setzte noch einen drauf, 3:1. Nun wachte Dortmund auf und innerhalb von sechsundzwanzig Minuten stand es 3:3. Dabei blieb es. Tolles Spiel, tolle Atmosphäre, toller Fußball. Danach feierte der FC Bayern eine weitere Meisterschaft.
Gleichzeitig mit meinem Wiedereintritt in die reale Welt klingelte es an der Tür. Dirk und Guido standen davor.
"Ihr seid doch wohl nicht schon abmarschbereit?"
"Nein, nein. Wir wollten bloß mal schnell auf ein Bier vorbei, oder in Guidos Fall, auf einen Apfelsaft."
"Kommt rein und dann erzählt mal, was ich hier alles verpasst habe in den letzten Wochen."
Wir saßen im Wohnzimmer und die beiden erzählten.
Es gab viel Neues.
Susi und Dirk wollten schon bald in den Hafen der Ehe einlaufen und bei Hannah und Guido kündigte sich Nachwuchs an.
Rebecca befand sich mal wieder auf einem dieser Selbstfindungskurse - mit Cedric.
Herr Täuber lag stationär. Kreislaufprobleme. Diese traten auf, nachdem er etwas zu sehr mit Frau Plattmann gestritten hatte.
Frau Blum sah deshalb hin und wieder in seiner Wohnung nach dem Rechten.
Julia hatte einen neuen Freund. Der war laut Aussage von Dirk nicht der Hellste. Entweder war er aber gut im Bett, oder hatte Geld, oder beides.
Als ich dann von meinen Erlebnissen in Füssen erzählte waren beide auf einmal sehr still, dann ungläubig und als ich die Sache mit Yvette erwähnte, waren sich beide einig, dass ich nicht ganz dicht bin!
Sie sahen mich an, als ob ich eine ansteckende Krankheit hätte.
Ich zuckte nur mit den Schultern, sah auf meine Uhr, es war fast acht, Zeit zu gehen.
Das Blaue Piano war nicht etwa ein verruchter Schuppen. Im gepflegten Ambiente konnte man durchaus etwas aus seiner Zeit machen. Da konnte man im vorderen Bereich sitzen und gemütlich Kaffee trinken.
Am Schild stand nämlich:
BLAUES PIANO
KAFFEE, CLUB UND NACHTBAR.
ÖFFNUNGSZEITEN
MO-FR 14:00-04:00 UHR
SAMSTAGS 18:00-06:00 UHR.
Interessant war es im hinteren Bereich. Der war immer ab neun geöffnet und die Damen tanzten an der Stange. Zahlreiche Schilder an den Wänden wiesen die Besucher darauf hin, dass das Berühren der Damen verboten war. Außer natürlich, die Damen ließen das zu. Betrat man den Bereich, befand sich linker Hand die "Tanzfläche" im vorderen Drittel standen Sitzgarnituren im Halbkreis. Ganz hinten gab es Separeés. Man konnte nämlich auch eine Dame für eine bestimmte Zeit "buchen" und ihr alles Leid der Welt klagen. Oder einfach irgendwas erzählen, was keinen anderen je interessiert hätte. Wenigstens gaben die Damen vor, zuzuhören.
Wir wollten weder ins Separeé. noch unsere Beichte ablegen, wir wollten nur dort sitzen und unterhalten werden. Mit den entsprechenden Getränken natürlich. All die Mädchen kamen aus Osteuropa und jeder von uns hatte so seine Favouritin. Einziges Problem war die hohe Fluktraktion der Angestellten.
Dirk war sehr von Zaiga angetan. Er war der Meinung, dass die glatt fähig wäre, "mit diesem Mund und diesen Lippen einen Tennisball durch einen Gartenschlauch zu saugen."
Guido gefiel mehr die zierliche Oksana. Denn die konnte sich so schön an der Stange verbiegen.
Ich war acht Wochen von diesem Zirkus abgeschnitten, deshalb war ich mir nicht mal so sicher, ob Julia noch tanzte, oder schon wieder in St. Petersburg war. Nur einmal habe ich im Separeé gesessen, mit ihr. Zwei Stunden Unterhaltung mit Julia kosteten mich damals rund einhundertundfünfzig Euro - Herzlichen Glückwunsch. Das passierte danach nicht wieder, denn wir führten eine Unterhaltung aus Russisch, Deutsch und Englisch, danach waren dann mehr Fragen offen, als geklärt. Sie steckte mir noch ein Foto und ihre russische Telefonnummer zu, hielt die Hand auf - und war mitsamt dem Geld verschwunden.
Heute wollte ich nur etwas Spaß hier haben. Etwas für das Auge und gegen den Durst, danach vielleicht noch in die Ruine.
Das Blaue Piano befand sich zwei Querstraßen hinter dem "Café Hasselmarkt". Der Abend war angenehm warm und wir liefen.
Am Eingang begrüßte uns eine in die Jahre gekommene Blondiene. Die war auch neu hier.
"Hallo, ihr drei."
"Hallo." Dirk übernahm ohne Vorwarnung das Gespräch.
"Wir sind Bankkaufleute aus Bonn und auf der Durchreise nach Berlin. Wir wollen heute Abend einige angenehme Stunden verbringen, deshalb sind wir hier."
Oh ha. Welch Worte mein Lieber.
"Da sind Sie hier genau richtig. Darf ich nach den werten Namen der Herren fragen?"
'Nein, eigentlich nicht, denn die gehen Dich nichts an.'
"Sebastian." Kam es bei Dirk wie aus der Pistole.
Ich entschied mich für meinen tausendfach bewährten Undercovernamen. "Sascha."
"Dirk, äh... Sven, äh... Timo."
Ganz großes Kino lieber Guido. Was man nicht übt, oder abspricht klappt nicht. Wenn das so weiter ging, löste sich unsere Tarnung in wenigen Minuten in Wohlgefallen auf.
Falls sie etwas komisch an uns fand, ließ sie sich das nicht anmerken, sondern brachte uns stattdessen an einen Tisch.
Der stand wunderschön in der Mitte, direkt vor der Bühne. Nun konnte der Abend starten. Der startete dann mit Bier für uns. Drei kleine Bier für je sieben Euro und fünfzig. Sehr schön! Als Sahnehäubchen stellte Blondie die Frage:
"Soll ich den Champagner schon mal kalt stellen?"
"Ja, gerne doch. Aber nur, wenn es Dom Perignon Vintage, oder Krug Vintage ist."
"Das heißt wohl nein?"
"Durchaus. Wann beginnt denn eigentlich die Show?"
"In etwa einer halben Stunde. So wie es draußen am Eingang geschrieben steht."
Oh, danke für den Hinweis.
"Aha. Danke. Leider konnten wir das Schild nicht lesen. Die zwei Kleiderschränke standen ungünstig davor."
Sie zog drohend ihre Augenbrauen hoch und wir erreichten hier einen sehr sensiblen Punkt. Es blieben uns nun zwei Möglichkeiten.
1. ab jetzt den Mund halten und einfach den Abend genießen, oder
2. weiter die Nervenstärke des Blondchen testen und rausfliegen.
Mangels Alternativen um diese Uhrzeit, entschieden wir uns für Punkt eins.
"Gut, wir warten dann hier." Mit diesen Worten schlossen wir unseren Frieden mit dem Personal. Wir wollten ja wiederkommen.
In der Zwischenzeit hatte sich der hintere Bereich gut gefüllt. Alle Tische waren besetzt und die ersten Herren gingen bereits zur Beichte. Einige alte Bekannte konnten wir hier auch antreffen. Die Herren Jancke, Kuhl und Kauffmann hatten sich für etwas Haut und Unterwäsche und gegen einen Abend an Toms Bar im Anker entschieden. Die drei ignorierten uns bei ihrem Einmarsch völligst, das machen wir dann garantiert auch beim nächsten Mal in der Genickschussbar! Offensichtlich wurden Herrn Jancke vorher die Spielregeln erklärt, denn er trank artig während des ganzen Abends nur ein Bier. Herr Kauffmann war da ganz der alte. Rauchend und trinkend verbrachte er den Abend. Herr Kuhl fand hier zu seinen sprachlichen Fähigkeiten zurück und bestellte, anstatt sein leeres Glas einfach hochzuhalten. Wenn wir das beim nächsten Mal in der Genickschussbar erzählen glaubt uns das garantiert keiner. Es fehlten nur noch die Herren Blaschkewitz und Raabe, dann wäre der Abend perfekt gewesen.
Eine halbe Stunde später betrat "ETWAS" die Bühne (es stellte sich später heraus, dass das der Manager war, die Mannschaft wurde offensichtlich komplett ausgewechselt). Wir wussten nun nicht so recht, was wir machen sollten. Das Bier schneller trinken, entgeistert gucken, oder fluchtartig Richtung Ausgang verschwinden.
"Etwas" trug ein weißes Hemd. Oder besser gesagt ein ehemals weißes Hemd, denn es hatte im Laufe der Monate einen prächtigen Grauschimmer angenommen und in Mitten dieser grauen Tönung verzierten Streifen in allen Farben dieser Erde den Rest des Hemdes. Dazu trug er eine gelbe Hose, blaue Socken und beige Schuhe. Das nannte ich dann Mut zur Farbe. Höhepunkt der ganzen Aufmachung war allerdings der Kopf. Das lange, in fettigen Strähnen, liegende Haar wurde mit Öl über die kahlen Stellen gekämmt und die Augen waren mit Lidschatten und Kajalstift ihrer natürlichen Farbe beraubt.
Er stand dort oben völlig schmerzfrei und ließ sich im Scheinwerferlicht von einem unsichtbaren Publikum feiern.
Seine Fischaugen wanderten von einem Tisch zum anderen. An unserem blieben sie unangenehm lange hängen. Da hatte wohl jemand gepetzt!
Dann holte er Luft und sprach zu uns allen.
"Guhutehen Ahabent, meine Hern. Ich freu mich, Sie alle im Blaun Pianoho zu begrüsn..." An dieser Stelle habe ich mich aus der Ansprache ausgeklinkt. Erst als der Name Adriana fiel, lenkte ich meine Aufmerksamkeit zurück in die Realität.
Naja... jetzt konnte es losgehen!
Etwas unsicher betrat ein blondes Mädchen die Bühne.
Unter ihrem weißen Umhang schimmerten in sattem Rot BH und Hot Pants. An ihrer Figur gab es nicht so viel zu bemängeln. Viel war nicht da. Sie bestand hauptsächlich aus Haut und Knochen und hatte beim verteilen der Brust gefehlt. Der BH kam ohne Mühe seiner Aufgabe nach. Viel zu halten gab es nicht.
Als wummernd die Musik einsetzte, bewegte sie sich aber sehr gekonnt nach Madonnas "Like a virgin." Welch Ironie und das hier. Denn jedes Mal, wenn Madonna ihr hohes HI anstimmte, fiel entweder der Kopf in den Nacken, oder die Hand zwischen ihre Beine.
Nach gefühlten zweihundert Minuten war ihr Auftritt dann beendet.
Ring frei für die nächste Tänzerin.
Die sah aus wie Adrianas Schwester. Das veranlasste Dirk zu der Frage, ob es hier auch einen Beschwerdebriefkasten gab.
Mein Gott!
Sie hieß allerdings nicht Adriana, sondern Helena, trug alles in weiß und tanzte weniger gekonnt, als Adriana. Vor allem nicht so sexy! Vielleicht lag es an der Liedauswahl. Obwohl man nach Donna Summers "Hot stuff" durchaus tanzen konnte. Dann war das auch geschafft, aber anstatt zu verschwinden, kam sie geradewegs an unseren Tisch, setzte sich neben Guido und drehte ihm den Rücken zu. Der zuckte nur mit den Schultern und ließ sie da sitzen.
"Ich glaube sie will, dass Du ihren BH aufmachst." Dirk wollte ihm nur helfend zur Seite springen.
"Warum? Ich will hier in Ruhe Bier trinken und gucken. Obwohl das mit dem gucken zur Zeit schwer ist."
Dirk tat dann das, was Guido machen sollte und der BH war weg. Allerdings gab es nicht viel zu sehen. Sie war definitiv Adrianas Schwester.
"Nun möchte ich Champagner." Oh, Madam dachte wohl, dass das mit uns so einfach ist. Mein liebes Kind, wir sind keine zwanzig mehr und nicht das erste Mal hier. Außerdem haben wir alle unsere Lektion auf St. Pauli gelernt.
"Dann bestell Dir doch einfach welchen." Nett wie ich nunmal bin, wollte ich ihr einen kleinen Anstoß geben.
"Ich habe aber kein Geld."
"Hm, kein Geld, kein Champagner."
"Du weißt was das heißt?!"
"Ja, bis später."
Wir drei winkten ihr unisono hinterher und bestellten nochmal neues Bier. Unsere Rechnung erreichte langsam astronomische Ausmaße.
Dann kam das Blondchen von vorhin an unseren Tisch.
"Was war mit Helena, warum blieb sie nicht hier."
"Sie wollte Champagner bestellen, stellte dann fest, dass sie kein Geld hatte."
Bevor sie etwas antworten konnte, nahm Guido sie ins Gebet. Sein Abend war offenbar ruiniert.
"Habt ihr hier auch sexy Girls? Oder nur Hühner? Ich meine, wir sind hier um etwas zu sehen und Spaß zu haben. Spaß habe ich nur noch, wenn ich zehn Bier mehr trinke!"
"Ich verstehe euch ja, aber im Moment haben wir kein anderes Personal."
Zum ersten Mal sahen wir uns Blondchen näher an. Die wirkte durchaus sexy. Etwas fülliger als Adriana und Helena, aber wenigsten hatte der BH etwas zu tun.
"Warum tanzt Du nicht da oben?" Dirk versuchte wenigstens Guidos Abend etwas zu retten, aber Blondchen machte ihm da gnadenlos einen Strich durch die Rechnung.
"Ich tanze nicht mehr, ich bin zu alt dazu."
Na klar!
"Dann gib uns wenigstens Deine Telefonnummer und wir haben etwas Spaß später."
'Du schreckst auch vor nichts zurück, oder Guido?'
"Bestimmt nicht." Klare Ansage.
"Was verdienen denn die Girls hier?"
"Zweihundert Euro pro Nacht plus das, was die Gäste ihnen zustecken."
"Sven, sieh zu, dass Du Melanie und Anke erreichst. Die machen für Geld doch alles."
"Guido, ich denke Du brauchst Hilfe. Das ist eine Tanzbar, kein Puff."
und an die Blondine: "Gibt es hier Duschen, er muss mal kalt duschen, damit er runter kommt!"
Das hätte einer Gäste vielleicht auch besser gemacht. Denn plötzlich hörten wir es aus einem der Separées laut klatschen.
Dann flog der Vorhang zurück und ein etwas verwirrter Cedric flog geradewegs in unsere Richtung. Verfolgt von einem sehr aparten Wesen. Das Wesen hatte sich aber in eine Furie verwandelt und fluchte in einer unverständlichen osteuropäischen Sprache. Das brachte dann Oleg und Igor auf den Plan. Die nahmen Cedric unter die Arme, nahmen ihn mit Richtung Tür, dort blitzte es erst hell, dann klatschte es nochmal und das letzte was wir von Cedric hörten, war ein lautes Jaulen.
Nun war Guidos Abend gerettet. Er ging geradewegs zu der Furie und lud sie kurzerhand an unseren Tisch ein.
Dirk und ich schüttelten nur ungläubig den Kopf.
"Wie lange ist Hannah noch bei ihren Eltern?"
"Drei lange Wochen."
"Wir müssen wohl auf ihn aufpassen, bevor er etwas dummes macht."
Zu spät.
Er machte es bereits. Er bestellt Champagner und zwei Gläser. Wenigstens wussten wir nun, wer die zweihundertunddreißig Euro für den Champagner bezahlt...
Mit den Worten "Wir sehen uns morgen.", verschwand er mit ihr in eines der Separées und ließ uns zurück.
Dann kam der Manager plötzlich auf die Bühne zurück und kündigte in seiner öligen Stimme nun den Höhepunkt des Abends an.
"Hoffentlich liest er unsere Rechnung nicht laut vor."
Dirk hatte Sorgen!
Das tat er nicht, sondern kündigte nun Julia an.
Ich bat das Schicksal inständig, dass es bitte nicht diese Julia auf die Bühne schickte.
Dieses Mal war das Schicksal gnädig, schickte nicht Julia aus St. Petersburg, sondern Julia aus Vinius.
Angekündigt wurde sie von den Klängen zu Beethovens "Für Elise", passend dazu wurde das Licht nun vollständig gelöscht und die Bühne in warme Farben getaucht. Ich konnte noch nicht mit Bestimmtheit sagen, warum meine Hände plötzlich anfingen zu schwitzen und mein Herzschlag rasant an Fahrt zunahm. Irgendwas passierte gleich...
Hinter dem Vorhang passierte etwas, gleichzeitig hörte Beethoven auf.
Dann war Stille (abgesehen von dem nervösen Hin- und Herrutschen einiger männlicher Besucher).
Nach einigen Sekunden ertönte "After dark" von Tito and Tarantula und der Vorhang fiel.
Julia betrat die Bühne.
Sie stand da, ohne sich zu bewegen. Dann ging sie hüftenschwingend zur Musik Richtung Bühnenende. Schaute in die Runde und begann zu tanzen.
Nicht wie Salma Hayek, irgendwie anders...
Oh...
Mein....
Gott...
Ich glaubte an dieser Stelle im Titti Twister zu sein. Fehlte bloß noch der Tequilla!
Vielleicht dachte ich das nicht, sondern sagte es laut, denn auf einmal kam Adriana zurück. Mit einem Tablett.
Mit zweiundzwanzig Gläsern Tequilla!
Für jeden Gast einer!
Sie stellte Dirk und mir die Gläser hin, gab uns das Salz und die Zitronenscheiben, lächelte und ging zum nächsten Tisch.
Dirk und ich schauten uns an. Schüttelten ungläubig den Kopf, verfielen in ein Grinsen und machten uns an die Zeremonie des Tequillatrinkens, während Julia-Salma weiter tanzte.
Ging der Abend hier so weiter, musste ich noch Onkel Ulli anrufen und einen Kredit von seiner Bank beantragen!
Denn sollte Julia auf die Idee kommen, sich an unseren Tisch zu setzen und Champagner haben zu wollen, sie bekam auf jeden Fall zwei Flaschen!
Sie hatte schulterlanges blondes Haar und blaue Augen. Sie war nur um diese Augen herum mit Lidschatten und Kajalstift geschminkt. Ihre etwas üppigen Formen wurden von einem roten Umhang mehr enthüllt als verdeckt. Figurlich stimmte alles. Von den Schultern, über den Busen und straffen Bauch bis zu den wohlgeformten Waden.
Das war was für das Auge!
After dark verklang langsam und wir dachten, dass die Party nun vorbei sei.
Falsch!
Weit gefehlt.
Wir nährten uns Mitternacht und hatten noch sechs Stunden vor uns. Dirk und ich waren uns einig, dass der Abend hier auch aufhörte!
Wir bestellten noch Bier und in unserem angetrunkenen Leichtsinn eine ganze Flasche Tequilla. Dazu eine Zitrone und einen Salzstreuer.
Dann ging die Party weiter.
Julia tanzte.
Diesmal war es Sarah Vaughans Interpretation von "Whatever Lola wants."
Wahnsinn.
Sie stellte so alles und jeden hier in den Schatten. Besonders deutlich wurde das bei der Textzeile: "I always get what I aim for and your heart and soul is what I claim for."
Mir war hier langsam alles egal.
Wonach sie verlangte konnte sie gerne haben und noch viel, viel mehr. Das sahen hier alle Männer so. Die meisten hatten aber etwas Pech. Sie gingen später heim zu Frau und Familie. Ich ging später heim, doch da war keiner, der auf mich wartete. Trank ich allerdings in diesem Tempo weiter, ging ich allein heim, oder musste noch in die Genickschussbar... Ein kurzer Stoß von Dirk holte mich in die Wirklichkeit zurück.
"Dein Tequilla wird langsam warm im Glas."
"Dann sollten wir ihn trinken. Prösterchen!"
"Coole Party hier! Was macht Guido eigentlich?"
Verdammt, der war ja auch noch irgendwo hier. Allerdings schon seit zwei Stunden mit der Furie am erzählen. Oder hatten wir da etwas verpasst?
"Wen kümmert es denn? Er ist schließlich mit der Dame weg."
"Stimmt. Noch einen?"
"Klar, mach voll."
Dann waren die Gläser voll und die Flasche leer. Die Musik wurde langsam lauter und Julia tanzte immernoch. Es sah jedenfalls für Dirk und mich so aus.
Dann kam Guido.
Grinsend.
Arm in Arm mit der Furie.
Er murmelte etwas von "schnell zur Bank... bis nachher..."
Dirk und ich sahen uns an, zuckten mit den Schultern, griffen nach unseren Gläsern - und stellten mit Unbehagen fest, dass diese leer waren.
Schulternzucken Nummer zwei, frisches Bier Nummer einhundertundacht...
Wir gerieten langsam aber sicher in ein Stadium, in dem es uns nicht gestört hätte, wenn Miss Piggy, oder Mutter Beimer auf der Bühne getanzt hätten. Meinetwegen auch zusammen!
Guido tauchte dann wieder auf. Mit der Furie, Adriana und Helena. In deren Begleitung befanden sich zwei weitere Flaschen Champagner. Allein die Rechnung für Champagner und sein Bier belief sich bereits auf siebenhundertundsiebenundzwanzig Euro und fünfzig Cent. Da war das Beratungshonorar für die Beichtschwestern aber noch nicht dabei. Wie wollte er das nur seiner geliebten Hannah erklären?
Hauptasache er hatte Spaß. Denn den hatten Dirk und ich auf alle Fälle.
Julia beendete ihren Auftritt und machte Platz für "Etwas".
Es war inzwischen halb drei morgens und es lagen noch weitere Stunden voller Bier, nackter Haut und Tanz vor uns. Allerdings konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, welch böses Erwachen uns bevorstand.
Etwas stand da und sonnte sich hemmungslos im roten Scheinwerferlicht.
"Wenn Sie, meine verehrten Herren, glauben, dass mit Julia schon der Höhepunkt des heutigen Abends erreicht ist, liegen Sie alle leider falsch!"
Nun ging ein raunen durch die ehrenwerte Männerwelt. Keiner konnte so recht glauben, was der da oben gerade erzählte. Hier war nämlich absolut keine, die Julia auch nur annähernd das Wasser reichen konnte. So dachten wir, bis Katja und Natascha die Bühne betraten. Ungelogen - uns allen stand der Mund offen. Das war wie im Traum. Ich sah mich im Geiste nun doch Onkel Ulli anrufen, denn meine Fantasie wollte nun mehr, als das Bankkonto hergab. Selbst Dirk rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Worte können manchmal nicht beschreiben, was das Auge sieht.
Bei den beiden war das der Fall.
Es gibt unterschiedliche Typen von Frauen.
Zum einen die, die ihren Körper gekonnt von der Außenwelt abschirmten und ihn in weiten Hosen, Jacken und Blusen versteckten, dann gab es die Art von Frauen, die ohne zögern eine ganze Heerschar von Männern auf ein Schlachtfeld locken konnten, ohne dabei auch nur ein Instrument zu spielen, dann gab es solche, die ihren Körper als ebendieses Schlachtfeld betrachteten und nur auf die Männer warteten, die mutig genug waren, dieses Schlachtfeld zu stürmen und dann gab es noch den kleinen Rest.
Zu diesem Rest gehörten die Frauen, die auftauchen konnten wann und wo immer sie wollten und deren Anwesenheit allein schon ein Geschenk an die Männerwelt war.
So war das bei auch bei Katja und Natascha.
Beide waren etwas mehr als einen Meter und achzig groß. Wogen zusammen weniger als einhundert Kilogramm. Beide standen einfach da oben. Rücken an Rücken, taten nichts und warteten.
Katja hatte schwarz-blaue Haare, trug einen roten, ja was war das eigentlich?..... Irgendeine Mischung aus knöchellangem Kleid und Pyjama. Dieses Kleidungsstück war raffiniert geschnitten. In feinen Spitzen wurde der Busen mehr ent- , als verhüllt. Das galt auch für ihren Schambereich. Keinem kam es in den Sinn, wie bei den Prolls einfach "ausziehen, ausziehen" zu rufen.
Nein!
"Lieber Gott, gib diesem Wesen einfach genug Zeit sich zu enthüllen. Bitte tu das auf eine anziehend-sinnliche Weise. Danke!"
Natascha stand in bordeaux-rotem BH und bordeau-roten Knickers da oben. Passend dazu trug sie schwarze Overkneestiefel. An dieser Stelle dankte ich dann Hannah. Sie trug sowas nämlich auch mit Vorliebe. Die Schuhe, nicht die Unterwäsche.
Dann begannen beide sich zu bewegen. Sie tanzten nicht, nein sie schwebten über die Bühne. Ich kann mich nur nicht mehr erinnern, welche Musik gespielt wurde und wie lange sie tanzten... An das was beide da oben taten, erinnere ich mich bis heute. Viel zu schnell war der Auftritt beendet und obwohl das ganze Piano "Zugabe, Zugabe" rief, kamen sie nicht zurück.
Herrn Kauffmann wachte an dieser Stelle auf und fragte in die Runde: "Habt ihr eigentlich den Ring von der einen bemerkt?"
Was für eine dumme Frage. Bemerkt haben wir eigentlich alles, bloß keinen Ring.
"Die mit den schwarz-blauen Haaren ist verheiratet."
Das interessierte uns wenig bis gar nicht.
"Verheiratet seit Ewigkeiten. Habt ihr den Ring nicht gesehen?"
Nein, denn leider waren da andere Sachen sehr ansehnlicher.
"Der Ring war nämlich nicht gleichförmig, sondern lief nach innen hin zusammen."
"Wen interessiert das eigentlich? Worauf wollen Sie hinaus? Ich glaube, Sie waren der einzige hier, dem das auffiel!"
Danke für Deine Unterstützung Dirk.
Daraufhin verstummte Herr Kauffmann und fiel in sein bekanntes Schweigen zurück.
Ein kurzer Blick zur Uhr, oh schon fast sechs Uhr. Bevor wir noch etwas sagen konnten, kam Julia an unseren Tisch. Wir dachten, dass es nun unsere Chance zur Party wäre. Leider lagen wir in unserer Annahme falsch. Julia überreichte uns mit einem lächeln im Gesicht unsere Rechnung.
Die nahm ich an mich, öffnete sie und bekam fast einen Herzinfarkt:
25x Beck's Bier 275ml @ ¤ 7.50 = 187.50 ¤
2x Tequilla Sauza Blanca 1.0 Liter @ 20.00 ¤ = 40.00 ¤
3x Champagner Moet & Chandon @ 230.00 ¤ = 690.00 ¤
3x Privatunterhaltung @ 30.00 ¤ / Stunde = 90.00 ¤
3x Privatunterhaltung @ 30.00 ¤ / Stunde = 90.00 ¤
3x Privatunterhaltung @ 30.00 ¤ / Stunde = 90.00 ¤
========
1187.50 ¤
"Wäre es vielleicht möglich, den jungen Herrn aus dem Separée zu holen? Ich möchte doch das eine oder andere Wort mit ihm wechseln."
"Der ist schon vor zwei Stunden gegangen."
"Ach, ist er das?"
An dieser Stelle schaltete sich Dirk ein: "Was ist denn los?"
Ich reichte ihm nur wortlos die Rechnung, daraufhin verfärbte sich sein Gesicht.
"Ich bring ihn um... Ich bring ihn um.... Verdammt nochmal!"
Der liebe Guido ließ uns hier mit einer Rechnung zurück, die sich gewaschen hatte. Zumal die meisten Posten auf ihn liefen.
Zogen wir hier nämlich zwanzig Beck's und zwei Flaschen Tequilla ab, blieben für ihn immernoch neunhundertneunundsiebzig Euro und fünzig Cent.
Was blieben mir und Dirk anderes übrig, als zähneknirschend zu zahlen? Genau, nichts. Wir teilten die Rechnung durch zwei und statt fünfundneunzig Euro zahlte jeder nun fünfhundertneununddreißig Euro und fünfundzwanzig Cent.
Das mein lieber Guido, zahlst Du uns zurück!
"Ich versuche mal, ihn anzurufen."
"Mach das, aber versuch, Deine Stimme im Zaum zu halten."
"Hm, schwer wird's!"
"Versuch es trotzdem."
"Hallo mein lieber Guido. Wo bist Du denn?" Oh je, Dirk konnte auch mit seidenweicher Stimme sprechen. Das rief in mir ganz böse Erinnerungen an Rebecca hervor. Die konnte das nämlich auch.
"Ach... Du bist im Blauen Piano und wartest auf uns?.... Wo wir sind? Wir sind vorm Blauen Piano... warum ist da eigentlich so ein komischer Lärm?.... Ach so, das ist die Musik... Nein, von draußen hört sich die Musik geringfügig anders an.... Aha... Glaubst Du eigentlich, wir sind bescheuert?.... Das war eine rhetorische Frage, Guido... Nein, darauf antwortet man nicht!... Pass auf, wir nehmen jetzt ein Taxi und kommen zur Ruine. Du wartest da auf uns, schickst die beiden Mädels weg und gnade Dir Gott, wenn Du nicht mehr da bist!"
Ich sagte lieber nichts, sondern sah mit Verwunderung, wie Dirk eine andere Nummer buchstäblich in sein Telefon hackte.
"Melanie?! Ja, ich weiß wie spät es ist. Wo bist Du? Wie, im Bett? Mit wem? Hallo?!.... Melanie?! Verdammt!" Er benutzte an dieser Stelle zwei andere Wörter, die ich aber nicht wiedergeben möchte.
"Wir fahren in die Ruine!"
"Warum? Muss ich denn den Finger in die Wunde legen und Dich daran erinnern, dass fünfhundertundneununddreißig Euro und fünfundzwanzig Cent ärmer sind? Du und ich!"
"Wir stellen nur sicher, dass Guido mit uns heim kommt."
"Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole.. WARUM?"
"Damit er nicht noch mehr Unsinn macht!"
"Er ist da drin mit zwei von den Tänzerinnen. Die sorgen schon dafür, dass er bezahlt. Ich will nach Hause. Lass ihn da versauern, wir regeln die Sache morgen."
Zehn Minuten später saß ich im Taxi - Richtung Ruine. Wir steigen aus, natürlich waren wir die einzigen dort, denn es war inzwischen morgens halb acht.
Keiner mehr da.
Außer Gregor.
Der erwartete uns schon.
Nicht in bester Laune.
Wir waren also zu spät...
"Kommt mal rein ihr zwei!"
"Was hat er angestellt und wie hoch ist die Rechnung?" Das wollte ich vorher geklärt wissen!
"Er hat hier mit zwei Bunnies seinen Geburtstag gefeiert. Vierhundertundsechsundzwanzig Euro und fünfundzwanzig Cent."
"Warum bezahlt das Geburtstagskind nicht einfach seine Rechnung und dann ist gut?"
"Er hat kein Geld dabei." Erstaunlich wie ruhig Gregor bleiben konnte. Das hörte sich an, als ob er im Deutschlandfunk das Wetter präsentierte.
"Irgendeine Karte? Visa? EC? Vielleicht Pik Ass?"
"Nichts."
"Wo ist er?"
"Gehen wir!"
Das klang weniger wie eine Einladung, sondern vielmehr wie eine Aufforderung.
Wir gingen quer durch das Gebäude, bis ins Büro. Dort saß Guido wie ein Häufchen Elend und wartete auf ein Urteil.
Dass das keineswegs zu seinem Gunsten und gut ausfallen würde, wurde ihm bei unserem Eintritt bewusst.
Er sackte in seinem Stuhl förmlich zusammen und seine Gesichtsfarbe wurde einige Nuancen weißer.
"Hi, Boys. Wie geht's?"
"Gregor, wäre es vielleicht möglich, dass Du und der Rest uns für einige wenige Minuten allein lassen könnt?"
War es natürlich nicht!
Bei dieser Gelegenheit konnten wir übrigens alle anderen Angestellten der Ruine kennenlernen. Außen den uns schon bekannten Alex und Tim waren da noch diverse Damen und Herren versammelt, deren Aufgaben reichten vom bewachen der Jacken bis zum sammeln der Gläser. Am Ende des Tisches thronte Zoran. Er war der Boss der Ruine. Es ist ja nicht immer von Nachteil, wenn man den Chef kennt, aber unter den gegebenen Umständen war es einer.
Der Schock gesellte sich letzten Endes auch noch zu uns. Er tat das in Person von Dagmar Meier.
Sie war die Sicherheitsbeauftragte der Ruine für die weiblichen Partygäste. Quadratisch, praktisch, gut wie sie war, kanpp zwei mal zwei Meter im Quadrat, hatte sie zwei Girlies unter dem Arm.
Helena.
Oksana, die Furie.
Das eröffnete Dirk und mir vollkommen neue Horizonte.
"Na bitte." Sagte ich. "Nun können Patient A und Patient B Patient C aus der Klemme helfen. Schließlich haben die schon jede Menge Geld verdient. Durch ihn!" Das sagte ich Richtung Guido.
"Ruhe ihr zwei Knallkörpa. Die hannisch aufm Klo jefunden."
Das sind die Momente, in denen ich bedauere, dass ich keine Videokamera dabei habe.
Das wäre bei YouTube das Video der Woche. Wir erwiderten nichts. Es war ja nicht so, dass wir Angst gehbat hätten, aber wir wollten sie auch nicht dazu ermutigen, einen Schritt nach vorne zu machen.
Maan stelle sich nur mal vor, sie stolpert, fällt auf einen von uns und macht sich dann aus Gnatz noch schwer. Das kann zu bösen Verletzungen im Rippenbereich führen.
Sie dachte auch, dass sie hier das Komando hatte und nicht Zoran in seinem bequemen Sessel.
"Ruhe nochmals. Ihr zwei Kaspars sorgt bevor ihr geht, das der bezahlen tut."
Diesen Satz musste ich erst verdauen, bevor ich zum Gegenschlag ausholte.
"Ich weiß, es ist schon früh am Morgen und alle wollen heim, aber trotzdem sollten doch gewisse Grundsätze der deutschen Sprache erhalten bleiben. Ich beziehe mich hier speziell auf Grammatik, Ausdruck und Satzbau."
"Du denkst wohl ich bin dumm?"
Kasching! Nun konnte es losgehen. Vorhang auf und Bühne frei!
"Warum sollte ich das denken?"
"Es sieht so aus!"
"Was sieht so aus?"
"Das ich dumm bin!"
"Echt? Wie zeigt sich das? Siehst Du das im Spiegel?"
"Wenn Du glauben tust, dass Du mit mir das machen kannst...."
".... bin ich an der richtigen Adresse?"
Das war dann zuviel für sie. Mit einem resegnierten "ÄHM..." beendete sie die Unterhaltung.
An Zoran gewandt sagte ich: "Wie wäre es, wenn uns jemand eine Kreditkartenmaschine gibt und wir bezahlen können?"
Das erledigte Gregor.
Als wir dann gehen wollten rief uns Zoran nochmals zurück: "Bevor ihr das Gebäude verlasst, noch einen Satz. Ich will euch drei in den nächsten zwei Jahren hier nicht sehen. Damit das auch eingehalten wird, machen wir noch ein Erinnerungsfoto von euch, das kommt dann draußen an die Wand."
Schön.
Endlich waren auch wir in der Hall of fame... Mir war das ja eigentlich egal, ich musste ja keine Ausreden erfinden und erklären, warum ich samstags keine Lust auf die Ruine habe... Aber für Dirk und Guido werden die nächsten zwei Jahre wohl etwas schwerer.
Besonders aber für Guido.
Der muss nun etwas sparen.
Tag der Veröffentlichung: 01.12.2009
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