Prag, 02. Juni - 28. Juni 1984
Es war Sommer in Europa. Hochsommer und ich war dabei meine Aufgabe zu beenden. Juri Owetschkin befand sich seit vier Tagen in der Botschaft, um letzte Steine aus dem Weg zu räumen, dann konnte Operation Roter Adler beginnen.
Ich traf in den Abendstunden des zweiten Juni in Prag ein. In meiner Begleitung befand sich Ekatarina Medwedjewa. Sie war die "gewisse" Person, die ich von Oberstleutnant Khulov ausgeliehen hatte. Sie sollte uns auf die Spur der markierten Agenten führen. Sie war die Geheimwaffe in der Waffenkammer des KGB. Ursprünglich gehörte sie zum fünften Direktorat. Die befassten sich mit Grenzschutz und dem Aufspüren von Dissedenten und ähnlich spannenden Sachen. Es gefiel ihr wirklich dort, bis sie eines Tages die Wege vom Genossen Khulov kreutzte. Der verbrachte zwei Stunden mit ihr und am nächsten Tag gehörte sie zum ersten Direktorat. Sie war diejenige, die die Spatzenschule mit Auszeichnung absolviert hatte und dort noch immer als lebendes Beispiel bejubelt wurde. Die Spatzenschule ist eine vom KGB geleitete Schule nur für Frauen und Mädchen. Sie lernten dort ebenso viel wie ihre männlichen Kameraden, nur standen auf ihrem Unterrichtsplan frauenspezifische Sachen! Ekatarina war bei einer Körpergröße von einhundertachtundsiebzig Zentimetern ungefähr sechzig Kilogramm schwer. Sie konnte sowohl mit ihrem Körper, als auch mit ihrer Waffe umgehen.
Bereits zwei Wochen vor uns kamen Boris Kirpitschenkow und Wjatscheslaw Lommonow nach Prag. Beide waren von der Abteilung Bild und Ton, der Achten Hauptverwaltung. Überwachungsspezialisten. Verkleidet als Mitarbeiter der staatlichen Energiebetriebe verschafften sie sich Zutritt zu den Wohnungen der Zielpersonen und statteten diese mit Abhörmikrofonen und kleinen Kameras aus. Das besondere an beiden war, dass eben nicht machten, was auf den Schulen gelehrt wurde. Sie versteckten ihre kleine Geräten an ungewöhnlichen Orten. Nur nie in der Nähe von fließendem Wasser. Denn das Rauschen von Wasser überdeckt spielend eine Unterhaltung und macht es unmöglich diese zufriedenstellend aufzuzeichnen. Über einen kleinen Transmitter, versteckt in einem Stromhäuschen, gelangte jedes Wort und jedes Bild in unsere sichere Wohnung im sechsten Prager Bezirk, in der Kyjevská. Morgen sollten dann noch Pawel Schukow und Swetlana Pulkovna hier eintreffen, dann war das Team komplett. Pawel und Swetlana sollten zwei Touristen spielen und Prag erkunden. Von Norden bis zum Süden. Vom Osten bis zum Westen.
Als ich in die Anonymität der Relikte von Chruschtschows Plattenbauten eintauchte, um in die Wohnung zu gelangen stellte ich sicher, dass mir niemand folgte, dann fuhr ich mit dem Aufzug in den elften Stock und war dann im Herz der Operation. Juri saß etwas missmutig im Sessel und brummte das Guten Abend mehr aus Höflichkeit, denn aus Aufrichtigkeit.
"Was gibt's Juri? Warum so schlecht gelaunt?"
"Das Warten geht mir auf die Nerven. Blad. Ich will endlich was zu tun haben." Wir sprachen in dieser Wohnung natürlich Tschechich. Einige hatten es sich zur Aufgabe gemacht, wenigstens einige Brocken in der jeweiligen Landessprache zu erlernen. Auch wenn die Sowjetunion stets der große Bruder von allen sozialistischen Ländern dieser Erde war, waren wir doch recht wenig beliebt. So lernte ich Tschechisch und Polnisch, Englisch, Spanisch und Französisch. Deutsch und Russisch waren sozusagen meine zwei Muttersprachen.
Juri sprach neben Russisch noch Tschechisch, Ungarisch und Chinesisch. Er war eben mehr der Mann für's ganz Grobe. Da waren andere Fähigkeiten gefragt, als sprechen. Er hatte immer ein Team, dass ihm ganz genau den Weg zeigte. Anders als bei mir, ich musste ohne Team durch die Welt um meine Aufträge zu erfüllen.
"Verständlich. Deshalb sind wir ja alle hier. Erstmal müssen wir die Mäuse aus dem Loch locken und dann kann die Falle zuschnappen."
Wir beschatteten alle vier zwanzig Tage lang. Dank unserer Mitarbeiter von Bild und Ton wussten wir so ziemlich alles über ihren Tagesablauf. David Strba sollte der Erste sein. Er verließ das Hauptquartier vom StB jeden Tag pünktlich um halb fünf. Deshalb sollten Pawel und Swetlana übermorgen auf offener Straße einen kleinen Streit provozieren. Seine Wohnung befand sich in der Hybernská, genau dort sollte es passieren. Genau vor seiner Wohnung. Zum Einsatz sollte außerdem ein Regenschirm kommen, dessen Spitze so präpariert war, dass sie eine kleine Kugel verschießen konnte. Gefüllt war diese mit Rizin. Das war nicht sofort tödlich, sondern wirkte erst vier bis acht Stunden später. Das ließ uns dann genug Zeit für den nächsten Kandidaten. Miroslav Vyborny. Um den kümmerte sich Juri. Wir wussen über alle Bescheid. Die Frage war nur, ob sie auch über uns Bescheid wussten.
Mir oblag die Beschattung von Vaclav Pavlik und Jekatarina kümmerte sich um Jiři Houdek. Denn der ging gerne aus und verbrachte seine frühen Abende in den unzähligen Restaurants am Wenzelsplatz. Jekatarina sollte dort seine Bekanntschaft machen, ihn dann verführen und mit ihm in seine Wohnung gehen. Jeder von uns hatte seine Schwächen. Seine waren Alkohol und Frauen. Das machte ihn natürlich willkommen für westliche Geheimdienste. Aber auch verwundbar. Das waren teure Schwächen. Nun war es aber egal, denn in einigen Stunden brauchte er sich um nichts mehr Gedanken machen. Vorher wollten wir ihn natürlich noch zum Gespräch bitten. Die Figuren waren auf ihrem Platz, alles war gerichtet, jetzt konnte der Vorhang fallen.
Prag, 26. Juni 1984
ul. Hybernská, 14:30 Uhr
Zur besten Nachmittagszeit war die ul. Hybernská mit Autos, Bussen, Straßenbahn und natürlich Fußgängern überfüllt. Ein zurück gab es nicht mehr. Heute war der Tag des Roten Adlers. Oberstleutnant Khulov persönlich leitete die Operation. Er saß in der sowjetischen Botschaft und ein Netz von Informaten war über Prags Straßen gespannt. Nun mussten wir nur noch darauf warten, dass das Ziel ins Netz fiel.
Prag, 26. Juni 1984
Václavské náměstí, 14:45 Uhr
Ich saß in einem kleinen Cafe am Wenzelsplatz um auf Vaclav Pavlik zu warten. Ich hatte noch Zeit, deshalb machte ich mich mit allen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten meiner Umgebung vertraut. Dann fiel mir dieser besondere Tourist ins Auge.
Er verhielt sich wie ein Tourist, aber sein Hauptaugenmerk lag weniger auf den touristischen Sehenswürdigkeiten, als auf meiner Wenigkeit. Ein unbekannter Mitspieler war also dabei, unsere Pläne zu durchkreuzen.
Ich nahm den mitgebrachten Zeichenblock und Bleistift zur Hand und begann einige "Skizzen" meiner Umgebung zu zeichnen.
In Wirklichkeit befand sich vier Minuten später eine genau Personenbeschreibung auf dem Blatt.
Als ob ich mit den "Skizzen" unzufrieden war, fuhr ich mit dem Radiergummi übers Blatt und riss es dann aus dem Block, knüllte es zusammen und steckte es in die Tasche. Weitere zehn Minuten verbrachte ich damit willkürliche Striche auf's Papier zu kritzeln. Dann war es Zeit, zu gehen.
An der nächsten Straßenecke übergab ich das Papierkügelchen einem Botschaftsattaché, der gerade ein verspätetes Mittagessen beendet hatte. Ich blieb natürlich nicht vor ihm stehen und übergab es ihm öffentlich. Ich ging an ihm vorbei und steckte die Kugel in seine Jacketttasche und murmelte: "Für Oberstleutnant Khulov!"
Prag, 26. Juni 1984
Václavské náměstí, 15:10 Uhr
Die Antwort war nicht wirklich überraschend. Der "Tourist" war Mitarbeiter im Stab vom amerikanischen Handelsattaché. Vermutlich Angehöriger der CIA. Er musste hier weg, er störte, er war dabei, die Operation zu ruinieren. Deshalb war Oberstleutnant Khulov der Meinung, dass es nicht schaden könne, wenn er einige Stunden bei der Prager Miliz zu Gast ist. Ich nahm ihn mit in die gestellte Falle. Ich machte keine Anstalten, mich als Profi zu erkennen zu geben, sondern ging mit ihm zum vorbereiteten Treffpunkt.
Prag, 26. Juni 1984
Rů¸ová, 15:25 Uhr
Mit meinem Schatten im Schlepp ging ich vom Václavské náměstí Richtung Rů¸ová. Dann bog ich rechts Richtung U půjčovny ab. Denn dort war die Falle aufgebaut. Genau hinter ihm bogen dann zwei Beamte der Prager Miliz um die Ecke, holten auf und legten ihm eine Hand auf die Schulter. Das ließ ihn abrupt stoppen. Dann verlangten die Beamten seinen Ausweiß. Ich bog rechts in die Jeruzalémská ging diese bis zur Opletalova und war dann wieder am Václavské náměstí. Dort traf ich einen sehr zufriedenen Juri Owetschkin. Miroslav Vyborni hatte seinen Arbeitstag unerwartet früher beendet, das gab Juri die Chance eher loszuschlagen. In einer kleinen Seitenstraße in der ul. V jámě hauchte Miroslav sein Leben aus. Blieben noch drei übrig.
Prag, 26. Juni 1984
ul. Hybernská, Václavské náměstí, 16:15 Uhr - 17:15 Uhr
Noch eine Viertelstunde. Pawel und Svetlana waren auf ihrem Posten. Sie spielten ihre Rolle perfekt. Als frischverliebtes Pärchen, spazierten sie durch Prag. Gingen die Straßen auf und ab. Hatten einen Kaffee hier, etwas Süßes hier. Für den außergewöhnlichen Fall eines plötzlich einsetzenden Regenschauers hatten sie sogar einen Regenschirm dabei. Dann kam David Strba. Er kam pünktlich auf die Minute. Pawel und Swetlana näherten sich im aus der entgegengesetzten Richtung etwa sieben Minuten später. Bereits dort fing ihr kleiner Streit an. Der Vorhang war gefallen. Swetlana erhöhte das Tempo, ging schnellen Schrittes auf David ¦trba zu, rempelte ihn an und rauschte an ihm vorbei. Pawel folgte ihr. Als er David Strba erreichte, drehte er sein Handgelenk etwas, so dass der Regenschirm im Winkel von fünfundvierzig Grad von seinem Körper abstand, dann drückte er den versteckten Mechanismus, welcher die tötliche Kugel abschoss und versuchte dann Swetlana einzuholen. Der tötlich infizierte David ¦trba kratzte sich kurz an der Stelle, als ob er von einem Insekt gestochen wurde und ging in seine Wohnung. Juri und ich verließen den Ort des Geschehens ebenfalls.
Vaclav Pavlik nutzte jeden Tag die Metro. Er fuhr mit der Linie A bis zum westlichen Ende. Er stieg jeden Tag in der Station Můstek ein und fuhr bis Leninova im sechsten Prager Bezirk. Er hatte seine Wohnung in der ul. Fetrovská. Genau dort wollten wir auf ihn warten. Denn hier und nur heute galt für uns - erst fragen, dann schießen. Genau das wollten wir dann auch machen. Aber erstmal mussten wir hier auf Vaclav warten.
Prag, 26. Juni 1984
ul. Fetrovská, 19:15 Uhr - 22:15 Uhr
Er war der Profi. Er zeigte das auch jedem. Es war nicht einfach für uns, ihm zu folgen. Er nutzte alle Tricks und alles gelernte, um Verfolger zu erkennen und abzuschütteln. Das Ziel seiner Reise war uns aber bekannt.
Juri und ich schwammen deshalb auf dem Weg zur Metro im Strom der Heimkehrenden mit. Wir ließen cirka einhundert Meter zwischen ihm und uns. Als die Linie A einfuhr, warteten wir bis zum Abfahrsignal und stiegen dann erst ein. Vaclav war ohne Zweifel auf dem Weg nach Hause. Er versuchte nicht, im letzten Moment die Metro zu verlassen.
Wir erreichten die Endstation Leninova, verließen die Metrostation und gingen auf der ul. Leninova Richtung Vitězné namestí, umrundeten diesen, bis wir den von der Botschaft gestellten Wolga sahen, stiegen ein und fuhren bis zur ul. Fetrovská. Vor seiner Wohnung wartete außerdem ein grüner Wartburg. In diesem saßen zwei Angehörige des StB.
"Zielperson noch nicht eingetroffen."
"Danke, ihr könnt jetzt Feierabend machen, ab jetzt übernehmen wir. Sollte irgendwas durchsickern, oder Pavlik einfach verschwinden, dann gibt es erst eine Einladung nach Moskau und dann im Hof der Lubjanka einen sieben Gramm schweren Expressbrief aus Blei in den Hinterkopf, verstanden?!"
Das verstanden die armen Kerle und sahen zu, dass sie so weit wie möglich von hier wegkamen. Für uns hieß es dann nur noch warten. Warten war in diesem Job so ziemlich das schlimmste.
Lange mussten wir nicht warten. Er traf gegen halb neun ein. Klar nutzte er nicht den direkten Weg zur Wohnung, dafür war er Profi genug, um nicht einen dummen Anfängerfehler zu machen. Für mich ist es immer unterhaltsam, zu sehen welche Methoden andere Agenten anwenden, um unerkannt zu bleiben.
Mir zum Beispiel wäre es im Traum nie eingefallen, zweimal den Wohnblock zu umrunden und dann erst ins Haus zu gehen.
Ich hätte im Treppenhaus gewartet, denn dann wäre das folgende garantiert nicht mit mir passiert.
Wir warteten weitere zwanzig Minuten, dann folgten wir ihm. Dank früherer Besuche hatten wir Zweitschlüssel von der Eingangs-, als auch von der Wohnzimmertür. Das machte uns die ganze Sache ziemlich einfach.
Langsam gingen wir die Treppen zum sechsten Stock hoch. Verharrten an der Wohnungstür von Pan Pavlik, steckten den Schlüssel ins Schloss, schlossen die Tür auf, traten zur Seite - und warteten erneut. Dass das die richtige Entscheidung war, zeigte sich einen Wimpernschlag später, denn Pan Pavlik bgrüsste uns mit sechs Schüssen aus einer mit einem Schalldämpfer versehenen Vz.82 Pistole.
Juri und ich belegten den Eingangsbereich der Wohnung mit Kreuzfeuer, uns war es ziemlich egal, dass unsere Waffen keinen Schalldämpfer hatten und gingen gemeinsam vorrückend in die Wohnung. Ein kurzer Tritt gegen die Tür, dann war die zu und wir widmeten Vaclav Pavlik unsere Aufmerksamkeit. Der saß erst etwas verstört im Eingang, getroffen hatten wir ihn nicht, denn Oberstleutnant Khulov wollte ja noch Informationen haben, dann erkannte er, wer da zu so später Stunde zu Besuch war, erbleichte und schloss mit seinem Leben ab. Gerade als er seine Vz.82 an die Schläfe heben wollte, holte Juri aus und warf ihm die Makarov zwischen die Beine.
Unkonventionell aber erfolgreich.
Wir packten ihn an den Oberarmen und zogen ihn in die Küche, setzten ihn auf den Küchenstuhl und warteten.
"Untersuch seinen Mund, wir wollen doch nicht, dass er auf eine versteckte Kapsel beißt! Aber lass die Zähne drin, Juri!"
Juri knurrte nur etwas unverständliches, machte sich an die Arbeit, fand aber nichts. Da Vaclav etwas benommen war, nahm Juri einen Eimer, füllte diesen mit kaltem Wasser und kippte den Inhalt in Vaclavs Gesicht.
"Schön das Du wach bist. Dann können wir endlich reden."
"Ihr zwei kommt doch nie zum reden!"
"Dieses Mal schon. Lass uns das ganz schnell zu Ende bringen, dann tut es auch nicht zu sehr weh. Aber glaube mir eins, das letzte, was Du heute noch erleben willst, ist ein missgelaunter Kashtan. Also..."
Er erwies sich als wenig kooperativ. Also mussten wir da etwas helfen.
Juri seufzte und ging ins Badezimmer. Zurück kam er mit dem Verbindungsstück welches vom Duschkopf in die Wasseramatur ging.
"Das wird gleich höllisch weh tun! Also, sag uns was wir wissen wollen und Du umgehst diesen Schmerz." Trotz allem versuchte ich höflich zu bleiben.
"Wenn Du nicht reden willst, dann erzähle ich eine kleine Geschichte. Du nickst nur, oder schüttelst den Kopf. Einverstanden?"
Keine Reaktion.
"Na los, Juri!"
Falls er irgendetwas gespürt hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Wir waren in unserer Ausbildung durch einige Stufen des Schmerzes gegangen, aber jeder hat irgendwann seine Schmerzgrenze erreicht. Zumindest in einer Sache war die Zusammenarbeit mit den Chinesen wirkungsvoll. Juri lernte in Peking viele verschiedenen Möglichkeiten, Informationen zu entlocken. Das setzte er nun auch ein.
"Ich lass euch beide jetzt allein, mach ihn nicht kaputt Juri. Wir brauchen etwas verwertbares. Vaclav, Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich hier etwas umsehe?"
Ich ging in sein Schlafzimmer und sah mich um. Das war die Wohnung eines Angehörigen des Sicherheitsdienstes. Auf den ersten Blick würde mir die Wohnung nichts verraten. Ich drehte mich einmal langsam im Kreis und nahm alles in Augenschein.
Das Bücherregal
.
Je länger ich das Regal betrachtete, desto mehr wurde mir klar, dass irgendwo dort die Lösung war. Wo versteckte man am besten einen Baum? Richtig - im Wald.
Karl Marx und Friedrich Engels - Das kommunistische
Manifest
. Das konnte es sein. Das musste es sein. Ich nahm das Buch das Buch aus dem Regal und wog es vorsichtig in meiner Hand. Das Gewicht war nicht das eines Buches. Das Buch war schwerer. Nun gab es zwei Möglichkeiten.
1. Alle Seiten des Buches waren zusammengeklebt und dann wurde in die Mitte des Blocks ein Rechteck geschnitten, um etwas darin zu verstecken. Aktenkopien, Fotokopien, Abhörprotokolle, oder aber,
2. Dieses Buch wurde benutzt, um einen Code zu dechiffrieren. Man brauchte dazu einen bestimmten Buchstaben eines bestimmten Wortes einer bestimmten Seite. Hatte man das alles, war es einfach eine chiffrierte Nachricht zu lesen. Das war aber zu einfach. Zu offensichtlich. Was hätte ich gemacht? Ich hätte alle Seiten dieses Buches verklebt, ein Rechteck hinein geschnitten, in dieses Rechteck Semtex gelegt, an den Buchdeckel einen Zünder befestigt, dieses Zünder mit dem Semtex verbunden und wenn jemand das Buch öffnet, macht es BUMM. Sprengfalle nennt man das.
Also stelltet ich das Buch wieder zurück ins Regal und suchte weiter.
Eine Statue von Wladimir Ilitsch Lenin
.
Diese stand auf dem Schreibtisch. In der linken hinteren Ecke. Die Statue stand auf einem hölzernen Sockel. Wieder fielen mir Oberstleutnant Khulovs Worte in der Ausbildung ein.
"Schließt immer das Offensichtliche aus. Nichts ist wie es scheint. Nirgendwo. Niemals."
Also lag es nicht am oder im Sockel. Ich trat näher an den Schreibtisch heran, setzte mich und schaute Wladimir an.
"Na los, verrat mir Dein Geheimnis!" Das tat er natürlich nicht freiwillig. Irgendwo musste es aber einen Mechanismus geben, der Wladimir zum Leben brachte.
Ich konnte natürlich alles versuchen und irgendwo etwas finden, das bewirkte, dass irgendwas zum Vorschein kam. Aber genau vor diesem irgendwas hatte ich Respekt.
Denn während meiner Ausbildung verbrachte ich zwei Monate bei der Sowjetarmee. Genauer gesagt in der Pionierschule der Sowjetarmee. Dort lernte ich, dass man aus den kleinsten Sachen, böse Sachen machen konnte. Es gab nichts auf dieser Welt, was sich nicht als Sprengfalle verwenden ließ! Eine Sprengladung ließ sich zünden auf Druck, auf Zug, oder elektrisch. Drehte ich also am Sockel entstand durch die Drehbewegung ein Zug. Nahm ich die Staute in die Hand passierte nichts, stellte ich sie aber wieder auf den Schreibtisch zurück, hatte ich ihr genau den Druck gegeben, den sie brauchte um die Wohnung Straßeneben zu machen. Einen elektrische Zündung schloss ich aus, da die Klingel das einzige Objekt war, dass geeignet war, den elektrischen Impuls zu senden. Blieb mir nur noch eine Möglichkeit: Ekatarina Medwedjewa musste her. Da sie in der Vergangenheit mit dem Aufspüren von Dissidenten beschäftigt war, wusste sie, wie man eine Wohnung durchsuchte, die nichts verraten wollte. Da die Herren von Bild und Ton natürlich auch in dieser Wohnung waren, konnte Oberstleutnant Khulov in der sowjetischen Botschaft jedes Wort mitverfolgen.
"Genosse Oberst, ich brauche Ekatarina Medwedjewa hier. Sofort!" Ich wusste, dass er mich hörte und konnte mich darauf verlassen, dass sie innerhalb weniger Minuten hier sein würde.
"Aha. Der große Orion braucht Hilfe!" Das klang nicht spöttisch, eher feststellend. "Ja, Katja, ich brauche Deine Hilfe. Die Wohnung will mir nichts verraten." Ich drehte mich um - und war mal wieder gebannt von ihrem Anblick.
"Da Du ja mal im fünften gearbeitet hast, hast Du ja Erfahrung mit Wohnungen, die nichts sagen wollen. Hier haben wir sowas."
Sie nickte, sah sich um. Sie ging in etwa genauso vor wie ich, aber sie ließ Bücherregal und Wladimir Ilitsch in Ruhe und wandte sich dem Schreibtisch zu. Sie bückte sich, zog die unterste Schublade heraus, ließ diese auf den Boden fallen und blickte dann in das entstandende Loch. Griff hinein und hatte einen rostigen Schlüssel in der Hand.
Sie stand wieder auf, hob den Kopf und bewegte diesen einhundertundachtzig Grad. Von einer Schulter zur anderen.
"Wir sind hier fertig. Komm ins Schlafzimmer."
"Oh. Unter normalen Umständen weiß ich das Angebot zu schätzen, Katja. Aber wir haben Arbeit vor uns und außerdem ist Juri noch hier!"
"Idiot. Genau im Schlafzimmer finden wir die Antwort. Glaub mir, unter normalen Umständen, würden wir nicht einmal im Gorki Park spazieren gehen."
Herrlich.
Das saß.
Warum wusste ich genau, dass in diesem Augenblick der Abhörraum im Keller der Botschaft von lachen erfüllt war und die Menge Ekatarina zujubelte?!
"Okay, dann los."
Als wir das Schlafzimmer betraten konnte ich mir einen anerkennenden Pfiff nicht verkneifen. Nicht einmal mein Apartement in Zürich hatte solch einen Luxus. Da war was faul.
"Glotz nicht so blöde, mach was hier. Schieb das Bett zur Seite!"
Bitte? Was war das denn für ein Ton? Das, meine Liebe, klären wir später! Ich tat was mir befohlen wurde und verschob das Bett.
"Sag mir was Du siehst!"
"Einen schmutzigen Teppich." Wenn die halbe Botschaft schon mithörte, sollte sie auch Unterhaltung haben.
"Das ist nicht der richtige Augenblick für dumme Sprüche, aber dafür bist Du ja berühmt."
"Warum beschwerst Du Dich dann?"
"Wie konnte es eigentlick passieren, dass Jana Hudolenková was mit Dir hatte?"
"Sie war eben nicht wählerisch. Es war heiß und wir waren allein. Sie war die einzige Frau in Damaskus, die keinen Schleier trug und deshalb wusste ich wie die Frau aussah, die ich mitnahm. Beantwortet das Deine Frage? Und ja, sie hat nicht gezögert, als ich sie zum Spaziergang im Gorki Park einlud!"
Sie warf mir einen Blick zu, von dem ich dachte, dass er mich auf der Stelle tötete.
"Also nochmal, was siehst Du?"
"Eine verbitterte Frau."
Nun war es an Oberstleutnant Khulov die Party zu beenden.
"Hört ihr Zwei! Alles Private könnt ihr später klären, jetzt kommt endlich voran, ich will Ergebnisse!"
"Da hast Du's Katja!"
Genau in der Mitte befand sich im Teppich ein kleines Quadrat. Genau dort hatte der Tepppich eine andere Färbung. Etwas heller. Ich bückte mich und fuhr mit den Fingerspitzen über das Quadrat. An drei von vier Stellen spürte ich etwas rauhes, als ob jemand ein Messer benutzt hat und dort den Teppich angeschnitten hatte.
Bingo.
Ich hob dieses Quadrat an und ein kleiner Tresor kam zum Vorschein.
"Du hast den Schlüssel, Katja, schließ auf."
Alles was im Tresor war, kam in einen Sack. Jedes Stück Papier, jeder Staubkrümel, einfach alles. Wir beschafften das Material, zum Auswerten waren andere da. Es war fast halb elf Uhr abends als wir fertig waren. Zeit zum Abflug.
Wo war Juri?
In der Küche.
"Juri, komm! Wir sind fertig hier. Wir haben alles. Wie geht es Vaclav?"
"Er kommt wieder auf die Beine. Irgendwann."
"Lebt er noch?"
"Ja."
"Pack ihn mit ein. Den nehmen wir auch mit. Nach Moskau."
Wir gingen die Treppe hinunter. Setzen uns in den grünen Wartburg und fuhren zur sowjetischen Botschaft.
Ein gutgelaunter Oberstleutnant Khulov erwartete uns bereits.
"Ich bin sehr stolz auf euch. Der Genosse Tschebrikow übermittelt seine Glückwünsche. Sehr gut gemacht."
Juri und ich saßen danach in der Botschaftsküche und gingen unseren Gedanken nach. Es war vorbei. Ich konnte zurück nach Zürich. Der Gedanke daran ließ mich lächeln. Ich trank einen Schluck Pilsener Urquell und war zufrieden. Dass das Leben als Geheimdienstler nicht immer so fein ist, bekam ich dann drei Monate später zu spüren.
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2009
Alle Rechte vorbehalten