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Ich sehe sie aus dem Fenster schauen. Nur noch der Kopf scheint über die Fensterbank zu reichen, klein und verhutzelt hockt sie da, die altmodische Gardine im Rücken, die meine Oma noch Stor nannte, die Sorte von Gardine, die absolut blickdicht sind, so ein graues, verschleiertes Licht im Raum produzieren, alles von draußen abhaltend. Da hockt sie und schaut auf die Straße, in der nicht viel passiert, da nur Wohnhäuser. Sie scheint zu warten, schaut auf und ab, als ob da gleich jemand käme, der sie besuchen will, mit dem sie ausgehen kann, der mit ihr Kaffee trinkt. Aber es kommt niemand, und deshalb frage ich mich oft, auf was oder wen sie wartet. Ich gehe vorbei, will ins Haus, und winke ihr hoch, sie erkennt es graustarig nicht, ich gehe ein Stück zurück, winke überdeutlich, fast grotesk verrenkt, bis sie mich bemerkt, scheu die Hand nach links und rechts bewegt, andeutend, dass sie mich erkannt hat, obwohl ich da nicht so sicher bin.

Ich wohne unter ihr. Von ihr ist fast nie etwas zu hören, kein menschlicher Laut dringt aus ihrer Wohnung, weder in meine, noch in das Treppenhaus. Nur das beginnende Schleudern ihrer Waschmaschine zeigt an, dass noch Leben in dieser Wohnung, dass da jemand den Knopf gedreht hat, den Wasserhahn geöffnet.
Selten verlässt sie die Wohnung, oft tagelang nicht. Davon zeugt auch der überquellende Briefkasten (manche Briefe noch an ihren seit 30 Jahren gestorbenen Mann adressiert), der sie nicht interessiert, nicht kümmert, als solle nichts von dem Leben da draußen ihr Drinnen stören, belästigen. Selbst im Frühling, beim Wiedererwachen des Lebens, von dem die erste sanfte leichte Brise kündigt, die ersten schüchternen Sonnenstrahlen zeugen, bleiben alle Fenster geschlossen, wird zusätzlich noch das Rollo heruntergelassen, draußen soll draußen bleiben, nicht nach drinnen kommen, sollen getrennt bleiben, abgeriegelt, hermetisch.

Nur die drohende Zigarettenneige oder ein Arztbesuch öffnen kurz die Drinnen-Draußen-Grenze, kündigen sich durch ein durchdringendes Knarzen der Tür an; sie gehört längst abgeschliffen, an die sich gehobenen Fliesen angepasst, niemand stört es. In dem Moment, wo man schon meint sich geirrt, sich verhört zu haben, deutet ein schwaches Ächzen der alten Holztreppe, ein „krr, krr“ der einzelnen Stufen an , dass sie doch die Wohnung verlassen hat. Letztendliche Gewissheit stellt sich kurze Zeit später ein, wenn sich dieser ganz bestimmte Geruch unter meiner Wohnungstür hindurchschlängelt, wie osmotisch, da bei mir die Konzentration viel geringer, dieser Geruch nach 50 Jahren Zigarettenqualm und geschlossenen Fenstern, nach säuerlichem Muff, dessen Ursprung ich zunächst gar nicht zuordnen kann. Sie ächzt sich dann die Treppe herunter, die Stufenbretter ächzen gleichlautig mit, beide fast im selben Alter, um dann unten ihr Rollwägelchen aus dem Haus zu drängen, drücken, wuchten bis die Rollen ebenen Boden spüren. Dann zittert sie ängstlichen Schrittes Richtung Kiosk oder Praxis, so klein, so verschwindend, als würde sie gleich in den Boden hineingehen.

Nur einmal in der Woche, da kommt das Draußen in ihr Drinnen, wenn sie Besuch von ihrer Tochter bekommt, die in einer anderen Stadt wohnt, praktischerweise so weit entfernt, dass mehr als ein Besuch pro Woche nicht gesellschaftlich erwartet wird. Vielleicht wartet sie ja auf ihre Tochter, wenn sie da am Fenster hockt, vielleicht meint sie, sie habe sich im Tag vertan oder hofft, dass die Tochter zu einem Spontanbesuch kommt.
Wenn das Draußen da ist, dringen auch Geräusche aus der Wohnung, die Stimme der Tochter, da sie nicht nur graustarig sondern auch grauhörig und alles dreimal in Flugzeugdezibel gesagt werden muss. Aber sobald das Draußen die Wohnung wieder verlassen hat, das Drinnen wieder abgeriegelt wurde, kehrt wieder diese totale Stille ein, diese unnatürliche, bei der man dankbar für das Waschmaschinenschleudern ist.

Manchmal kommt sie vom Einkauf mit zwei mickrigen Taschen, die sie auf das Rollwägelchen gehoben hat. Wenn ich dann gleichzeitig nach Hause komme, oder auch schon mal wenn ich sie höre, biete ich mir meine Hilfe an, die sie meist gerne annimmt. Dann darf ich ihr die Taschen in den ersten Stock tragen, vertraut sie mir ihren Haustürschlüssel an, sicher ein großer Vertrauensbeweis, die Grenze zu öffnen, zu überschreite. Sie kommt langsam nachgeächzt, ich schließe die Tür auf, verharre einen Moment, wenn das Schloss aufschnappt, da ich weiß, dass ich jetzt gleich die Luft anhalten muss, dass dieser osmotische Geruch sich gleich meines Körpers bemächtigt, merkt dass meine Geruchskonzentration viel geringer ist, dass er gleich in sämtlich Zellen diffundieren darf. Langsam und vorsichtig versuche ich wieder zu atmen, versuche meine Lungenbläschen zu gewöhnen, wie gesagt Zigaretten und dieser säuerliche Geruch. Ich gehe in die Küche und stelle die Taschen auf den Küchenstuhl. Die Küchenschränke sind wirr zusammengewürfelt. Auf dem Tisch eine dieser Plastikdecken, die beim ersten Funken sofort lichterloh brennen, unter der Decke holzimitierende Kunststoffpanelen, darunter eine runde Neonröhre, die OP-Licht verströmt. Auf dem Tisch stehen hunderte von Schächtelchen, gefüllt mit Tabletten, Pillen, Kapseln, rote, blaue grüne, alle verschieden, einzunehmen zu den unterschiedlichsten Zeitpunkten. Einmal hatte ich sie gefragt, wofür die alle seien, und erst nach einer Stunde konnte ich den Redeschwall bremsen, die Wirkungsweise jede einzelnen Tablette konnte sie beschreiben, wann sie zu nehmen sind, wogegen oder wofür sie ist.

Die Wohnung besteht noch aus drei weiteren Räumen, dem vormals ehelichen Schlafzimmer, an dessen Fenster sie immer wartet, dann noch zwei andere Räume, ein weiteres Schlafzimmer und ein Wohnzimmer, beide gänzlich unbenutzt, wie in einem 50er-Jahre-Museum und vollgestellt bis oben hin, dass man in dem Raum keinen Schritt mehr tun kann.

Sie hatte mich zu ihrem letzten Geburtstag eingeladen, ihrem 85., weil ich immer so hilfsbereit sei. Vielleicht der letzte, sagte sie, Altenstandardspruch. Zusammen mit ihrer Familie durfte ich dann in einer gutbürgerlichen Gaststube ihrer Feier beiwohnen. Sie bekam von dem Gespräch nichts mit, sie sieht auch kaum jemanden, nicht nur wegen des grauen Stars. Ihr zucken immer die Augenlider, anscheinend unkontrollierbar, ihrem Willen entzogen. Auf meine Frage antwortete der pharmazeutisch gebildete Enkel, dass dies von jahrelangem Medikamentenmissbrauch käme, die Hausärzte hätten ihr immer Antidepressiva aufgeschrieben, prophylaktisch.

Mittlerweile hat auch sie sich hochgeächzt, kommt in die Küche, und ich habe schon die Frage auf den Lippen, auf wen sie denn am Fenster sitzend immer so wartet. Aber dann traue ich mich das doch nicht zu fragen, zu intim, vielleicht begreift sich mich auch gar nicht.
Vielmehr kommt mir das unbestimmte Gefühl, dass in dieser Wohnung noch jemand anderes ist, ein anderer wartet. Einer der Blut geleckt hat, nein jetzt beginne ich zu verstehen, der säuerlichen Muff gerochen hat. Er scheint ihm anzuzeigen, dass hier bald was zu holen ist, wie eine Aasgeier, der um seine verletzte Beute kreist, bis sie ganz hin ist, wie eine Hyäne, die gackernd und überlegen grinsend auf die schwächer werdende Kreatur wartet. Er sitzt im Wartezimmer des Bahnhofs, und wartet darauf, ob der Zug noch abfährt, ob dieses alte Lok, die eh keinen Passagier mehr befördert, kaum noch von A nach B kommt, voll abgeschrieben ist und ökonomisch wertlos, endlich vom Fahrplan gestrichen werden kann, das Gleis nicht mehr unnütz belegt.

Mir läuft ein Schauer über den Rücken, ich gebe ihr den Schlüssel, mache mich vom Acker, ziehe die Tür fest hinter mir zu, ganz fest, bloß kein ihr-Drinnen in meinem Drinnen, vergewissere mich, dass sie auch zu ist, ziehe in meiner Wohnung alle Klamotten aus, schmeiße alles so komplett in die Waschmaschine, viel blütenduftender Weichspüler, mich schüttelt´s trotzdem noch.

Wenn ich jetzt am Haus vorbeigehe, meine ich hinter dem Fenster zwei Wartende zu sehen, sie und eine Ahnung von ihm, die mich siegesgewiß über ihre Schulter angrinst. Ich weiß nicht, ob sie ihn sehen kann, ich hoffe nicht. Oder gerade doch, vielleicht ist er es ja, auf den sie wartet.


Impressum

Texte: aus dem Erzählband "Urlaubsblues"
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2008

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