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Noch hat er die Augen geschlossen. Aber er weiß es nicht. Denn er weiß nicht, was Augen aufmachen bedeutet, was Sehen ist, was überhaupt Augen sind. Ganz langsam muss er sich erst daran gewöhnen, dass er diese Dinger hat, um die Welt wahrzunehmen. Versuchweise öffnet er die Lider, ohne auch sie bezeichnen zu können, nimmt zunächst nur Helles war, dann langsam ein paar Schatten, Umrisse, alles verschwommen. Manchmal taucht etwas Rundes in seinem Blickfeld auf, etwas, das Geräusche absondert, Töne, die er nur verschwommen wahrnehmen kann. Natürlich weiß er auch noch nicht, was Hören ist, was Ohren sind.

Doch er lernt schnell und als seine Augen das erste Mal schärfer sehen, Konturen erkennen können, sieht er dieses komische Gebilde, diese Schlange, die anscheinend nach oben führt, sich aber eigenartig abwärts bewegt. Noch darf er Beobachter bleiben, die Zeit scheint noch nicht reif.

Bald aber verändert sich seine Perspektive, er wird heruntergelassen – er empfindet es als heruntergestoßen – von den Armen seiner Mutter und muss diese Schlange von unten betrachten. Sie erscheint ihm plötzlich viel größer, viel länger, viel bedrohlicher.
Irgendwer – Mutter, Vater, Oma, Opa, einfach alle - versucht ihn näher, immer näher an sie heranzuführen, nimmt seine Hände und zieht und schiebt ihn in ihre Richtung; er will nicht richtig, aber es gibt kein Pardon. Nun kann er auch erkennen, dass sie sich bewegt, und zwar in seine Richtung, dass sie Stufen hat, die von oben aus dem Nichts ihm entgegenkommen und dann anscheinend im Boden versinken. Irgendetwas erscheint ihm falsch zu sein.

Weiter wird er in Richtung der Stufen gedrängt, immer fordernder, er will nicht richtig, hat Angst, setzt trotzdem seinen Fuß auf die erste sich bewegende Stufe, fällt hin, alles lacht, er hat sich weh getan. Schnell hilft man ihm auf, nur eine kurze Verschnaufpause, dann wird er wieder Richtung Stufe gedrängt, er sucht einen Ausweg, sucht einen Weg außen herum, es gibt ihn nicht.

Mit zunehmender Übung kann er sich halten, läuft auf die erste Stufe, fällt nicht hin, kann auf die zweite springen bevor die erste im Boden versinkt, schafft die dritte, bevor die zweite verschwindet, fällt hin, steht schnell wieder auf, so langsam macht es ihm Spaß.

Er gewinnt an Höhe, immer selbständiger erklimmt er die Stufen entgegen der Fahrtrichtung, entfernt sich von dem Plateau, in dem alles verschwindet, schaut nicht zurück. Mit zunehmender Kraft fällt es ihm leichter, geradezu leichtfüßig überspringt er die Stufen, nimmt zwei auf einmal, der Sog nach unten kann ihm nichts anhaben, meint, bald hinter das Ende der obersten Stufe schauen zu können. Er wird neugierig, weiß nun, dass man sie eine Rolltreppe nennt, will jetzt weiter, meint, stärker als die Abwärtsbewegung zu sein, die kann mir nichts, hört man ihn sagen, ich werde das Ende entdecken, hinter die letzte Stufe schauen. Dass sie abwärts fährt, nimmt er nicht mehr war.

Jetzt kann er auch die anderen Abwärtstreppen sehen, andere Menschen, die nach oben streben, manche auf seiner Höhe, manche über ihm, manche unter ihm, alle versuchen nach oben zu gelangen.

Immer weiter scheint es für ihn zu gehen. Da! Er fällt. Zum ersten Mal seit seinen ersten Versuchen als alle gelacht haben. Er verliert ein wenig an Höhe, fährt ein Stück nach unten, aber schon rappelt er sich hoch, macht den verlorenen Boden wieder gut, gewinnt weiter an Höhe.

Ihm fällt weit hinten eine Treppe auf, auf der ein Mensch nicht weiter nach oben kommt, einer der nach unten fährt. Er vergisst es wieder.

Langsam, unmerklich für ihn, vermindert sich sein Tempo, er kommt nicht mehr so schnell vorwärts, es bedarf eines größeren Kraftaufwandes, aber wie gesagt, er merkt es nicht, vorerst.

Neben ihm taucht eine leere Rolltreppe auf.

Da fällt er ein zweites Mal hin. Man, geht es da rasant runter, er kommt gar nicht so schnell hoch, schnauft ganz schön, will sich ausruhen. Aber schon muss er weiter, hat sich berappelt, nur wieder nach vorne laufen, nur nicht an Höhe verlieren. Er müht sich, strengt sich an, trainiert und schafft den Rückstand aufzuholen, schafft es, weiter nach oben zu kommen.

Er vergleicht sich mit den anderen Rolltreppen, schaut, wo die anderen stehen, auf welcher Stufe, misst sich mit ihnen, mit denen weiter oben, versucht sie zu überholen, ein Wettkampf.

Aber etwas in seinem Bewusstsein hat sich verändert. Er registriert nun seine Verlangsamung, die größere Mühe, die es ihm macht. Er ist der oberen Stufe zwar näher gekommen, aber erreicht hat er sie dennoch nicht. Er kann nicht hinter sie schauen, weiß nicht wonach er strebt. Zum ersten Mal kommen ihm Zweifel, ob er es schafft, das Ende zu entdecken. Nun bemerkt er auch wieder, dass die Rolltreppe abwärts fährt und wundert sich darüber. Er verdrängt den Gedanken.

Wiederum unbemerkt wird sein Tempo noch langsamer. Er ist nicht faul, nicht unwillig, nein, ganz im Gegenteil, er müht sich, nimmt jede Hilfe in Anspruch, trainiert, quält sich, um das Tempo zu halten, um nicht zurückzufallen, mit den anderen Rolltreppen mitzuhalten, es nützt nichts.

Jetzt ist sein Tempo gleich null, er kann nur die Höhe halten, ist immer noch von der letzten Stufe weit entfernt, zu weit, um dahinter zu schauen, weiter nach oben geht es für ihn nicht. Er merkt, dass er nicht mehr genügend Kraft hat, dass sie nur noch ausreicht, um diese elende Höhe zu halten, dass ihm das schon fast zu viel ist. Er wird müde und spürt die Bewegung von oben nach unten, den Sog, den die Treppen ausüben. Zum ersten Mal spürt er das, wie überheblich war er früher. Verfluchte Stufen, verfluchte Treppen, verfluchtes Abwärts, hadert er mit sich, mit der Treppe, ja mit wem eigentlich?

Da, jetzt geht es das erste Mal zurück. Er will es nicht wahrhaben, ist wütend, unternimmt alles, es hilft nichts, langsam aber sicher verliert er an Höhe. Er schließt die Augen.

Er merkt, wie angestrengt er ist. Der Motor läuft auf Hochtouren, die aber nicht mehr die Höchstleistungen erbringen, die er mal erbracht hat. Wut kommt ihn ihm hoch. Schon die Hälfte seines mühsam erarbeiteten Weges hat er verloren, die Hälfte seines Erreichten aufgebraucht, die Höhe, die er so sehr verteidigt hat, muss er immer weiter aufgeben.

Er merkt das Rucken der Stufen. Es lässt ihn wackeln, unsicher auf den Beinen sein. Er muss sich festhalten, muss sich festhalten lassen. Wie oft er mittlerweile gestürzt ist kann er schon nicht mehr zählen. Während eines jeden Sturzes ging es ein rasantes Stück hinunter, der obersten Stufe ferner denn je, der ersten, dem Anfang - jetzt dem Ende -, näher denn je. Ein letzter Kraftakt, mit dem er sich gegen das elende Abwärts wehrt, mit dem er sich auf der untersten Stufe zu halten versucht. Nicht aufgeben, nur nicht die letzte Stufe aufgeben. Er verzweifelt. Er hat Angst.

Noch ein Sturz beraubt ihn seiner Hoffnung. Da liegt er an der Stelle, an der die erste Stufe, die zugleich auch seine letzte ist, im Boden versinkt, nie mehr erscheinen wird, für immer verschwunden. Die Stufe, auf der er zuletzt gestanden haben wird.

Nun hilft ihm auch niemand mehr auf, hebt ihn niemand mehr hoch, drängt ihn zu dieser ersten, letzten Stufe, will, dass er sie betritt. Aus eigener Kraft schafft er es nicht mehr. Seine Augenlider werden schwerer, immer wieder muss er sie schließen, die Abstände bis zum nächsten Öffnen werden immer größer. Bald kann er sie gar nicht mehr öffnen, er ist zu schwach dazu, sie bleiben einfach geschlossen und er vergisst, muss vergessen, was Augen sind.

Impressum

Texte: aus der Erzählsammlung "Urlaubsblues"
Tag der Veröffentlichung: 17.09.2008

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