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Sehnsucht



Ich habe Sehnsucht nach diesem Kessel, eingequetscht zwischen den Hügeln, durchschnitten von der Wupper, die die Bezeichnung Fluss kaum verdient.

Ich gehe blindlings nachts durch die Straßen, kenne mich aus, fühle mich zu Hause, weiß, was nach der nächsten Ecke kommt. Hier habe ich sieben Jahre gewohnt, gelebt und die Stadt ist zu meinem zu Hause geworden. Ich habe eine Beziehung zu ihr aufgebaut, bin mit ihr befreundet, in sie verliebt, verheiratet, wie man das auch immer bezeichnen will. Sie gibt mir Sicherheit, ich habe nie Angst in ihr, obwohl auch hier Russen- und Türkengangs aufeinander schießen, die Gathe mit Geldwäschersexläden und –imbissen vollgestopft ist. Erklären kann ich dieses Gefühl nicht.

Ich habe Sehnsucht nach diesen steilen Straßen, nach den bergigen Parks, nach den tiefhängenden grauen Wolken, aus denen es ständig regnet.

Schön ist sie wirklich nicht, ich will ehrlich sein, sie ist hässlich. Der Krieg hat viele Wunden in jede Straße gerissen, wie Zahnreihen mit vielen Zahnlücken muss sie ausgesehen haben, muss auf der Felge gebissen haben. Nach dem Krieg hat man notdürftig diese Lücken wieder gefüllt, aber nicht mit Emaille verblendet sondern das nackte Metall aus Geldnot stehen lassen. Und so sieht man die Zahnlücken auch heute noch, obwohl keine mehr da sind. Die Lückenfüllungen sind in die Jahre gekommen, ihnen ist nicht mehr zu helfen, man kann nur noch vertuschen.
Trotzdem fühle ich mich hier zu Hause, geborgen, die Stadt ist ehrlich zu mir, sie gaukelt mir nichts vor.

Ich habe Sehnsucht nach ihrer Nacht, nach dieser blinden Vertrautheit, mit der ich mich durch die Straßen bewege, in denen ich allein sein kann ohne einsam zu sein.

Heute wohne ich nicht mehr hier, habe diese Beziehung zu Gunsten einer anderen aufgegeben ohne die Stadt zu betrügen, leide aber immer noch unter dem Trennungsschmerz, kann nicht vor ihr lassen, spüre die Verbindung noch, wehmütige Erinnerungen kommen immer wieder hoch.
Jedes Mal wenn ich da bin, fahre ich mit der Schwebebahn von Endstation zu Endstation. Hier lässt die Stadt ein Blick von hinten zu, zeigt sich noch ungeschönter, die ehrlichen Hausrücken, die unverstellten Fabrikhöfe. Die Fahrt ist weniger ein Schweben, wie der Name vielleicht vermuten lässt, es ist mehr ein Rattern und Krächzen und Ächzen an einem Gerüst hängend, das sich wie eine Krake an der Böschung der Wupper entlanghangelt. Beim Anfahren ruckt es, beim Halten wackelt sie hin und her, dass man beim Aussteigen zu stürzen droht, keine Stufe wird erhöht für Rollstuhlfahrer, keine Ebene angeglichen für ältere Leute. Mich stört es nicht, ich liebe dieses Transportmittel, horche immer, wenn ich unter der Stahlkrake hergehe, nach dem nächsten Quietschen, das eine Bahn ankündigt, die dann unter tosendem Lärm über mich hinwegbrettert.

Ich habe Sehnsucht nach diesem Unterführungstunnel zwischen City und Bahnhof, diesem Ärgernis, dieses Dreckloch, dass gekachelt ist wie ein Schlachthof, in dem die Bettler pissen und ihr Gestank hängen bleibt, in dem Werbekästen ihre eigene Werbung nicht ernst meinen.

Im Studium habe ich gelernt, dass die Stadt trotz ihrer Größe kein regionales Zentrum sein kann, zu bedeutungslos ist und immer bedeutungsloser wird. Das sieht man an jeder Ecke. In der Einkaufspassage verabschiedet sich ein Einzelhändler nach dem anderen, macht den 1- €-Geschäften Platz, aber nicht lange, dann ist die Erde endgültig verbrannt und es bleibt nichts übrig als mit Pappkarton notdürftig abgehangene Schaufenster. Ich wandere die Plätze meiner Lieblingskneipen ab, viele gibt es schon nicht mehr, haben gegen Hartz IV verloren. Wie viele Abende habe ich hier verbracht, habe sinniert und gedacht. „Hör das Denken auf“, hat Makbule immer zu mir gesagt; was habe ich ihre Kneipe geliebt, es war eine eigene Welt, meine Welt, die mich vor dem Draußen abschirmte.

Ich habe Sehnsucht nach der Hardt, diesem einzigartigen Park, den man ohne Bergsteigerausrüstung fast nicht erklimmen kann, nach der Magnolie im Frühling und den Rabatten in Sommer, in die die Stadt ihre letzten Euros investiert.

Ich schlendere an dem Haus entlang, in dem ich zur Miete gewohnt habe, schau auf das Klingelschild, weiß noch genau, wo mein Name stand. Die Fassade blättert ab, sie gehört gestrichen, eher grundsaniert, auf dem Bürgersteig fliegt Müll herum, die Straße voller Schlaglöcher. Trotzdem könnte ich sofort nach dem Schlüssel suchen, die wohlbekannte Treppe heraufgehen, blind die Wohnungstür aufschließen, ich würde mich noch immer auskennen, würde mich in mein Bett legen und selig einschlafen. Würde am nächsten Tag aufwachen und nahtlos den Weg zum Bahnhof finden, der diesen kleinen Berg herabführt, vorbei an dem stinkenden Imbiss, die Klotzbahn hinunter, an der Pennerin, die schon morgens um halb sieben ihre marxistischen Botschaften durch die Stadt krakeelt, durch die Fußgängerzone hin zu meiner S-Bahn, die mich zur Arbeit bringt.

Ich habe Sehnsucht nach dieser Großkotzigkeit, die die hässlichste der hässlichen Straßen „Wolkenburg“ nennt, an der alle Züge durch die Stadt rattern, da in dem Tal nur Platz für vier Gleise, an der kein renoviertes Haus, ansonsten nur Schlaglöcher.

Ich gehe in die „Marlene“, die Kneipe, in der ich wohl hunderte Wochenenden zusammen mit Fußfetischisten, Gehörlosenstammtischen, singenden Pennerinnen, stinkenden Bettlern verbracht habe, in der wir auf das Sperrstundengekrähe „die letzten Biere“ von Marlene, bürgerlich Uwe, dem Wirt im Brautkleid, gewartet haben. Da war aber noch lange nicht Schluss, Türen und Fenster wurden verschlossen, verhangen, dass man drinnen fast erstickte, dann wurde weiter gesoffen und nur noch halbstündlich stoßweise gegangen.


Ich habe Sehnsucht nach dem Rex, dem Kleinkunsttheater, das sich in einer Seitenstraße versteckt, und nur durch die Eigeninitiative eines einzelnen lebt, nicht aufgegeben hat, überleben will, wie so vieles in dieser Stadt.

Dort, wo die Stadt noch so richtig protzt, im Briller Viertel, wo man das Leben von vor hundert Jahren spürt, sich in einer anderen Zeit verlieren kann, gehe ich durch die wunderschönen Straßen, schaue auf meterhohe Stuckzimmerdecken, in riesige Parks, auf pompöse Eingangspforten. Hier spürt man diese vornehme Stille, die die Villen der Großindiustriellen vergangener Zeiten erwarten. Nahtlos kommt man dann wieder auf der Hauptachse, die das Tal durchschneidet, heraus, geht im tosenden Verkehrslärm unter, hustet wegen der Abgase. Ich gehe diese grauen Häuserzeilen entlang, von ihren Eigentümern vernachlässigt, aufgegeben, da eh keine Chance.

Ich habe Sehnsucht nach den endlosen Treppen, die überall hinführen und jeden außer Atem bringen. Nach diesen unverständlichen Namen, „Tippen Tappen Tönchen“ oder „Pressburger Treppe“ aus der der Volksmund „Pissburger Treppe“ gemacht hat, wer sie einmal hinaufgeschnauft ist, fragt nicht warum.

Ich gehe noch einmal die Gathe herab, für mich der Inbegriff der Stadt, an der man sie erkennt, wo sie am ehrlichsten ist, ihr Aushängeschild, ohne etwas aushängen zu können, habe Tränen in den Augen, weil ich sehe, dass die Stadt stirbt. Sehe Geschäfte, Kneipen, Discos, in denen ich alle gewesen bin, die heute keiner mehr sehen kann, die meine Erinnerungen mitgenommen haben, aber in mir sind sie archiviert. Ich setze mich in mein Auto, das dort parkt, wo ich immer geparkt habe; noch heute finde ich immer einen Parkplatz, wo alle immer schimpfen, keinen zu finden, fahre auf tausendfach gefahrenen Wegen aus der Stadt, sie nimmt ihr Sicherheitsgefühl mit sich, ich kann es nicht festhalten, sofort nach der Stadtgrenze verflüchtigt es sich und ich halte es vor Heimweh kaum aus.


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Tag der Veröffentlichung: 21.10.2008

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