1 Routine
Das Telefon geht mitten in der Nacht. Stefan hat sich immer noch nicht daran gewöhnt. Seit drei Jahren ist er nun Kommissar, hat das ewige Einerlei, den Schichtdienst des kleinen Polizisten verlassen. Dachte er. Aber das eine Einerlei hatte das andere nur ersetzt. Mit den großen, aufregenden Fällen beschäftigt er sich trotzdem nicht. Meist kleine Raubüberfälle, Familienstreitigkeiten mit Todesfolge, Selbstmorde und Versuche dieser waren bisher die Meilensteine seiner Karriere.
Neben ihm liegt Britta. Ruhig und tief schläft seine Frau, seine Sandkastenfreundin, die er vor zwei Jahren geheiratet hat, heiraten musste, wie es sich für den gut erzogenen Sohn, für das provinzielle Korsett, dem er nie entfliehen konnte und eigentlich auch nicht wollte, gehörte. Er hat es gern getan. Das Ergebnis liegt nebenan und schläft ebenfalls. So hofft er zumindest.
Schnell, zumindest so schnell, wie es seine Schlaftrunkenheit erlaubt, geht er ans Telefon und meldet sich mit schwacher Stimme. Es ist der wachhabende Polizist. Wieder einmal eine Leiche auf den Schienen gefunden. Er kennt das schon. Der übliche schaurige Anblick von Leichenteilen, die nicht zueinander zu gehören scheinen, abgetrennte Gliedmaßen, grotesk verrenkt, alles unkenntlich. Die Lage scheint klar. Bleibt nur noch die bittere Aufgabe herauszufinden, um welchen armen Tropf es sich da handelt, wer dieses Leben nicht ausgehalten hat, dann die Angehörigen oder wen auch immer zu unterrichten.
„Ich bin gleich da. Die übliche Stelle?“ fragt er so leise wie möglich in das Telefon, der Antwort fast sicher. In der Nähe der psychatrischen Klinik befindet sich eine Bahnstrecke, an der stündlich die ICEs vorbeirasen. Er hat sich schon oft gefragt, ob die Strecke zuerst da war oder die Klinik. Falls die Klinik, hätte er vollends an dem Verstand der Ärzte gezweifelt, nein, er hätte sie selber in die eigene Klinik einweisen lassen, in die geschlossene. Man hätte ja gleich ein paar Waffen auslegen lassen können, mit Gebrauchsanweisung am besten, wie es am schnellsten geht, ohne zu viel Dreck zu machen. Wäre auch die Krankenkasse billiger gekommen. Diese zynischen Gedanken verdrängt er sofort. Einmal hatte er versucht mit Britta darüber zu sprechen. „Wie kannst Du nur so zynisch sein!“ rief sie empört. Damit war die Diskussion beendet. Und so sammelte die Polizei fast jede Woche menschliche Einzelteile von den Gleisen, Einzelteile die mal ein lebendiges Gesamtes waren, das Freigang hatte, das gar aus der Klinik entlassen wurde, weil die Ärzte es als stabil genug oder geheilt befunden hatten. Stefan hofft nie von diesen Ärzten abhängig sein zu müssen, wie sein Verhältnis zu Ärzten insgesamt gestört war. Alpträume, in denen unfähige Ärzte an ihm rumschnibbeln, bei vollem Bewusstsein, obwohl er eigentlich narkotisiert ist, er dies ständig mit lautem Schreien anmahnt, die Ärzte überhören es, lachen ihn aus, irgendwas in seinem Körper suchen, anscheinend nicht wissend, wo sich dies befinden könnte.
„Nein, nicht am selben Ort wie immer. Zwar auf derselben Strecke, aber 5 km vorher, außerhalb der Stadt. Dort führen die Gleise durch ein kleines Wäldchen. Muss eine Weile vorher gelaufen sein. Ziemlich unverständlich. Wir müssen aber schnell raus, damit der Zugverkehr weiterlaufen kann. Soll ich den Staatsanwalt benachrichtigen?“ macht der wachhabende Polizist Stefan nun völlig wach. In ihm beginnt das übliche Programm abzulaufen, jeder Schritt schon oft getan. Wie er das hasst. Obwohl er erst so kurz dabei ist. „Ja, benachrichtigen Sie den Staatsanwalt und die Spurensicherung. Ich komme dann auf das Revier und wir fahren dann zusammen hin. Bis gleich.“
Kurz nachdem er aufgelegt hat, schwingt er sich aus dem Bett ohne Licht zu machen. Komischerweise ist Britta absolut nicht geräuschempfindlich was ihren Schlaf angeht. Neben ihr kann ein Lastwagen herdonnern, sie schläft in aller Seelenruhe weiter. Trifft aber nur der kleinste Lichtstrahl ihre Augenlider, wacht sie sofort auf, und beschwert sich, motzt ihn an, sie hätte ihm doch schon hundert Mal gesagt….
Er schlüpft leise aus dem Schlafzimmer, geht an die Garderobe, in der immer schon vorsichtigerweise seine Sachen hängen, zieht schnell alles über und springt in seinen Wagen, um auf das Revier zu fahren. Wieder ein Routineeinsatz, der mich erwartet, geht es durch seinen Kopf. Um wach zu werden lässt er seine ACDC-CD laufen. Wenn Britta dabei ist, darf er das nicht, Krawallmusik!
2 Kinderbettwäsche
Stefan kommt mit einem Kollegen als erstes an den Tatort. Obwohl diese Bezeichnung in seinen Augen vollkommen falsch ist. Eine Tat wurde von einem anderen verübt, für die Selbstmorde müsste man ein anderes Wort erfinden. Sie haben zwei starke Scheinwerfer mitgebracht. Es bietet sich das übliche Bild des „Personenschadens“ wie dies in der Bahnfachsprache heißt. Der ICE war um diese Uhrzeit kaum besetzt gewesen. Die wenigen Passagiere sind schon vom Zug weggeführt und, falls nötig, medizinisch versorgt worden. Der Lokführer ist nicht vernehmungsfähig. Stefan kann auf seine Aussage auch eigentlich verzichten. Wie immer hat er nichts gesehen, hat nur ein komisches Geräusch gehört, hat sofort gebremst, natürlich alles viel zu spät. Die Lokführer sind immer die tragischsten Mitspieler in diesem Spiel. Sie müssen weiter leben, mit dieser Erinnerung. Manchmal wird Stefan ganz wütend auf die Selbstgemordeten. Machten sie sich keine Gedanken um die Überlebenden? Vielleicht war das aber auch zu viel verlangt.
Noch bevor die Scheinwerfer aufflammen, bietet sich das übliche makabere Bild, das man immer in so einem Fall sieht. Es ist eine helle Mondnacht. Der Zug ist in voller Länge über den Körper hinweggerast. Diesmal ist der Körper fast sorgfältig in drei Teile zerteilt worden: Kopf, Körper, untere Beine, trotzdem alles unkenntlich, das Gesicht kaum zu erkennen, alles Menschliche irgendwie entwichen. Der- oder diejenige hat offensichtlich auf den Gleisen gelegen und auf den Zug gewartet. Hat sich nicht in letzter Minute davor geschmissen wie sonst so oft.
„Mein Gott, derjenige scheint sich ja in aller Ruhe hingelegt und gewartet zu haben. Das war lange vorher geplant.“ Stefans Kollege ist noch relativ neu dabei und wird ganz blass. So was hat Stefan auch noch nicht oft gesehen. Als sie die Schweinwerfer aufgestellt und eingeschaltet haben, fällt Stefan eine Matratze und eine Decke auf.
„Schauen Sie mal hier, der oder die kann sich doch wohl nicht schlafen gelegt haben hier“, ruft er aus und auch sein Kollege schaut ziemlich überrascht. Nachdem sie ein wenig genauer geschaut haben, sehen sie auch noch die Teile eines Kopfkissens unter dem restlichen Kopf. „Es scheint eine Frau gewesen zu sein, sie hat lange braune Haare.“
In dem Moment kommen zwei andere Personen auf sie zu, von dem einer der diensthabende Staatsanwalt ist. Man begrüßt sich, er schaut kurz auf die Leiche und will sich mit einem „das Übliche, dafür muss man aufstehen“ verabschieden. „Diesmal scheint es ein wenig ungewöhnlicher zu sein“, versucht Stefan ihn zu stoppen. „Der Ort ist viel zu weit weg von dem üblichen und es scheint eine Frau zu sein, die sich hier ein richtiges Bett gemacht hat, als ob sie schlafend von dem Zug überrascht werden wollte, so absurd das klingt.“ „Das klingt in der Tat sehr absurd, wohl noch nicht ganz wach“, grummelt der Staatsanwalt. „Was weiß ich, was in diesen kranken Hirnen aus der Klapse vorgeht. Hat wohl gedacht hier im Wald ist es schöner. Morgen erhalte ich ihren Bericht, dann legen wir das zu den Akten. Wie immer.“
Stefan weiß schon, wann es bei dem Staatsanwalt sich nicht mehr lohnt, weiter zu machen und hält deswegen auch den Mund. Da kommen auch schon die Kollegen der Spurensicherung, die nun ihre Arbeit verrichten und ihm morgen ihrerseits ihren Bericht liefern werden, aus dem er dann seinen für den Staatsanwalt fertigt.
Wieder zu Hause liegt er noch lange in seinem Bett. Es war Kinderbettwäsche gewesen, die auf den Schienen lag, schwarzblauer Hintergrund mit Sonnen, Monden, Sternen, solche, die er als Kind auch gehabt hat.
3 Beichten hilft
Als Stefan am anderen Morgen ein wenig später als sonst aufwacht, kommen ihm die Ereignisse der vergangenen Nacht ganz unwirklich vor, fast gespenstisch. Nach einem Nachteinsatz wird es nicht so genau mit der morgendlichen Pünktlichkeit genommen, was Stefan gerne ausnutzt. Zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter zu frühstücken macht ihm definitiv mehr Spaß, als Akten zu wälzen. Britta ist schon aufgestanden, er hört sie in der Küche werkeln und mit der kleinen Sarah sprechen, die munter vor sich hinbrabbelt. Er schwingt sich auf und geht in seinem Schlafkostüm die Treppe herunter. Er bezeichnet seinen Schlafanzug immer Schlafkostüm, so fühlt er sich zumindest, da er früher immer in Unterhose und T-Shirt geschlafen hat. Nach dem dritten Geschenk von Britta war im dann doch klar, dass sie es wohl lieber hätte, wenn er…. Er tut ihr den Gefallen gerne. Britta war es schon gewohnt, dass er nicht jeden Tag in der Woche zur gleichen Zeit aufs Revier musste, und hat ihn schlafen lassen.
„Wieder einer der üblichen Einsätze?“, fragt sie, als er in die Küche kommt. „Ja leider, wieder mal ein Selbstmord auf den Schienen, dem Anschein nach.“
„Ich kann diese Menschen einfach nicht verstehen, wie kann man sich nur das Leben nehmen.“ Stefan kennt diese Diskussion schon und will sie auf jeden Fall vermeiden. Britta ist sehr katholisch erzogen worden und für sie ist das Leben ein Geschenk Gottes. Sich selbst umzubringen ist wie ein Verbrechen gegenüber Gott und wird mit der Hölle bestraft. Das mit der Hölle meint sie nicht ganz ernst, aber trotzdem werden für sie Menschen, die auf Erden Fehltaten begehen ihrer Meinung nach dem Tod anders behandelt als diejenigen, die nur Gutes taten. Wobei die Definition von „gut“ flexibel ausgelegt werden kann. Selbstmorde gehören definitiv nicht zu „gut“.
„Bitte nicht schon wieder diese Diskussion, die hatten wieder schon so oft. Ich bin ja im Grunde deiner Meinung, aber ich habe mit so vielen Ärzten aus der Psychiatrie gesprochen, die mir alle glaubhaft versicherten, dass….“
Weiter kommt Stefan nicht, da die kleine Sarah gerade ihre morgendliche Milch auskotzt. Er stürzt sofort hin, um ihr zu helfen, aber Britta ist mal wieder schneller gewesen.
„Ach die Ärzte, die reden viel, wenn der Tag lang ist. Im Leben ist nicht immer alles einfach, man muss sich auch schon mal zusammenreißen. Lass die ganzen so genannten Patienten einmal in der Woche zum Gottesdienst und zur Beichte gehen, du wirst schon sehen, wie schnell es denen wieder besser geht und wie viele ´Personenschäden` weniger dann wären.“
Stefan weiß eigentlich gar nicht genau, was er in diesem Fall denken soll. Brittas Meinung findet er eindeutig zu krass, zu unmenschlich, aber für alles die schwierige Kindheit verantwortlich machen? Beim ersten Problemchen sich auf die Schienen legen?
„Es können doch nicht alle Ärzte Quatsch reden. Da wird schon was dran sein. Zwei Sachen waren komisch diesmal: Es war viel weiter von dem üblichen Ort entfernt und sie hatte ihre Bettwäsche mitgenommen. Und ich meine mich zu erinnern, dass es Kinderbettwäsche war, so eine hatte ich nämlich auch.“
„Du hattest mir gar nicht erzählt, dass es eine Frau war“, antwortet Britta, die Sarahs Schweinerei beseitigt hat und sie in den Kinderstuhl setzt. „Das hört sich vielleicht komisch an, aber irgendwie finde ich es immer schlimmer, wenn eine Frau sich umbringt als ein Mann. Ganz christlich ist dieser Gedanke ja nicht.“ Solche Geständnisse bekommt Stefan nicht oft zu hören.
„Mit Kinderbettwäsche lag sie da?, sagst du. Ja hat sie denn geschlafen, als der Zug kam?“
„Na das wissen wir natürlich nicht so genau, aber es scheint so zu sein, als hätte sie da in aller Ruhe unter ihrer Bettdecke gelegen und auf den Zug gewartet. Das hört sich für mich ganz gruselig an, “ antwortet Stefan.
„Wie kann ein Mensch nur so etwas machen. Auch noch sehenden Auges sein Leben wegwerfen, so wohl überlegt. Wenn einer einen schwachen Moment hat, eine Kurzschlusshandlung, das ist ja noch so eben vorstellbar, aber so etwas. Es ist ein Verbrechen und gehört bestraft, “ schimpft sie und setzt sich an den Frühstückstisch.
Nun muss Stefan aber doch lachen. „Wen willst Du denn bestrafen und vor allem wie?“
„Vor Gott wird sie ihre gerechte Strafe schon bekommen!“ Die Diskussion ist für Britta offensichtlich beendet und sie wendet sich nun vollständig dem Frühstück zu und Stefan bleibt nichts übrig als dies auch zu tun.
4 Ein klarer Fall ?
Auf dem Revier angekommen klingelt gleich das Telefon. Die zuständige Pathologin ist dran. „Kein Zweifel, dass es sich hier um einen Selbstmord handelt. Keinerlei Gewalteinwirkung. Alle klassischen Spuren von jemandem, der sich auf die Schienen legt. Glücklicherweise ist das Gebiss gut erhalten. Mit ein wenig Glück finden Sie den Zahnarzt, ansonsten wird uns die DNA weiterhelfen. Den Bericht erhalten Sie spätestens morgen. Aber da wird auch nicht viel mehr drin stehen.“ Damit legt sie einfach auf. Stefan kennt das schon.
Jetzt kommt die Routinearbeit, warten auf das Röntgenbild der Zähne, Zahnärzte abklappern, hoffen, dass der Richtige dabei ist, Bericht schreiben, fertig.
Um ein Uhr ruft ihn die Pathologin noch einmal an, um ihm zu sagen, dass das Röntgenbild jetzt im System ist. Nun kann die Sysiphusarbeit beginnen. Zunächst wie üblich zuerst der Anruf in der Psycho-Klinik, dann das Bild per Email verschicken, das Ergebnis überraschenderweise negativ. Dann die anderen Zahnärzte der Stadt abklappern, Emails schicken, beim Dritten hat Stefan schon Erfolg.
Es handelt sich um Sandra Reifert, 26 Jahre alt, aufgewachsen in einem Stadtviertel, das nicht zu den besten gehört. Zweifel ausgeschlossen. Zur Sicherheit schickt Stefan die Aussagen des Zahnarztes noch mal in die Pathologie, mit demselben Ergebnis. Bleibt nur noch die unangenehme Aufgabe die nächsten Verwandten zu informieren, in diesem Fall scheint es nur die Adresse der Mutter zu geben, die immer noch in diesem Stadtviertel wohnt.
Der Staatsanwalt wartet bestimmt schon auf seinen Bericht. Zunächst glaubt Stefan, dass er dafür nicht lange brauchen wird. Aber als er zu der Beschreibung des Tatortes kommt, geht ihm die Bettwäsche, die Kinderbettwäsche nicht aus dem Kopf. Er kann nicht verstehen, dass sich dort jemand ein Schlaflager bereiten soll, sich hinlegt und dann anscheinend schlafend auf den Zug wartet. Das kann er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Das vermerkt er auch in dem Bericht, außerdem, dass das Unglück sich nicht an dem üblichen Ort ereignet hat. Er bittet darum, die Akte nicht zu schließen, bis die Benachrichtigung und Befragung der Mutter, deren Adresse festgestellt worden sei, sowie des Zugführers abgeschlossen ist.
Kaum liegt der Bericht bei dem Staatsanwalt auf dem Schreibtisch, geht auch direkt Stefans Telefon. „Was ist das denn ein Mist von der Kinderbettwäsche, ungewöhnlicher Ort und so weiter? Was wollen Sie denn damit sagen? Der Fall ist doch eindeutig. Das sagt der Bericht der Pathologie. Selbstmord. Akte zu. Machen Sie uns und sich doch nicht mehr Arbeit als nötig, “ donnert es Stefan entgegen.
„Ich bin aber trotzdem der Meinung, dass dieser Fall etwas ungewöhnlicher und anders als die anderen ist und ein paar Nachforschungen nötig wären.“, versucht Stefan zu insistieren. Der Staatsanwalt ist aber nicht gut aufgelegt und weist Stefan an, den Fall zu beenden und die Mutter noch zu benachrichtigen.
Stefan knallt den Hörer auf die Gabel. Sofort schellt das Telefon wieder. Stefan befürchtet schon das schlimmste, aber es ist noch einmal die nicht minder unfreundliche Pathologin. „Wir haben jetzt das Blut untersucht. Etwas Ungewöhnliches ist uns dabei aufgefallen. Wir haben ungewöhnliche Hormonwerte, die darauf hinweisen, dass die Tote zum Zeitpunkt des Todes geschlafen hat. Es hört sich absurd an, aber eine andere Erklärung haben wir momentan nicht.“
5 Ein Recht auf einen friedlichen Tod
Als Stefan vor dem Haus der Mutter von Sandra Reifert steht, muss er wie so oft sein Vorurteil revidieren. Obwohl es sich nicht um das schönste Stadtviertel handelt, steht das Haus in einer nicht mehr ganz so neuen aber auf gar keinen Fall heruntergekommenen Einfamilienhauszeile.
Wie immer vor solchen Benachrichtigungen muss er tief Luft holen, als er den Klingeknopf betätigt. Er wartet auch nicht lange, als ihm eine ziemlich aufgeräumte Frau um die 50 öffnet.
„Ja bitte?“ fragt ihn eine angenehme Stimme nach dem Grund seines Kommens.
„Sind Sie Sieglinde Reifert?“ tastet sich Stefan ganz vorsichtig heran.
„Ja, die bin ich. Was kann ich für Sie tun?“
„Ich bin von der Polizei.“ Stefan hält ihr die Dienstmarke entgegen.
„Dann hat sie es jetzt doch endlich geschafft.“ Ein Seufzen durchfährt die Frau. „Es handelt sich doch um meine Tochter Sandra?“
„Ja, Frau Reifert. Ich muss Ihnen leider eine schlechte Nachricht überbringen. Wir haben….“ Setzt Stefan zu der üblichen Floskel an, aber er wird unterbrochen. „Den Rest kann ich mir denken. Kommen Sie doch bitte herein.“ Frau Reifert öffnet weiter die Tür. Stefan tritt in ein ziemlich aufgeräumtes Wohnzimmer, Eiche brutal, aber nicht ungemütlich. Ihm wird ein Platz angeboten, dazu Kaffee, den Stefan dankend ablehnt.
„Sie verstehen schon, dass ich etwas verwundert bin. Es hört sich ja fast so an, als hätten sie mit meinem Besuch gerechnet, “ gibt Stefan seiner Verwunderung Ausdruck.
Frau Reifert laufen ein paar Tränen über die Wange. „Ich habe doch schon viel früher mit Ihnen gerechnet. Wenn Sie wüssten, was ich mit Sandra alles durchgemacht habe. Zum Schluss hatten wir gar keinen Kontakt mehr. Mir war immer klar, dass sie sich irgendwann umbringen wird. Wie ist es denn passiert?“ Stefan gibt ihr einen kurzen Bericht über die Geschehnisse der letzten Nacht. „Aber Sie müssen mir nun doch erklären, warum Sie damit immer gerechnet haben.“
Frau Reifert scheint kurz inne zu halten, legt dann aber doch mit einer längeren Erzählung los. „Sandra wollte so lange sie sprechen kann, immer schlafen, wie sie es nannte. Schon als ganz junges Mädchen, wenn ich sie ins Bett brachte und ihr ´bis Morgen` sagte, antwortete sie immer ´nein, nicht morgen`. Das setzte sich in den Jahren immer weiter fort. Sie wollte ewig schlafen. Sie wollte dieses Gefühl der Ruhe, der Entspannung, der Gedankenleere und der Sicherheit – so beschrieb sie es immer – einfach für immer haben. Dies hatte sie immer, während sie schlief. Sie wollte den neuen Tag nicht mehr beginnen, wollte sich nicht den Alltagsanforderungen und ihren Gedanken stellen. Sie wollte schlichtweg schlafen. Wenn ich sie damit konfrontierte, dass sie sich umbringen wollte, sagte sie immer: ´Nein, wer spricht denn vom Umbringen. Ich will mich doch nicht töten. Ich will einfach ewig schlafen.` So unverständlich sich das anhört, aber für sie gab es einen Unterschied zwischen Umbringen und ewig Schlafen. Ich konnte das nie nachvollziehen. Und nun schläft sie ewig.“
Stefan unterbricht sie. “Waren Sie denn nie mit ihr bei einem Arzt oder Psychologen?“ „Na sie sind vielleicht gut“, schnaubt Frau Reifert, “ich bin mit ihr bei so vielen Ärzten gewesen, man kann es sich gar nicht mehr vorstellen. Aber es konnte keine körperliche Ursache festgestellt werden. Auch eine wirkliche psychologische Erkrankung war nicht zu diagnostizieren. Einfach war es sicher nicht, als mich mein Mann und ihr Vater uns im Alter von 5 Jahren verließ und nichts mehr von sich hören ließ. Aber ansonsten hatte sie eine relativ gute Kindheit. Meiner Meinung nach. Sie war zwar immer ein sehr stilles, ein wenig in sich gekehrtes Kind, aber psychisch krank war sie wohl nicht. Das haben auch mehrere Ärzte festgestellt. Sie hatte nicht die typischen Anzeichen einer Depression, ist regelmäßig und gar nicht mal ungern zur Schule gegangen und hatte danach auch angefangen zu studieren. Leider hatte sie dann, als sie in einer anderen Stadt wohnte, nicht mehr so oft Kontakt zu mir, wie ich gerne hätte. Ich machte mir schon große Sorgen konnte aber nichts ändern.“
Stefan kann kaum glauben, was er da hört. “Sie meinen, es hat niemanden gegeben, der eine Erkrankung festgestellt hat und sie hat sich jetzt einfach mal mir nichts dir nichts unter den Zug gelegt, weil sie ewig schlafen wollte?“
Frau Reifert schüttelt den Kopf. „Ich weiß, das ist schwierig zu verstehen oder auch gar nicht, aber ich denke letztendlich ist es so. Dieser Wunsch war einfach vorhanden und stärker als der Wunsch zu leben. Ein Arzt hat ihre Krankheit, sofern es überhaupt eine ist, mit ´Anima deliquus` beschrieben, mangelnder Lebenswille oder fehlende Lebenskraft oder so ähnlich. Er hat die Beschreibung auch in irgendeinem Psychoblatt veröffentlicht, aber nachdem die Reaktion darauf höflich ausgedrückt wohl eher etwas verhalten war, war auch sein Interesse an Sandra schnell erloschen.“
Stefan kann es immer nicht glauben, aber die Kinderbettwäsche scheint in dieses Bild zu passen. „Ich habe Ihnen noch gar nichts von der Bettwäsche erzählt. Sandra lag unter einer Bettwäsche, mit Sonne, Mond und Sternen, ich meine es wäre eine Kinderbettwäsche, und die Blutuntersuchung scheint darauf hinzuweisen, dass sie geschlafen hat.“
Frau Reifert nickt resigniert mit dem Kopf. „Ja sehen sie. Es ist wie ich es sage. Das musste ich schon vor Jahren einsehen. Ich konnte ihr nicht helfen. Obwohl sie das gar nicht so empfunden hatte. Es war für sie keine Krankheit oder so. Für sie war das ganz normal und sie konnte das Aufhebens der anderen Menschen darum nie verstehen.“
Für Stefan ist dies die unglaubwürdigste Erklärung, die er sich nur vorstellen kann, aber irgendwie scheinen alle Fakten zusammen zu passen.
„Aber hätte sie nicht das Recht auf einen friedlichen Tod gehabt, hätte man ihr dabei nicht helfen können, mit Würde und in Anstand zu sterben?“
Mit diesen Worten verabschiedet Frau Reifert Stefan.
6 Einrichtung für Selbstmordunterstützung
Die Worte von Frau Reifert bekommt Stefan auch auf der Rückfahrt nicht aus dem Kopf. Ein Recht auf ein Sterben mit Anstand. Ja, sicherlich, das sollte ein jeder Mensch haben. Aber in diesem Fall? Wie soll das aussehen? Wer soll für diesen Anstand sorgen? Irgendeine Person müsste dann für diesen Tod sorgen. Aber wer soll das machen? Wer übernimmt die Verantwortung dafür?
Alles Fragen, die Stefan nicht beantworten kann. Deshalb erscheint ihm der Wunsch von Frau Reifert zwar verständlich aber doch unerfüllbar. Trotzdem fällt es ihm das erste Mal schwer, den jetzigen Verlauf zu akzeptieren.
Am selben Tag hat Stefan noch einen weiteren unangenehmen Termin, aber der Zugführer scheint vernehmungsfähig zu sein. Es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass Stefan diese Aufgabe übernehmen muss. Für ihn ist es fast schlimmer als die Verwandten zu benachrichtigen, da die Zugführer sich oft von diesem Schock gar nicht mehr erholen und berufsunfähig werden.
Auf der Fahrt zum Krankenhaus steigt in Stefan eine Wut hoch, die er sich gar nicht gar nicht erklären kann. In ihm hallen wieder und wieder die letzten Worte von Frau Reifert nach. Wenn es eine würdigere Möglichkeit gegeben hätte, wäre dem Mann dies auch erspart geblieben.
Walter Kraft ist ein gemütlicher Mann, der schon einige Berufsjahre auf dem Buckel zu haben scheint. Stefan erscheint er nicht wirklich unter Schock sondern vielmehr gesammelt, als er das Krankenhauszimmer betritt. Vielleicht die Medikamente, denkt er für sich.
Herr Kraft begrüßt ihn freundlich.
„Das ist jetzt das dritte Mal in meiner beruflichen Tätigkeit. Ich will nicht mehr. Können die sich nicht woanders das Leben nehmen als vor meinem Zug.“
Stefan gibt ihm durch ein kurzes Nicken zu verstehen, dass er ihm zustimmt.
„Was haben sie denn überhaupt bemerkt?“, fragt er, um der Routine genüge zu tun.
„Anders als den anderen beiden Malen fast gar nichts. Es war Nacht und ich habe nicht das geringste Anzeichen gesehen. Bei den ersten Malen ist mir jemand vor den Zug gelaufen. Ein furchtbares Geräusch ist das, ein dumpfer Knall, nur zu hören, kaum zu spüren. Diesmal aber war es anders. Die Person ist mir nicht vor den Zug gelaufen, sondern muss schon auf den Schienen gelegen haben. Ich habe irgendwie etwas bemerkt, als ob der Zug über etwas gefahren sei, aber kaum spürbar. Ich hatte direkt so eine Ahnung. Ein anderer wäre vielleicht einfach weitergefahren. Na ja, und als ich den Zug gebremst hatte und die Schienen ein wenig zurückgegangen war, sah ich es.“
Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen, aber Stefan will das Gespräch nicht abreißen lassen, ohne genau zu wissen warum. Irgendetwas bringt ihn dazu, weiter zu fragen. „Ich habe mittlerweile auch mit der Mutter der Toten gesprochen. Es war eine Frau. Sie hatte mir gesagt, dass sie weder psychisch noch körperlich krank war. Sie wollte einfach ´ewig schlafen`“.
Herr Kraft schüttelt müde den Kopf. „So was habe ich ja noch nie gehört. Das ist aber meiner Meinung nach die Sache eines jeden selbst. Aber doch bitte nicht vor meinem Zug. Ich bin glücklicherweise immer ganz gut damit klar gekommen. Habe mir immer gesagt, dass das ihre Entscheidung gewesen wäre. Dass das nicht meine Schuld ist. Andere Kollegen kommen damit aber nicht klar. Für sie ist ihr Leben irgendwie auch beendet. Da müsste es eine andere Lösung geben.“
Stefan schaut neugierig auf. Schon wieder jemand, der eine andere Lösung wünscht.
„Das verstehe ich jetzt nicht. Haben Sie etwas Bestimmtes im Sinn?“
„Das mag sich für Sie jetzt furchtbar abhören. Aber ich habe schon mal gedacht, dass es eine Einrichtung für Selbstmörder geben sollte, damit sie sich würdig und ohne andere damit hinein zu ziehen umbringen können. Keine Ahnung wie das Aussehen sollte. Aber bei den Selbshilfegruppentreffen, in denen ich andere betroffene Zugführer immer noch treffe, haben wir diese Idee schon oft geäußert. Das mag sich makaber anhören, aber uns fragt später auch keiner mehr. Wir müssen sehen, wie wir alleine damit klar kommen. Und für die gibt es doch sicher auch schönere Todesarten als sich vor den Zug zu werfen.“
Eine Einrichtung zur Unterstützung von Selbstmördern. Stefan schüttelt nur verwundert den Kopf. Obwohl er die Argumentation des Zugführers folgen kann. So sind sowohl der Selbstmörder als auch der Zugführer in einer hilflosen Lage, dem Grauen schutzlos ausgesetzt. Gäbe es da andere Möglichkeiten? Er hat zwar die Diskussion über Sterbehilfe in den Medien verfolgt, aber das geht ihm doch ein wenig zu weit.
Mit denn üblichen Worten des Dankes und des Mitgefühls verlässt Stefan den Zugführer.
7 Der Arzt und die Spritze
Das reicht für diesen Tag. Stefan fährt nicht mehr ins Büro, sondern ist auf dem Weg nach Hause. Irgendwie ist dieser Fall ganz anders als die anderen, obwohl alles so gleich und klar erscheint. In allen anderen Fällen waren die Selbstmörder psychisch krank, verwirrt oder verzweifelt, einer hatte unheilbar Krebs. Da war man betroffen, war auch schockiert von der Art des Todes. Aber nie hatte er auch nur daran gedacht, ob es für sie keine andere Möglichkeit des Todes gegeben hätte. Immer hatte er nur daran gedacht, ob es keine Möglichkeit gegeben hätte, sie am Leben zu erhalten. Ob alles auch wirklich unternommen wurde, um ihnen zu helfen.
In diesem Fall ist aber alles anders. Noch kann er nicht glauben, dass man Sandra nicht hätte auch helfen müssen, dass sie nicht auch krank war. Nur einfach den Wunsch zu haben, ewig zu schlafen, reicht ihm als Begründung nicht aus. Konnte man ihr diesen Wunsch nicht nehmen? Ist dieser Wunsch allein nicht schon krankhaft? Stefan ist noch nicht bereit, diese Akte zu schließen. Zu viele Fragen scheinen ihm noch offen, zumindest für ihn.
Zu Hause lenkt er sich erst mal durch die Beschäftigung mit seiner Tochter ab. Sie spielen auf dem Boden mit Bauklötzen und Stefan ertappt sich bei der Frage, ob sie auch mal den Wunsch haben wird, ´ewig zu schlafen`. Und wie er dann reagieren würde. Im ersten Moment denkt er, dass er alles tun würde, ihr diesen Wunsch auszureden, sogar zu verbieten. Aber er hat nicht den Eindruck, als hätte Frau Reifert nicht alles Mögliche unternommen, ihrem Kind diesen Wunsch zu nehmen. Ja, der Vater war früh abgehauen, aber er hat trotzdem das Gefühl, dass es ein gutes Elternhaus war, dass man sich um Sandra gekümmert hat. Stefan beschließt in dem Moment, weiter etwas vom Leben Sandras zu erfahren, tiefer einzudringen, um zu verstehen.
„Was würdest Du machen, wenn unsere Sarah den Wunsch äußern würde, sterben zu wollen?“ fragt Stefan Britta unvermittelt.
„Ja wie?“ fragt Britta verwundert zurück. “Wenn sie eine unheilbare Krankheit hat, oder wie?“
„Ja, beginnen wir mal damit. Wenn sie eine unheilbare Krankheit hätte?“ Stefan will zunächst vorsichtig sein, weil er meint, die Meinung seiner Frau zu kennen.
„Nun ja, du weißt, dass Selbstmord für mich keine Option ist. Das Leben ist ein Geschenk Gottes und nur er hat das Recht, das Leben auch wieder zu nehmen. Wenn ich natürlich sehen würde, dass sie sich quält...“ Britta stockt. Ganz klar scheint ihr Glaube in dem Punkt dann doch nicht zu sein.
„Also ich würde zunächst darauf bestehen, dass alle schmerzlindernden Maßnahmen durchgeführt werden. Und darauf hoffen, dass sie dann auch so lange weiter leben möchte, bis der Herr sie abberuft. Wenn sie allerdings Schmerzen hätte und sich quälen würde, könnte ich unsicher werden.“
Es ist eines dieser wenigen Male, dass Britta Themen auch abwägt. Kaum einer kennt diese Britta, die sonst immer als stark, entscheidungsfreudig und meinungssicher gilt. Manchen sogar als arrogant und überheblich. Stefan darf manchmal dahinter schauen, so wie jetzt. Aber nur ganz kurz.
„Aber ich gehe jetzt mal nicht davon aus, dass Sarah so ernsthaft krank wird. Du spielst auf die Frau von letzter Nacht an oder?“
„Ja, sie war weder psychisch noch physisch krank und hatte trotzdem den Wunsch ´für immer zu schlafen`. Und die Frage ist, ob sie auch das Recht auf einen würdigen Tod hat. Und auch die anderen Beteiligte wie der Zugführer, wie wir. Bisher habe ich über so etwas nicht nachgedacht, aber sowohl die Mutter als auch der Zugführer hätten sich einen sanfteren Tod gewünscht, “ erklärt Stefan seine Gedanken.
Er bemerkt direkt Brittas Ablehnung. „Bei aller Liebe, aber wie stellst Du Dir das vor. Du sagst, ach heute will ich nicht mehr leben, gehst zu ´nem Arzt und der gibt dir eine Spritze oder wie?“
„Ich weiß ja auch nicht, wie das aussehen soll. Aber die jetzige Situation finde ich unerträglich. Für alle Beteiligten. Und hat ein Mensch, sobald er sich entschieden hat, kein Recht auf einen sanften und würdigen Tod?“ Stefan nimmt einen zweiten Anlauf.
„Tut mir leid. Da kann ich Dir wirklich nicht folgen. Also wenn sich einer entschieden hat zu sterben, dann muss er auch selbst die Verantwortung dafür übernehmen. Er kann das nicht an jemanden anderen abschieben und sagen, jetzt mach Du mal. Außerdem weißt Du ja, dass ich finde, dass ein Mensch dieses Recht auf den eigenen Tod gar nicht hat. Das Leben ist uns geschenkt.“
Stefan kann der Argumentation von Britta nicht viel entgegensetzen. Dass das Leben ein Geschenk Gottes ist, ist für ihn eine Glaubensfrage. Darüber kann man nicht diskutieren. Aber das Argument mit der Verantwortung, dass man die Entscheidung für den Tod nicht an einen anderen abgeben darf, findet er stichhaltig.
„Wer soll außerdem entscheiden, dass der Wunsch für die Beendigung des Lebens auch realistisch ist? Nicht nur eine augenblickliche schlechte Phase. Oder wie hälst du es mit jenen, die jemanden umgebracht haben und sagen, er wollte sterben?“ legt Britta noch nach.
Alles Fragen, auf die Stefan keine Antwort hat. Aber sich gar nicht darum zu kümmern, findet er auch zu einfach. Das ist für ihn eine Leugnung des Problems. Und das zu akzeptieren, ist er auch nicht mehr bereit.
8 Müllabfuhr
Am nächsten Tag läuft er auf dem Flur dem Staatsanwalt fast in die Arme.
„Na, die Mutter befragt?“ lautet die joviale Begrüßung, bei der er Stefan in sein Büro schiebt.
„ Ja, ich bin bei ihr gewesen. Machte einen sehr ordentlichen Eindruck. Ich hatte nicht das Gefühl, dass das ein zerüttetes Elternhaus ist.“ Stefan berichtet kurz über das Gespräch mit der Mutter. Auch über die Befragung des Zuführers gibt eine kurze Zusammenfassung.
„Na sehen Sie. Passt doch alles zusammen. Wollte sterben, Schienen, alles klar, Akte zu, Fall erledigt. Wie ich gesagt habe, “ grinst der Staatsanwalt.
„Für mich ist es aber nicht beendet. Mir geht die Frage nach dem Anrecht auf einen würdigen Tod nicht aus dem Kopf. Den haben sowohl die Mutter als auch der Zugführer gefordert, “ widerspricht Stefan.
„Na da zerbrechen Sie sich mal nicht den Kopf anderer. Da haben schon viel klügere Köpfe drüber nachgedacht als Sie. Und haben auch kein Ergebnis gefunden. Tod gehört zum Leben und den muss jeder mit sich selbst ausmachen, “ antwortet der Staatsanwalt.
„Aber wäre es denn für alle Beteiligten, auch für uns, nicht einfacher, wenn in solchen Fällen Sterbehilfe möglich wäre?“ beharrt Stefan.
„Theoretisch ist das immer eine so einfache Sache, das mit dem würdevollen Sterben. Nur: Wie soll das praktisch aussehen? Wer soll das durchführen? Und in welchen Fällen? Wer soll das ganze genehmigen? Und das alles vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Stichwort Euthanasie. Das können Sie komplett vergessen. Da wagt sich keiner ran. Die Gefahr, dass da einer die Würde zu seinem Vorteil auslegt, ist viel zu groß. Uns bleibt da die Aufgabe, die Müllabfuhr zu spielen. Wenn ich das jetzt mal so herzlos sagen darf.“
Stefan muss nun doch schlucken. Er ist vom Staatsanwalt einiges gewohnt, aber das findet er doch harten Tobak.
„Als Müllabfuhr sehe ich mich nicht. Wenigstens ein wenig Restwürde sollten wir versuchen aufrecht zu erhalten. Wenigstens das.“ stößt er fast feindselig hervor.
„Na, nun regen Sie sich mal nicht so auf. Ich neige ja zu klaren Worten. Kennen mich doch schon. Aber das ganze liegt nicht in unserem Machtbereich und deshalb sollte man sich auch nicht zu viele Gedanken darüber machen. Machen Sie Ihre Arbeit und gut ist. Reden Sie meinetwegen feinfühlig mit den Betroffenen, aber das war´s. Und diese Akte können Sie nun offensichtlich schließen.“
„Ich würde gerne noch ein paar Nachforschungen anstellen, Ärzte, Freunde usw.“ insistiert Stefan, aber umsonst.
„Das haben wir doch geklärt. Der Fall ist abgeschlossen. Schreiben Sie noch den Bericht zu Ende und das war´s dann. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?“
Stefan bleibt nur noch die Faust in der Tasche zu ballen und zu nicken.
Grußlos verlässt er das Büro.
Noch auf dem Weg den Gang runter ist er sich sicher, dass für ihn die Sache nicht abgeschlossen ist, dass er weiter suchen will. Suchen nach der Person, die hinter dieser Akte steckt, ihre Beweggründe, ihre Motive und nach der Würde. Was die Suche nach ihr anbetrifft, ist er aber ziemlich hoffnungslos.
9 Klage auf Selbstmordunterstützung
Als er nach Feierabend in sein Auto steigt, kann er nicht nach Hause fahren. Der Ausgangspunkt für ihn bei der ganzen Geschichte ist die Mutter. Sie ist für ihn die einzige, die ihn näher an Sandra, an das Verstehen heranführen kann. Er ist sich bewusst, dass er ohne Auftrag handelt, aber dieses Risiko will er eingehen. Zum ersten Mal missachtet er vorsätzlich eine Anordnung. Es macht ihm komischerweise nichts aus.
„Entschuldigen Sie, dass ich noch einmal störe“, beginnt er das Gespräch mit Frau Reifert, die über die späte Zeit etwas erstaunt ist. „Ich bin auch nicht ganz dienstlich hier“, gibt Stefan zu verstehen. Er achtet darauf, nicht seinen Dienstausweis zu zeigen. Der Besuch soll keinen offiziellen Charakter erhalten, obwohl er trotzdem seine Kompetenzen überschreitet.
„Mir sind einfach zu viele Fragen offen. Ihre Worte nach einem würdevollen Tod haben mich sehr nachdenklich gemacht. Obwohl ich ein Problem mit Sterbehilfe bei einem vollkommen gesunden Menschen habe“, eröffnet Stefan das Gespräch.
„Das hatte ich auch, aber ich musste lernen es zu verstehen und zu akzeptieren.“ entgegnet Frau Reifert.
„Ich habe eine Kollegin, deren Sohn fühlte sich in seinem Körper nicht wohl. Nicht richtig. Er wollte eine Frau sein, weil er sich als Frau fühlte. Weder sie noch ich können das verstehen. Bis heute nicht. Sie hatte die Alternative, das zu akzeptieren oder ihren Sohn, heute ihre Tochter, zu verlieren. Bei mir ist es noch schlimmer. Ich habe sie auf jeden Fall verloren. Aber akzeptieren muss ich trotzdem.“
Stefan weiß nicht, was er ihr antworten soll. Sie wird ihm immer sympathischer. Für ihn ist Frau Reifert eine Mutter, die sich liebevoll trotz aller Probleme um ihr Kind gekümmert hat. Einen Todeswunsch von Sandra aus diesem Grund schließt er vollkommen aus.
„Irgendwie ist es für mich wichtig, Klarheit zu finden. Vielleicht werde ich sie nie bekommen, aber die Suche will ich noch nicht aufgeben. Zu viele Fragen sind dabei für mich offen. Können Sie das verstehen?“ legt Stefan seine Gefühle dar.
„Ich kann Sie sehr gut verstehen. Ich habe auch lange gesucht. Leider habe ich Klarheit nicht gefunden. Mir blieb nur die Akzeptanz. Das einzige, was ich nach wie vor nicht akzeptieren kann, ist die Art des Todes. Meine Tochter hätte das Recht auf einen anderen Tod gehabt.“ Frau Reifert schaut zum Boden.
Da ist es wieder, dieses Recht auf einen anderen Tod. Gleichzeitig spuken Stefan die Worte des Staatsanwaltes im Kopf. Wer soll das entscheiden? Wer führt es durch? Was ist mit Missbrauch?
„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich für mich ein wenig weiter suche? Polizeilich ist der Fall abgeschlossen, für mich persönlich nicht.“ tastet sich Stefan langsam vor.
„Nein, ich habe nichts dagegen. Vielleicht finden Sie auch für mich ein paar Antworten.“
„Können Sie mir Personen nennen, mit denen Sandra zu tun hatte, mit denen ich Kontakt aufnehmen kann? Damit ich ein vollständigeres Bild erhalte.“
Frau Reifert überlegt.
„Sandra war immer eine eher kontaktarme Person. Da wäre zunächst eine Schulkameradin, Anja. Die wohnt oder wohnte hier gleich in der Nachbarschaft. Zu der hatte sie mal Kontakt. Dann eine Deutschlehrerin, die ihr immer Bücher mitgebracht hat. Mit der hatte sie öfters gesprochen. Von den verschiedenen Ärzten würde ich zu Dr. Reich gehen. Ein Psychiater, der meiner Meinung nach viel Verständnis zeigte.“
Da hat er erst mal drei Personen, die ihm weiterhelfen können, denkt Stefan.
„Vielen Dank. Ich melde mich auf jeden Fall bei Ihnen.“ Mit diesen Worten verabschiedet er sich, nicht ohne seine private Visitenkarte da zu lassen.
Kaum ist er zu Hause, geht auch schon das Telefon. Frau Reifert ist am Apparat.
„Mir ist noch jemand eingefallen. Frau Brahms, die Anwältin, hat sich auch sehr um sie gekümmert.“
Stefan ist verwundert. „Warum hatte sie denn eine Anwältin?“
„Sie wollte den Staat verklagen, ihr bei Ihrem Wunsch die notwendige Unterstützung zu geben.“
Sie hatte aber auch wirklich nichts unversucht gelassen. Wie stark muss ihr Wunsch gewesen sein?, denkt Stefan. Warum hat sie sich nicht schon früher auf die Schienen gelegt?
„Ich danke Ihnen Frau Reifert. Gute Nacht.“
10 Heute weiß ich, was sie meinte
„Wer war am Apparat?“ fragt Britta neugierig.
„Es war Frau Reifert“. Stefan kennt die Neugier seiner Frau und die Schwierigkeit, aus ihren Klauen herauszukommen.
„Was wollte sie denn?“
„Ich hatte noch ein paar Fragen an sie und ihr war noch was eingefallen“, weicht Stefan aus.
„Was für Fragen denn?“ bohrt Britta unerbittlich weiter. Stefan weiß nicht, wie er aus der Nummer herauskommen soll. Wenn er ihr die Wahrheit erzählt, gibt es eine Auseinandersetzung, denn er meint die Meinung seiner Frau zu kennen.
„Ja, das übliche, nach Freunden, Bekannten der Toten. Um ein vollständigeres Bild zu erhalten.“
„Das ist aber komisch. Der Fall ist doch klar. Und du untersuchst weiter? Irgendwie ist dieses Mal alles anderes als bei den letzten Fällen dieser Art. Der Fall beschäftigt dich mehr als die anderen. Die konntest du bisher immer an der Haustüre abgeben, den nicht.“
„Das stimmt“, muss Stefan zugeben. „Er beschäftigt mich sehr. Es sind zwei Dinge dabei. Wie kann ein Mensch, den man als physisch und psychisch gesund bezeichnet einen Todeswunsch haben? Und: Hat jeder Mensch ein Anrecht auf einen würdevollen Tod, auch wenn sein Todeswunsch nicht akzeptiert wird? Bei beiden Fragen komme ich einfach nicht weiter. Die Antworten, die ich bisher erhalten habe sind mir zu einfach. Sie reichen mir nicht.“ antwortet Stefan ehrlich.
„Ich hoffe nur, du überschreitest da nicht deine Kompetenzen. Mir erscheint der Fall doch eher abgeschlossen, “ ahnt Britta richtigerweise. Aber für Stefan überraschend lässt sie dann Ruhe. Er entspannt sich langsam. Dieser Zug ist noch einmal an ihm vorübergefahren.
Am meisten reizt es Stefan mit der Anwältin Kontakt aufzunehmen, aber er zügelt sich und will erst einmal das persönliche Umfeld von Sandra sondieren. Er hat Glück und ihre Schulfreundin Anja wohnt noch in derselben Straße wie Frau Reifert in ihrem Elternhaus. Er hat sich vorher telefonisch angekündigt. Er hat sich entschlossen ehrlich zu sein und erwähnt, dass er außerdienstlich kommt und dass sie jedes Recht hat, das Gespräch mit ihm zu verweigern. Aber Anja Romberg ist sofort bereit mit ihm zu sprechen.
Sie vereinbaren einen Treffpunkt in einem Café am späten Nachmittag nach Dienstschluss.
Stefan ist schon etwas früher da und sieht eine große, blonde und auffällige Frau auf seinen Tisch zusteuern.
„Guten Tag. Ich bin Anja Romberg. Sie müssen wohl Herr Richter sein.“ begrüßt Anja ihn. Stefan empfindet sie ziemlich selbstbewusst, aber auf eine angenehme, offene Art und Weise. Außerdem ist sie sehr attraktiv.
„Ja, richtig. Nehmen Sie doch Platz. Schön, dass Sie Zeit für mich gefunden haben“, eröffnet er das Gespräch. „Sie werden ja die Geschichte aus der Zeitung kennen.“
„Ja ganz furchtbar, ich habe oft darüber nachgedacht, obwohl ich sie wirklich nicht gut gekannt habe.“
„Können Sie mir Sandras Charakter beschreiben? Was für eine Person war sie?“ tastet sich Stefan vor.
„Das besondere an ihr war, dass sie gar nichts Besonderes hatte. Sie war ziemlich unauffällig“, beginnt Anja. „Sie war schon die typische Außenseiterin. Verhielt sich immer etwas komisch, sagte selten etwas. Anfangs wurde sie auch noch gehänselt, man kennt das ja. Aber an ihr schien das einfach abzuprallen. Sie hat sich nie gewehrt, man sah ihr aber auch keine andere Reaktion an. Als ob ihr das alles nichts auszumachen schien. Nein, eher noch, als ob sie das alles gar nicht wahrnehmen würde. Irgendwann haben die anderen auch das Interesse an ihr verloren. Macht ja auch keinen Spaß, wenn sich einer über Hänseleien nicht ärgert.“
Stefan nickt. „Hatte sie denn Kontakt zu anderen Schülern?“
Anja überlegt ein wenig. „Wie schon gesagt, man hat sie einfach nicht wahrgenommen. So unauffällig war sie eigentlich. Aber großen Kontakt hatte sie eigentlich zu niemandem. Außer eine Zeit lang zu Frau Reuter, der Deutschlehrerin, aber das war dann auch irgendwie vorbei.“
„Aber Frau Reifert sagte mir, dass sie Kontakt zu ihr gehabt hätten?“
„Kontakt ist wohl ein wenig übertrieben. Wir haben uns mal getroffen. Das war schon nach den Abiturprüfungen. Ich hatte sie schon vorher ein paar Mal angesprochen, aber sie hat nie darauf reagiert. Irgendwie war sie für mich ein Rätsel und das hat mich neugierig gemacht. Nach den Prüfungen habe ich sie dann zu einem Bier überreden können. Ich hatte das Gefühl, dass sie noch nie Bier getrunken hatte“, grinst Anja.
Stefan horcht ein wenig auf. „Wie war das Treffen für Sie? Wie hat sie da auf Sie gewirkt?“
„Zwar verschlossen, aber wir haben uns doch unterhalten.“
„Auch über etwas Grundsätzlicheres oder nur oberflächliche Sachen?“
„Es waren schon viele oberflächliche Themen, meistens habe auch ich geredet. Aber ich habe sie schon danach gefragt, wie es für sie gewesen wäre mit den ganzen Hänseleien, mit der Außenseiterrolle. Aber sie hat das einfach abgetan. Sie hätte das gar nicht gemerkt. Komischerweise habe ich ihr das geglaubt“, wundert sich Anja auch heute noch.
„Hat sie denn auf Sie lebensmüde oder deprimiert gewirkt?“ stellt Stefan die für ihn entscheidende Frage.
„Nein, eigentlich nicht“, antwortet Anja. Für Stefan hört es sich ziemlich entschieden an. „ Sie war in der Schule gut, lernte für die Arbeiten, wollte auch studieren. Es war ihr alles nicht egal. Sie war zwar nicht besonders lustig oder so, aber lebensmüde, das war sie meiner Meinung nach nicht. Nur einmal an diesem Abend, da erwähnte sie, dass sie sich wünschte, für immer zu schlafen. Ich wäre die erste, der sie das erzählen würde. Ich antwortete ihr, dass ich das kenne, morgens manchmal nicht aufstehen zu wollen. Das ich auch manchmal mit dem Leben hadere. Aber an die wirkliche Umsetzung hätte ich noch nie gedacht. Damit war das Thema erledigt. Heute weiß ich, was sie meinte.“
11 Der Fremde
Frau Reuter sieht aus wie eine Hexe, strähnige, ungewaschene Haare, ein viel zu großes Gebiss, vom Pfeiferauchen verfärbte Zähne, graue Haut, und eine Hornbrille aus dem letzten Jahrhundert. Stefan hat die Pause abgepasst und ist der Beschreibung der Sekretärin, die an Einzelheiten und Missfallen nicht sparte, gefolgt. Sie ist wirklich unverwechselbar. Na ja, die nehmen die Schüler nicht besonders ernst, denkt sich Stefan. Außerdem ist er enttäuscht, da er sich von ihr kein besonders objektives Urteil erhofft. Von so einer schrägen Type. Trotzdem spricht er sie an.
„Frau Reuter?“
Mit einem kurzen Nicken deute sie an, dass Stefan die richtige gefunden hat.
Er schildert kurz sein Anliegen.
„Ja, an Sandra kann ich mich gut erinnern. Eine wunderbare Schülerin. Sie hat sich sehr für Literatur interessiert. Kam nach der Stunde andauernd zu mir und unterhielt sich mit mir über Bücher, die sie las. Fragte auch immer nach Tips, die ich ihr geben könnte.“
Frau Reuter scheint als einzige Person bisher ganz begeistert von Sandra zu sein. Aber Stefan spürt auch das erste Mal ein wenig Leben in der Vita von Sandra.
„Was hat sie denn so gelesen?“
„Ganz wunderbare Bücher. Thomas Mann, Marcel Proust, James Joyce. Vor allem Camus hatte es ihr angetan. Der Fremde war ihr Lieblingsbuch. Gott, was haben wir über dieses Buch gesprochen.“ Frau Reuter redet sich in Rage.
„Über was haben sie sich denn dabei unterhalten?“ versucht Stefan den Redefluss zu lenken.
„Sie war von der Hauptperson und ihrer Einstellung zum Leben oder vielmehr zum Tod beeindruckt. Sie sagte, dass sie ihn gut verstehen könne. Dass sie auch nicht verstehen könne, dass vielen Menschen das Leben so viel Wert sei. Ihr wäre es zwar nicht egal, das Leben, aber viele anderen nähmen es viel zu wichtig.“
Stefan stutzt. „Waren Sie denn nicht davon betroffen, dass sein junges Mädchen dies sagt?“
„Nein wieso?“ Frau Reuter winkt ab. „Sie war doch in der Pubertät, das ist eine Phase. Als Lehrerin weiß man das. Habe ich ja schließlich studiert. Das verändert sich dann schnell.“
Da hast du dich aber gründlich geirrt, zieht Stefan ihre Lehrerkompetenz gedanklich in Zweifel. Er bedankt sich aber doch höflich und verlässt die Hexe.
12 Der Fragenkatalog
Annette Brahms, Rechtsanwältin, steht auf dem messingfarbenen Schild an der Hauswand. Stefan hatte sich sehr schwer getan, einen Termin zu vereinbaren. Jetzt nahm er Kontakt zu „offizielleren“ Personen auf, wodurch seine weitere Recherche Staub aufwirbeln könnte. Und auf eine weitere Unterhaltung in dieser Sache hatte er nun wirklich keine Lust.
Stefan betritt eine einfach eingerichtete Praxis, ja fast schon schäbig kann man sie bezeichnen. Die Einrichtung passt nicht richtig zusammen, alles zusammengewürfelt. Die Sekretärin, auch nicht mehr das jüngste Modell, meldet Stefan an und führt ihn dann in das Arbeitszimmer von Frau Brahms, die ihrer Einrichtung sehr ähnlich sieht. Aufsehen erregende, teure Wirtschafts- oder Scheidungsangelegenheiten scheint Frau Brahms nicht zu vertreten.
„Guten Tag, Brahms meine Name, was kann ich für Sie tun, Herr Richter“, eröffnet die Anwältin das Gespräch.
Stefan freut sich, dass sie seinen Namen noch weiß. Sie scheint sich auf die Gespräche vorzubereiten. Nicht mehr die Regel bei den Anwälten heute.
„Das ist etwas schwierig zu erklären“, beginnt Stefan vorsichtig. Hier hat er ein Gegenüber, das auf juristischem Gebiet ihm überlegen ist. Wie immer entschließt er sich, bei der Wahrheit zu bleiben. Er schildert die Geschichte, sein persönliches Interesse und das „Unoffizielle“ seines Besuchs.
„Das ist eine schwierige Angelegenheit“, scheint Frau Brahms abzuwehren. „Auf meiner Seite natürlich das Mandantengeheimnis, auf Ihrer Seite das Dienstgeheimnis. Ich sehe im Moment nicht, wie wir da ein Gespräch zustande bekämen.“
So was hat Stefan schon befürchtet. Ein bisschen verwundert es ihn schon, dass das Mandantengeheimnis in Deutschland mehr wiegt als das Recht auf einen würdevollen Tod. Zumindest hat man in dem ersten Fall eine eindeutige Regel gefunden, im zweiten Fall will man über das Problem noch nicht einmal sprechen.
„Ich bin mir der schwierigen Lage durchaus bewusst, aber ich bin sicher, dass die Mutter von Sandra Reifert nichts dagegen hat. Von ihr habe ich ja Ihre Adresse und sie ist ja jetzt wohl die einzige, die Sandras Rechte noch wahrnehmen kann. Außerdem habe ich wirklich nur ein persönliches Interesse an diesem Fall. Quasi als psychologische Hygienemaßnahme, wenn Sie verstehen, was ich meine“, leistet Stefan Überzeugungsarbeit.
„Seien Sie mir nicht böse, Herr Richter Ihre persönliche Hygiene in allen Ehren. Aber das ist mir zu wenig. Ich will gerne mit Frau Reifert noch einmal sprechen. Dann können wir weiter sehen. Und gut wäre es, wenn Sie mir Ihre Fragen schriftlich zuschicken würden, damit ich mir Gedanken darüber machen kann, ob und wenn, was ich antworten will.“
Stefan bleibt nichts anderes übrig als damit einverstanden zu sein. Frau Brahms verspricht ihm sich zu melden. Er solle die Fragen doch schon einmal vorbereiten.
Die Verabschiedung fällt viel weniger frostig aus, als Stefan erwartet hat.
Zu Hause setzt er sich hin und beginnt seinen Fragenkatalog zu schreiben:
1. Wirkte Sandra Reifert lebensmüde?
2. Gab es Anzeichen dafür, dass sie psychisch erkrankt war (Depressionen oder ähnliches)?
3. Sehen Sie andere Gründe, warum Sandra Reifert nicht mehr leben wollte?
4. Hatte Ihrer Meinung nach Sandra Reifert ein Recht auf den Tod?
5. Ist Sie Ihrer Meinung nach auf eine angemessene Weise gestorben?
6. Hätte es für sie andere Möglichkeiten gegeben, zu sterben?
7. Würden Sie ihr ein Anrecht auf einen würdevollen Tod zubilligen?
8. Was bedeutet für Sie in diesem Zusammenhang „würdevoll“?
Nachdem Stefan den Fragebogen fertigt gestellt hatte, bemerkt er, dass er für sich eigentlich schon Antworten zu allen Fragen gefunden hat. Oder besser, sich seine eigene Meinung gebildet hat und für sich jetzt Klarheit hat. Auch wenn die Gesellschaft über diese Fragen keine Klarheit hat. Nein, noch viel mehr. Sie weigert sich auch nur über diese Fragen nachzudenken. Als hätte sie Angst vor den Antworten. Stefan merkt, wie wütend er wird. Dieses sich-nicht-beschäftigen-Wollen ist schon ein Teil der Würdelosigkeit des Todes. Die Ignoranz, die gewollte Blindheit. Macht doch die Augen auf.
Einige Tage später ruft ihn die Rechtsanwältin an. Sie teilt ihm mit, dass sie leider keine Antworten wegen der Schweigepflicht auf seine Fragen geben kann. Stefan hat fast damit gerechnet. Es macht ihm eigentlich nichts aus.
13 Die deutsche Geschichte
Leider hat die Anwältin seinen Chef informiert. Am nächsten Morgen muss er ins Büro des Staatsanwalts. Schon der bluthochdruckgefärbte Kopf lassen Stefan nichts Gutes ahnen.
„Ich dachte, ich hätte mich in dieser Frage eindeutig ausgedrückt. Das ist nicht ihre Privatsache. Es geht hier um einen offiziellen Fall, der abgeschlossen ist. Sie haben da nicht Ihre eigenen Ermittlungen anzustellen. Auch wenn Sie hier gegenüber den Befragten ehrlich als Privatmann auftreten, hat es immer noch einen offiziellen Anschein. Zum letzten Mal. Unterlassen Sie Ihre Nachforschungen. Sonst gibt es eine Dienstaufsichtsbeschwerde.“
Stefan verlässt mit kurzem Nicken das Büro. Hoffnungslos erneut zu versuchen, seine Motivation deutlich zu machen. Aber eigentlich will er nur noch den Arzt und den Richter befragen. Er entschließt sich, dies in einer allgemeineren Art ohne direkten Bezug zu diesem Fall zu tun. Er kann nicht verstehen, dass niemand außer ihn dieser Fall weiter zu beschäftigen scheint. Als wollte jeder die Frage nach dem Sterben verdrängen, nichts damit zu tun haben. Worüber ich nicht nachdenken will, das gibt es auch nicht.
Der Richter, der über den Fall von Sandra Reifert zu entscheiden hatte, empfängt Stefan sehr freundlich. Stefan hatte ihm als Grund für das Treffen genannt, dass er sich in seinem Beruf oft mit Selbsttötungen zu beschäftigen hat und da einige juristische Fragen hätte. Der Richter war sofort zur Auskunft bereit.
Nach einigen belanglosen Fragen, um sein wahres Anliegen zu vertuschen, kommt Stefan zu seinem eigentlichen Thema. Der Richter zeigt sich erstaunlich progressiv.
„Die Gesetzeslage hinkt da hinter der Realität deutlich hinterher“, gibt er freimütig zu.“ Als Sterbehelfer stehen Sie ja immer mit einem Bein im Knast. Hilfe zur Tötung, unterlassene Hilfeleistung, die Liste der Straftatbestände ist lang. Als Richter habe ich da gar keine andere Möglichkeiten zu entscheiden. Der kurioseste Fall war eine Frau, die ihr Recht auf einen würdevollen Tod einklagen wollte. Der Staat sollte dies ihr ermöglichen.“ Stefan blickt zufrieden auf. Das hat er sich erhofft.
„Juristisch vollkommen unmöglich. Wen soll man dazu verurteilen? Ein Gericht verpflichtet jemanden, einen Menschen umzubringen. Unvorstellbar. Dabei schien die Frau ganz normal, wenn man das so sagen kann. Sie wirkte nicht depressiv, auch nach Aussage ihres Arztes waren keine Anzeichen einer psychischen Erkrankung zu erkennen.“
„Aber warum wollte sie dann sterben?“ wirft Stefan ein.
„Einen offensichtlichen Grund gab es nicht. Sie wollte einfach ewig schlafen. So nannte sie das jedenfalls. Und, es mag sich komisch anhören, aber für sie schien es das normalste der Welt zu sein. Und ich habe es ihr geglaubt. Ich konnte ihr aber nicht helfen.“
„Das heißt, Sie billigen ihr grundsätzlich das Recht auf den Tod zu, auch wenn keine für Sie ersichtliche Begründung vorliegt?“
„Ich bin der tiefen Überzeugung, dass jeder Mensche über sich, damit also auch Leben und Tod, bestimmen darf. Niemand kann ihm dieses Recht nehmen. Wenn wir da Ausnahmen machen würden, wäre da eine Schleuse geöffnet, die nicht mehr zu schließen ist. Das beinhaltet meiner Meinung nach auch den Tod. Die Durchführung ist natürlich eine ganz andere, viel problematischere Sache, auf die ich auch keine Lösung habe.“
„Können Sie sich vorstellen, warum die Gesellschaft dieses Problem so tabuisiert?“
„Gerade in Deutschland haben wir natürlich aufgrund der Geschichte eine große Angst, uns damit auseinander zu setzen,“ erklärt der Richter.
„Müssen wir uns von der deutschen Geschichte nicht befreien? Wir dürfen sie nicht vergessen, ohne Frage. Aber die Zeiten haben sich geändert. Heute ist Leben beinahe endlos erhaltbar, aber zu welchem Preis, zu welcher Qual. Derjenige, der Sterben will, muss er nicht sterben dürfen und zwar möglichst schnell und möglichst schmerzfrei? Das hat meiner Meinung nach nichts mit Euthanasie zu tun. Das war gegen den Willen der Menschen, Ich spreche aber von dem Einverständnis der Menschen, von ihrem ausdrücklichen Wunsch.“ Stefan merkt, dass er fast eine politische Rede gehalten hat.
Der Richter nickt. „Ich bin ganz Ihrer Meinung. Aber ich bin leider die falsche Adresse.“
Auf dem Nachhauseweg ist Stefan mal wieder sehr nachdenklich. Er merkt, dass sich sein Verhalten im Laufe seiner Recherchen deutlich verändert hat. Zunächst war er nur auf der Suche nach Antworten. Antworte auf die Fragen: Warum hat ein Mensch den Wunsch, einfach, anscheinend grundlos, zu sterben? Diese Frage bleibt unbeantwortet, aber damit kann er leben. Hat dieser Mensch, das Recht zu sterben? Dieser Frage beantwortet er mittlerweile uneingeschränkt mit ja. Hat dieser Mensch auch das Recht, dass man ihm beim Sterben hilft, um es für ihn würdevoll zu ermöglichen? Und auch in dieser Frage hat sich für Stefan im Laufe der Zeit ein ja ergeben. Er merkt, dass er über den Zustand der Suche und des Findens hinausgegangen ist. Für ihn stellt sich jetzt die Frage, wie man das umsetzten kann. Was er aktiv dafür tun kann. Er war ja schon im Laufe seiner Ermittlungen auf so viele Widerstände gestoßen, wie hoch werden erst dann die Hindernisse sein, wenn er das aktiv umsetzten will. Ihm ist auch klar, dass das große Probleme für seine Ehe und seine Familie bedeuten. Dieser Drang, etwas zu tun, wird seine Frau nicht tolerieren. Ist er bereit, das auf sich zu nehmen? Er weiß es nicht.
14 Sterbeärzte
Auf Stefans Liste verbleibt nur noch der Arzt, dessen Adresse ihm Frau Reifert gegeben hatte. Der Arzt des Vertrauens von Sandra.
Ihm ist nicht ganz klar, wie er mit ihm ins Gespräch kommen sollte. Er entschließt sich ein letztes Mal, ganz ehrlich zu sein.
„Auch ich will mit Ihnen ganz ehrlich sein“, eröffnet der Arzt seine Antwort. „Eigentlich darf ich Ihnen zu diesem Fall aus ärztlicher Schweigepflicht gar nichts sagen. Das ist klar. Lassen Sie uns also ganz allgemein zu diesem Thema sprechen. Ich tue mir sehr schwer bei einem gesunden Patienten mit Todeswunsch zu sagen, gut, dass ist seine Entscheidung ich helfe ihm. Obwohl ich natürlich an die Selbstbestimmung des Menschen glaube. Die Grenzen sind so fließend, dass man das gar nicht regeln kann. Das ist nicht in einem Gesetz formulierbar.“
Stefan sieht das genauso.
„Aber glauben Sie nicht, dass die Ärzte da einfach zuschauen. In den Krankenhäusern gibt es die unterschiedlichsten Formen von Sterbehilfe. Da wird wegen der Gesetzeslage natürlich nicht veröffentlicht.“
„Aber ist gerade dieses Verborgene nicht das Unwürdige. Können gerade im Verborgenen nicht Sachen passieren, die der Patient eigentlich doch nicht gewollt hat? Weil mit ihm nicht offen gesprochen werden kann“, erwidert Stefan.
„Da mögen Sie wohl recht haben. Aber es ist halt nicht zu regeln. In den Niederlanden gibt es zwar Vorschriften, aber das ist meiner Meinung nach nur der klägliche Versuch, eine bestehende Praxis in eine Regelung zu gießen. Im Endeffekt hält man sich auch nur pro forma daran.“
Stefan lässt nicht locker. „Trotzdem finde ich, dass die Aufgabe der Ärzte in diesem Bereich neu definiert werden muss. Es geht nicht mehr nur um Lebenserhaltung. Die ist mittlerweile durch die Apparatemedizin problemlos und beinahe endlos möglich. Muss ein Arzt nicht mittlerweile auch die Sterbebegleitung übernehmen? Sterben ist heute nicht mehr so einfach möglich. Hänge ich erst einmal an der Maschine, kann ich nicht so einfach sterben. Sterben ging früher viel schneller, heute ist es mitunter eine lange Qual. Ist da nicht die Aufgabe, diese lange Qual zu verkürzen. Brauchen wir nicht Sterbeärzte?“ Der Arzt schaut verblüfft. „Das wird sich nie durchsetzen lassen. Welcher Arzt wird so eine Aufgabe übernehmen. Umzubringen anstelle zu heilen. Und ich gebe immer noch zu bedenken, dass dies auch missbraucht werden kann. Wer mir nicht genehm ist, der wird umgebracht.“
„Das spricht meiner Meinung nach noch mehr für Experten, die nicht nur medizinisch, sondern auch psychologisch ausgebildet sind.
Man braucht Experten, auch wenn Sie sagen jeder kann sich mit hundert Aspirin selbst umbringen. Können Sie mir garantieren, dass dies auch funktioniert? Dass ich danach nicht trotzdem aufwache, behindert und hilflos. Das sollte man doch nicht dem Patienten überlassen. Wenn einer eine Krebsdiagnose hat, sagt man ja auch nicht, sie wissen doch , dass man jetzt eine Chemotherapie durchführt, machen sie das mal alleine. Für viele Medikamente gibt es eine Rezeptpflicht. Man vertraut also nicht auf die Verantwortung des Patienten. In so einer Phase gibt man sie ihm dann aber zurück, lässt ihn alleine, obwohl er davon genau so wenig Ahnung hat, wie von einem Antibiotikum?“
Der Arzt kann dem nichts entgegen setzen. Er hält die Idee für nachdenkenswert, aber für nicht realisierbar. Stefan verlässt ihn und merkt, dass er den Besuch nicht mehr gebraucht hätte. Er ist der Frage des Warum nicht näher gekommen. Immer kann er sich noch nicht erklären warum Sandra ewig schlafen wollte. Warum wollte sie nur sterben? Frau Reifert hatte wohl von Anfang an Recht gehabt. Es bleibt nur, dies zu akzeptieren. Wie wir Menschen ganz viele Dinge einfach hinnehmen müssen, wie Krankheit, wie Tod. Wie machtlos wir doch sind bei unserem Allmachtsanspruch. Wir denken, jeden Tag im Griff zu haben, dabei haben wir gar nichts im Griff. Vielleicht hat Britta mit ihrem festen Glauben gar nicht so unrecht. Sie akzeptiert zumindest, dass es eine höhere Macht gibt, der wir Menschen uns unterwerfen müssen. Sie stellt sie nicht in Frage. Ob wir sie nun Gott, Natur oder Schicksal nennen. Verändern können wir sie nicht, auch wenn wir sie in Frage stellen. Wir haben unsere Begrenztheit zu akzeptieren. Genau wie den Wunsch von Sandra. Das Leben ist so vielfältig, der Tod anscheinend auch. Wir können ihn nur hinnehmen. Für diese Frage hat Stefan Ruhe gefunden.
Anders sieht es bei der Frage aus, ob Sandra nicht würdevoller hätte sterben können. Diese Frage meint Stefan mittlerweile eindeutig mit ja beantworten zu können. Momentan tun wir, als würde es diese Frage nicht geben. Aber sie stellt sich jeden Tag und immer dringender, je größer der medizinische Fortschritt voranschreitet. Wer sich um das Leben kümmert muss sich auch um das Sterben kümmern. Momentan tun wir einfach so, als gäbe es diese Frage gar nicht. Oder beschäftigen uns nur in Ansätzen damit. Aber die alten Antworten reichen nicht mehr. Nicht nur das Leben ist länger geworden, auch das Sterben und damit mitunter auch qualvoller. Um diese Tatsache kommen wir nicht herum. Damit müssen wir uns beschäftigen und können die Menschen sich nicht selbst überlassen. Eigentlich sollte man die Ärzte einen zweiten Eid schwören lassen: Wenn Leben nicht mehr würdig möglich ist, muss er für ein kurzes, schmerzfreies und würdiges Sterben sorgen. Vielleicht brauchen wir spezielle Sterbeärzte.
Momentan überlassen wir die Sterbenden, bis auf kleine Ansätze sich selbst. Und drücken uns um dieses Problem. Für danach haben wir eine Müllabfuhr eingerichtet, aber das reicht nicht. Trotz aller Probleme, die sich mit der Strebehilfe und deren Missbrauch ergeben, muss man sich ihr stellen und Lösungen finden. Wir können nicht mehr davon laufen.
Stefan muss sich korrigieren. In dieser Frage hat er für sich Klarheit gefunden, nur akzeptieren kann er das Jetzt nicht. Er will aktiv werden. Beim Richter und beim Arzt hat er sich schon dabei ertappt, Plädoyers zu halten. Es ging nicht mehr um Erkennen, es ging um Überzeugen. Es waren nur die falschen Personen. Er spürt diesen Drang in sich etwas tun zu wollen. Er weiß nur noch nicht was und wie. Er weiß auch nicht, welche Auswirkungen es auf ihn und seine Familie haben wird. Er denkt an seine kleine Tochter, die sich natürlich darum noch keine Gedanken macht. Soll sie auch nicht, sie soll unbeschwert leben. In seinem Kopf hat sich aber dieser Gedanke festgesetzt. Er wird nicht mehr weichen. Stefan wird etwas unternehmen.
15 Bahngleise
Sandras Entschluss steht nun endlich fest. An wie viele Stellen hat sich gerichtet, mit der Bitte ihr doch zu helfen. Sogar ein Gericht hat sie angerufen und trotz eines netten Richters, bekam sie die Antwort, die ihr immer gegeben wurde. Wir können Ihnen nicht helfen. Sie dürfen nicht sterben. Wer will das entscheiden? Wer maßt es sich an, über mein Leben, nein über mein Weiterleben zu entscheiden? Sie kann das nicht verstehen. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Gehört dazu nicht aus das Sterben?
Genug jetzt, genug für sie, für die anderen. Sie wird jetzt diese Lösung auf sich nehmen, obwohl sie das sich und vor allem der Umwelt, insbesondere ihrer Mutter, ersparen wollte. Man kann ihr nun wirklich nicht vorwerfen, dass sie sich nicht genug bemüht hätte.
Ihr Bettzeug unter dem Arm geht sie die Gleisen entlang. Ihr Lieblingsbettzeug, in dem sie als Kind immer so selig geschlummert hat. In einem Waldstück hat sie den richtigen Platz gefunden. Hier ist alles so friedlich, so ruhig. Hier wird sie ewig schlafen können, das spürt sie. Sie macht ihr Bett auf den Gleisen zurecht, kuschelt sich in die Decke, riecht an dem Kopfkissen, dieser altbekannte beruhigende Kindheitsgeruch. Dann schläft sie sanft ein. Das leichte Vibrieren der Gleise spürt sie schon nicht mehr.
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2008
Alle Rechte vorbehalten