Diesmal nicht
Das Wummern gegen die Tür dringt kaum zu Frank vor. Nur ein dumpfes Geräusch schlängelt sich durch den Nebel in seinem Gehirn. Neben diesem Wummern in diesem Nebel Vorwürfe, Hass, alles gegen sich selbst, Versagen, das Gefühl eine Null zu sein. Das Wummern hört nicht auf, einzelne Buchstaben und Wortfetzen verdichten den Nebel. Er versucht sie zu entziffern, den Schleier wegzuschieben, aber ohne Erfolg. Er orientiert sich. Woher kommt dieses Wummern? Er kann kaum die Richtung bestimmen, kommt in seiner eigenen Wohnung nicht mehr klar. Seit wann, weiß er nicht. Was weiß er überhaupt? Frank kann sich nur an dieses altbekannte Gefühl erinnern, die Kontrolle zu verlieren. Es schleicht sich irgendwie von hinten unten in die Gehirnwindungen, wie Nebel steigt es auf, er kann die anderen Gedanken plötzlich nicht mehr sehen, nicht mehr wahrnehmen. Er spürt nur diesen Kontrollverlust. Und dann steigt diese Angst in ihm auf. Der Nebel macht ihm Angst, er fühlt sich bedroht, weiß, dass der Angriff kommen wird, weiß nicht wann, weiß nicht woher, aber er kommt, ganz sicher. Und wenn er dann kommt ist er hilflos, wie immer hilflos, wie beim ersten Mal.
Wie oft hat er das in der Therapie besprochen, dass die Entscheidung zum Saufen viel früher fällt, als er meint. Schon bevor der Nebel aufsteigt, ist die Entscheidung gefallen. „Aber wer entscheidet das?“ schreit Frank heraus. „Ich nicht, ich will das nicht. Wer entscheidet da für mich?“ Da haben sie dann keine Antwort, die allwissenden Therapeuten, verweisen immer darauf, dass er sich das nur einbildet. Er müsse nur die Zeichen richtig wahrnehmen und deuten.
Frank ist verzweifelt. Das einzige Zeichen, das er wahrnimmt, ist dieser Nebel, der sich auf seine Gefühle legt, aber dann ist es schon zu spät. Sagen sie. Aber was er tun soll, um es früher zu erkennen, sagen sie nicht. Und da war dann auch der Angriff. Erwartet und trotzdem unerwartet, er wusste, dass er kommt, aber nicht woher, nicht wann und ist deshalb jedes Mal wieder überrascht wieder schockiert, wie hilflos er ist. Wer hat nur diese Macht über mich?
Wie ein ferngesteuerter Roboter besorgt er sich den Alkohol, komme was wolle. Der Nebel lichtet sich, wie in gleißendem Licht steht dieser Wunsch, dieser Zwang da und nichts anderes kann er mehr sehen. Der erste Schluck, der so beruhigt, der diese Spannung löst, der zweite, der dritte, ein jeder löst die Spannung ein wenig mehr.
Mehr, mehr davon, ich kann den Druck nicht mehr ertragen.
Und dann läuft es einfach, eine Flasche ergibt die nächste, er verliert wieder die Kontrolle, aber irgendwie anders als vor dem Alkohol. Diesmal ist alles ganz klar, der nächste Schluck, der nächste Schluck, nur der nächste, alles ganz klar und so einfach. Es ist so einfach.
Dann kommt der Nebel wieder, diesmal ein anderer, ein gnädiger und alles verschwindet unter weißer Watte, alles nimmt Frank gedämpft wahr, wie dieses Wummern, das immer noch nicht aufgehört hat.
Er kann nun zumindest die Richtung orten aus der die Geräusche kommen. Es hört sich an, als ob jemand mit der Faust gegen die Tür schlägt. Er torkelt in die Geräuschrichtung, stößt dabei irgendwo an, er spürt es aber nicht wirklich, wieder nur gedämpft, irgendwo im Nebel taucht ein Schmerz auf, aber irgendwie richtungslos, nicht zuordnenbar, war es Arm, Bein, Hüfte? Weiter Richtung Klopfen, Wummern, nun wird es lauter, scheint die richtige Richtung zu sein. Frank lehnt sich gegen die Wohnungstür, tastet die Tür ab nach der Klinke, die er nicht sehen kann, der Nebel wie gesagt. Die Tür ist auf, er fällt mit ihr in den Flur, Stimmengewirr umrauscht ihn, nicht identifizierbar, was die Stimmen sagen, Nebel, alles Nebel. Irgendwer hebt ihn auf, schüttelt ihn, legt ihn wieder hin, Frank kommt es wie eine Ewigkeit vor, bis er wieder hochgezogen wird, bis ihm irgendetwas angezogen wird, es schmerzt auf der Haut, schmerzender Stoff auf seiner nackten Haut, der Nebel wird mit Macheten zerschnitten.
Als Frank aufwacht hat der Nebel Platz gemacht, Platz für die Enttäuschung, für das Versagen, wieder hier gelandet zu sein. Seine Augen sehen ein bekanntes Bild. Diese Decke, diese siebziger-Jahre-Plastikdecke, in diesem siebziger-Jahre-grün, so wie die Telefone, all das kommt ihm mehr als bekannt vor. Das bedeutet nun wieder zwei Wochen der Entgiftung, zwei Wochen der Begegnung mit anderen Säufern, mit denen er meint, nichts gemein zu haben, die ihm so fremd sind, diese armen Kreaturen, die ihr Leben nicht im Griff haben. Fast verächtlich denkt er an sie.
Die Tür geht auf und herein kommt die Ärztin, die er auch schon zu gut kennt, wie ein alte Bekannte, die man mag, aber eigentlich doch nicht sehen will. Zwiespältig.
„Na, hatten wir Sehnsucht?“ Er mag sie für ihren Zynismus, mit dem kann er umgehen, meint er, denn irgendwie getroffen ist er doch von ihrer rhetorischen Frage, verstärkt das Versagensgefühl. Er sagt es ihr nicht. „Ihr habt so schöne Zimmer hier und der Service ist spitze“, antwortet er flachsend, so kennt man ihn, immer einen lockeren Spruch parat, auch wenn er in sein Grab schaut. Die Blutwerte sind katastrophal, die Male sind gezählt, die Leber macht nicht mehr mit, er weiß es, das braucht sie ihm nicht zu sagen. Scheiß-Leber. Was ist eine kaputte Leber gegen ein kaputtes Leben?
Frank fährt reflexartig mit seiner Zunge im Mund herum. Ja, da sind sie, die Löcher in der Schleimhaut, die den Zusammenbruch des Immunsystems zeigen, Mundfäule nennt Frau Doktor das, ein grässliches Wort, so ehrlich, sonst ist doch alles Latein.
Frank liegt auf Station 43. Station 43 heißt alles abzugeben, die Freiheit, die Selbstbestimmung, heißt Körper zu sein, mit dem man macht, Türen ohne Klinke, Menschen ohne Kontakt, alles zu ihrem Schutz.
Schutz vor was?
Station 43 heißt Tabletten, viele Tabletten, Bluttests, Visiten, Langeweile, 3 Räume für 24 Stunden, ein Fernseher, ein paar abgegriffene Bücher, ein Gemeinschaftstelefon, von dem man aus kostenpflichtig anrufen kann. Wen soll Frank anrufen? Wieder einmal von Station 43 anrufen, wieder einmal eingestehen, 43, 43, immer dasselbe, wie ein Sprung in der Platte, Frank will keinen anrufen, will alleine sein, auf 43 ist man nie alleine.
Station 42 beendet die Langeweile ein bisschen, wenn die Blutwerte besser, die Mundfäule abgeheilt. 42 heißt Ausgang, Alkoholkontrolle beim Zurückkehren, eigenes Handy haben, heißt absehbares Ende des Entzugs. Frank fühlt sich besser, körperlich gesehen, gefühlsmäßig weiß er es nicht. Der Nebel ist zwar nicht da, aber was ist da, wenn der Nebel weg? Wenn er das nur wüsste. Was soll denn da sein? Was ist bei all denen, die immer alles im Griff haben? Kann ihm das mal einer sagen?
Frank traut sich seine Freunde anzurufen. Ich bin auf 42. 42 ist besser als 43, ist nur halber Absturz, ist schon wieder auf dem Weg der Besserung, es geht wieder aufwärts, wieder ins normale Leben. „Das habe ich noch mal gebraucht, dieser Absturz hat mir gezeigt, wie ich es jetzt anfangen muss.“ Glaubt ihm noch einer? Frank spürt die reservierte Reaktion der Freunde. Er kann es ihnen nicht verübeln, ist trotzdem getroffen, ich rufe den Nebel nicht. Bin die Angriffe selbst leid.
Auf einem Ausgangstrip geht er mit seinem Zimmernachbarn in seine Wohnung. Auf 42 liegen immer zwei auf einem Zimmer. Zurück zur Kindheit oder vorwärts ins Alter, Privatsphäre wozu?
In der Wohnung das übliche Bild der Verwüstung, das Frank selber immer wieder entsetzt. Der Teppich übersät mit leeren Flaschen, eingetrocknetem Bier, Brandflecken von Zigarettenstummeln, ein Wunder, dass er noch nicht verbrannt ist, Gestank aus dem Kühlschrank, und immer wieder Flaschen und Kronkorken. Er reißt die Fenster auf, um den Gestank rauszulassen, schämt sich vor seinem Zimmernachbarn, der winkt nur ab, man hat Erfahrung. Die gewohnte Prozedur beginnt, Säuberungsaktionen und trotzdem bleibt irgendwie Chaos, verbrannte Erde, nicht mehr aufforstbar. Warum immer wieder zurück?
„Na, das ist wohl das letzte Mal“, spricht Frank zu seinem Zimmernachbarn, zu sich selbst? Das sagt er oft, vor allem zu seinen Freunden, sie glauben es nicht mehr. Frank ist aufgegeben, er sich selbst auch.
Heute wird er entlassen aus der 42, aus der Klinik gesamt, geht zurück zur verbrannten Erde, soll da wieder wohnen, arbeiten gehen. Man stellt ihm einen Sozialarbeiter zur Seite, den er zwei Mal in der Woche aufsucht.
Das Telefon geht, diesmal ist es nicht abgestellt, Frank ist ganz verwundert, nimmt ab. Eine Freundin will ich begrüßen, will ihm alles Gute wünschen, Frank lächelt ihr zu, sie kann es natürlich nicht sehen. Ist es ein echtes Lächeln, ist es spöttisch, zynisch? „Mach Dir keine Sorgen. Diesmal passiert mir das nicht wieder. Diesen Absturz habe ich noch mal gebraucht. Ich weiß jetzt den Weg. Es gibt keinen Rückfall mehr. Diesmal nicht.“
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2008
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