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Inhalt

Der Anruf

Der Kreislauf

Die Rolltreppe

Die zwei Wartenden

Ich starre auf den Teller

Ohne mich

Rastplatzsucht

Sehnsucht

The one wrong fuck

Urlaubsblues


Der Anruf


Er hatte seinen Vater schon seit Jahren nicht mehr gesehen und er musste zugeben, dass er kaum an ihn dachte, noch vielmehr, dass er sich fast gar nicht mehr an sein Aussehen erinnern konnte.

Da kam der Anruf seiner Schwester.

Die Beziehung zu seinem Vater war nie gut gewesen. Obwohl das nicht richtig war. „Nie gut“ würde etwas beschreiben, was da gewesen wäre, einen Zustand. Aber es war nie etwas da gewesen, quasi eine Nichtbeziehung, ein Nichtvater, der nie wusste, was in der Schule lief, ob er gute oder schlechte Noten mit nach Hause brachte, ob es ihm gut ging oder nicht gut ging, ob er Pubertätsprobleme hatte oder nicht.

Und dann kam dieser Anruf.

Zunächst hatte er immer gedacht, dass das die Schuld seines Vaters war. Aber viel später, als er schon erwachsen war, konnte er ein Fotoalbum mit anderen Augen betrachten, konnte sehen, dass sein Vater seinen kleinen Körper glücklich anschaute, ihn in den Armen hielt, ihn zärtlich küsste. Und er fragte sich, was den Vater, der er auf den Fotos offensichtlich war, zu einem Nichtvater gemacht hatte.

Er denkt oft an diesen Anruf.

Im familiären Leben war dieser Nichtvater immer nichtexistent, nichtsichtbar, obwohl jeder wusste, dass es ihn gab. Deshalb wäre die Bezeichnung Geist auch falsch, eher ein Phantom, durch das er direkt betroffen war, das sein Leben beeinflusste. Er und die anderen Familienmitglieder passten sich amöbengleich, knochenlos an dieses Phantom an, damit es sie nicht bemerkte, damit sie es nicht bemerkten. Badezimmerzeiten arrangierten sich um sein Aufstehen, Frühstückszeiten organisierten sich um seinen morgendlichen Hustenanfall nach dem ersten Zug, Kartenspielrunden lösten sich auf, wenn es den Schlüssel in das Haustürschloss steckte.

Er fragt sich, ob der Anruf etwas verändert.

Nach der Trennung der Eltern versuchten er und seine Schwester beiden Seiten gerecht zu werden, teilten sich auf, damit der Nichtvater und die Mutter nicht allein sein mussten, weil sie nicht allein sein konnten, nicht allein ihre Ängste erleben wollten, die Unerwachsenen trösteten die Erwachsenen, die Kinder die sich Scheidenden, wo blieb nur ihre Kindheit? Ständige Rechtfertigungsforderungen des Nichtvaters an ihn ob des Kontakts zur gegnerischen Seite, zum Feind, Kameradenschweingefühle führten zum Bruch mit ihm, zum Bruch dieser Nichtbeziehung, die doch eigentlich nicht brechen konnte, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, trotzdem war das Nachhernichts ein anderes.

Er spürt, dass der Anruf etwas verändert.

Einige Zeit später ereilte seine Schwester das gleiche Schicksal, das des Nachhernichts. Sie hatte nicht geglaubt, nicht glauben wollen, dass da ein Vorhernichts war, aber als das Vorhernichts ihr immer öfter Nichtachtung entgegenbrachte, Nichtrespekt zeigte, merkte sie, dass Nichts keine Liebe sein kann, egal ob vorher oder nachher. Sie hatte nach Jahren ihrem kleinen Sohn zu Liebe wieder Kontakt zu dem Nachhernichts aufgenommen, ohne der Illusion zu unterliegen, dass aus dem Nichts ein Etwas wird. Der Sohn soll aber, wenn groß, selbst entscheiden, ob er einen Opa oder einen Nichtopa hat, vielleicht wird es für ihn ein Etwas geben, genannt Altersweisheit. Auf dem 67. Geburtstag des Nichtvaters nahm die neue Nichtehefrau die Schwester beiseite. Der Nichtvater holte sie im Büro in der Schlafanzughose ab, vergaß brennende Zigaretten, manchmal fehlten ihm die Worte, die Autofahrt zum langjährigen Urlaubsort war nicht mehr möglich. Dem Nichtvater drohte das Nichts, leugnete es aber aus Angst vor der Nichts-Diagnose.

In seinem Inneren bemerkt er ganz zart und versteckt, dass nach dem Anruf aus dem Nichts eine wage Ahnung von einem Etwas werden kann.


Der Kreislauf


David ist unterhalb eines Friedhofs groß geworden. So seinen Kindheitsort zu beschreiben klingt makaber, war es aber nicht. In dem Dorf, in dem er aufgewachsen ist, liegt die Kirche auf einem kleinen Hügel. Eine für dieses kleine Dorf große, fast zu große Kirche aus Backsteinen mit bunten Fenstern und einem hohen Kirchturm. Zu ihrem Fuß liegen eben jener Friedhof, das Pfarrhaus und das Gemeindehaus, in dem der Hausmeister mit seiner Familie wohnte. In Davids Bewusstsein waren der Friedhof und die Kirche etwas ganz normales, das einfach zu seinem Leben dazu gehörte. Der Friedhof bedeutete für ihn nicht Tod, sondern war ein idealer Platz zum Spielen, auf dem es viel zu entdecken gab. Hier war das Grab seiner Omi ( so nannte er die Großmutter mütterlicherseits) und wenn er nach Hause kam, sagte er immer: „Ich habe Omi besucht.“ Die Kirche war nicht diese staubige, verkrustete Institution sondern ein Gebäude mit ein paar Bäumen darum, an dem es sich vortrefflich verstecken spielen ließ, das zu Kindheitsphantasien inspirierte. In der Gemeinde fühlte sich David wohl und geborgen. Jeden Freitag gab es die so genannte Jungschar, in der sich die gleichaltrigen Kinder des Dorfes trafen, um zu spielen, um zu basteln oder Ausflüge zu machen. Jeden Sonntag um 11 Uhr war der Kindergottesdienst, in dem die Kinder ganz vorsichtig und behutsam an den christlichen Glauben und die Bibel herangeführt wurden ohne missionarisch zu sein, wo das Erntedankfest mit einem über und über mit Obst und Gemüse beladenen Altar gefeiert wurde, in dem den Kindern vom Pastor die Füße gewaschen wurden, um zu erklären, warum Jesus dies tat. Sarah war die älteste Tochter des Hausmeisters und im gleichen Alter wie David. Sie beide verband eine Sandkistenfreundschaft, man traf sich jeden Tag, um an der Kirche, auf dem Friedhof, im Gemeindehaus zu spielen, was natürlich nicht erlaubt war. Am Friedhof gab es eine kleine Müllhalde, auf der die alten Blumen, Töpfe und Kränze lagerten, bis sie abgeholt wurden. David und Sarah plünderten diese Müllhalde auf der Suche nach noch guten Blumen, die man zu einem Strauß gebunden den Müttern mitbringen konnte. Sie waren nicht begeistert, für sie waren es Totenblumen. Sie konnten es nicht verstehen. Sie suchten nach so genannten Schiffchen, die Kränze verschönern sollten , aber viel besser dazu geeignet waren, auf dem Wasserbassin, das einen Wasservorrat zur Bewässerung der Gräber hielt, fahren gelassen zu werden. Sie trieben ihren Unfug mit dem Gemeindesekretär, der sie immer sehr streng zurecht wies, verknautschten seinen Filzhut, der korrekt an der Garderobe draußen hing, und warteten in ihrem Versteck bis er herauskam und sie seinen Ärger beobachten konnten. Sie spielten Modenschau in dem Gemeindesaal, in dem Säcke über Säcke für die Altkleidersammlung abgegeben wurde. Sie wurden aufgerissen, Kleider, Hüte, Mäntel herausgezerrt und angezogen, bis Sarahs Mutter hereinkam, den Rest kann man sich denken. Lange Zeit hat er diese Orte nicht mehr besucht, fand es spießig, hat sich auch mit der Kirche überworfen, war ausgetreten, aus diesem konservativen Verein, der seine Lebensweise nicht akzeptiert. Das Leben verschlug ihn in eine andere Stadt, hunderte Kilometer entfernt von den Orten der Kindheit. Heute hat David Sehnsucht und besucht diese Orte der Kindheit, so bald er nach Hause kommt. Er schlendert alleine über den Friedhof, schaut sich die Müllhalde an, das Wasserbassin, die Zeit scheint hier stehen geblieben zu sein, lugt in den Garten des Gemeindehauses, in dem er so oft gespielt hatte, die Eltern seiner Sandkastenfreundin sind nicht mehr im Dienst; geht um die Kirche, berührt sie, meint Kindheitsgefühle wahrnehmen zu können, jeden einzelnen Stein, jeden Geruch genau zu kennen, die alte, wohlbekannte Geborgenheit durchströmt seinen Körper. Heiligabend geht er, obwohl er aus der Kirche ausgetreten ist, in den Gottesdienst, der immer besonders ergreifend für ihn war, setzt sich ganz an den Rand, so, dass er die ganze Kirche überblicken kann, die Orgel, die Balustrade, den großen Weihnachtsbaum, den Altar und den Spruch an der Wand darüber. David stellt sich an das Grab seiner Omi, das gar nicht mehr ihr Grab ist. Die Pachtzeit war abgelaufen, seine Mutter wollte die Mühe der Grabpflege nicht mehr auf sich nehmen, glücklicherweise war es noch nicht weiterverpachtet worden. Der Grabstein fehlt, die Sträucher sind abgeschnitten, trotzdem überkommt ihn immer noch das Gefühl der Geborgenheit, wenn er hier steht und überlegt, ob er dieses Grab pachten soll, egal wie lange er braucht, um wieder nach Hause zu kommen.


Die Rolltreppe


Noch hat er die Augen geschlossen. Aber er weiß es nicht. Denn er weiß nicht, was Augen aufmachen bedeutet, was Sehen ist, was überhaupt Augen sind. Ganz langsam muss er sich erst daran gewöhnen, dass er diese Dinger hat, um die Welt wahrzunehmen. Versuchweise öffnet er die Lider, ohne auch sie bezeichnen zu können, nimmt zunächst nur Helles war, dann langsam ein paar Schatten, Umrisse, alles verschwommen. Manchmal taucht etwas Rundes in seinem Blickfeld auf, etwas, das Geräusche absondert, Töne, die er nur verschwommen wahrnehmen kann. Natürlich weiß er auch noch nicht, was Hören ist, was Ohren sind.

Doch er lernt schnell und als seine Augen das erste Mal schärfer sehen, Konturen erkennen können, sieht er dieses komische Gebilde, diese Schlange, die anscheinend nach oben führt, sich aber eigenartig abwärts bewegt. Noch darf er Beobachter bleiben, die Zeit scheint noch nicht reif.

Bald aber verändert sich seine Perspektive, er wird heruntergelassen – er empfindet es als heruntergestoßen – von den Armen seiner Mutter und muss diese Schlange von unten betrachten. Sie erscheint ihm plötzlich viel größer, viel länger, viel bedrohlicher. Irgendwer – Mutter, Vater, Oma, Opa, einfach alle - versucht ihn näher, immer näher an sie heranzuführen, nimmt seine Hände und zieht und schiebt ihn in ihre Richtung; er will nicht richtig, aber es gibt kein Pardon. Nun kann er auch erkennen, dass sie sich bewegt, und zwar in seine Richtung, dass sie Stufen hat, die von oben aus dem Nichts ihm entgegenkommen und dann anscheinend im Boden versinken. Irgendetwas erscheint ihm falsch zu sein.

Weiter wird er in Richtung der Stufen gedrängt, immer fordernder, er will nicht richtig, hat Angst, setzt trotzdem seinen Fuß auf die erste sich bewegende Stufe, fällt hin, alles lacht, er hat sich weh getan. Schnell hilft man ihm auf, nur eine kurze Verschnaufpause, dann wird er wieder Richtung Stufe gedrängt, er sucht einen Ausweg, sucht einen Weg außen herum, es gibt ihn nicht.

Mit zunehmender Übung kann er sich halten, läuft auf die erste Stufe, fällt nicht hin, kann auf die zweite springen bevor die erste im Boden versinkt, schafft die dritte, bevor die zweite verschwindet, fällt hin, steht schnell wieder auf, so langsam macht es ihm Spaß.

Er gewinnt an Höhe, immer selbständiger erklimmt er die Stufen entgegen der Fahrtrichtung, entfernt sich von dem Plateau, in dem alles verschwindet, schaut nicht zurück. Mit zunehmender Kraft fällt es ihm leichter, geradezu leichtfüßig überspringt er die Stufen, nimmt zwei auf einmal, der Sog nach unten kann ihm nichts anhaben, meint, bald hinter das Ende der obersten Stufe schauen zu können. Er wird neugierig, weiß nun, dass man sie eine Rolltreppe nennt, will jetzt weiter, meint, stärker als die Abwärtsbewegung zu sein, die kann mir nichts, hört man ihn sagen, ich werde das Ende entdecken, hinter die letzte Stufe schauen. Dass sie abwärts fährt, nimmt er nicht mehr war.

Jetzt kann er auch die anderen Abwärtstreppen sehen, andere Menschen, die nach oben streben, manche auf seiner Höhe, manche über ihm, manche unter ihm, alle versuchen nach oben zu gelangen.

Immer weiter scheint es für ihn zu gehen. Da! Er fällt. Zum ersten Mal seit seinen ersten Versuchen als alle gelacht haben. Er verliert ein wenig an Höhe, fährt ein Stück nach unten, aber schon rappelt er sich hoch, macht den verlorenen Boden wieder gut, gewinnt weiter an Höhe.

Ihm fällt weit hinten eine Treppe auf, auf der ein Mensch nicht weiter nach oben kommt, einer der nach unten fährt. Er vergisst es wieder.

Langsam, unmerklich für ihn, vermindert sich sein Tempo, er kommt nicht mehr so schnell vorwärts, es bedarf eines größeren Kraftaufwandes, aber wie gesagt, er merkt es nicht, vorerst.

Neben ihm taucht eine leere Rolltreppe auf.

Da fällt er ein zweites Mal hin. Man, geht es da rasant runter, er kommt gar nicht so schnell hoch, schnauft ganz schön, will sich ausruhen. Aber schon muss er weiter, hat sich berappelt, nur wieder nach vorne laufen, nur nicht an Höhe verlieren. Er müht sich, strengt sich an, trainiert und schafft den Rückstand aufzuholen, schafft es, weiter nach oben zu kommen.

Er vergleicht sich mit den anderen Rolltreppen, schaut, wo die anderen stehen, auf welcher Stufe, misst sich mit ihnen, mit denen weiter oben, versucht sie zu überholen, ein Wettkampf.

Aber etwas in seinem Bewusstsein hat sich verändert. Er registriert nun seine Verlangsamung, die größere Mühe, die es ihm macht. Er ist der oberen Stufe zwar näher gekommen, aber erreicht hat er sie dennoch nicht. Er kann nicht hinter sie schauen, weiß nicht wonach er strebt. Zum ersten Mal kommen ihm Zweifel, ob er es schafft, das Ende zu entdecken. Nun bemerkt er auch wieder, dass die Rolltreppe abwärts fährt und wundert sich darüber. Er verdrängt den Gedanken.

Wiederum unbemerkt wird sein Tempo noch langsamer. Er ist nicht faul, nicht unwillig, nein, ganz im Gegenteil, er müht sich, nimmt jede Hilfe in Anspruch, trainiert, quält sich, um das Tempo zu halten, um nicht zurückzufallen, mit den anderen Rolltreppen mitzuhalten, es nützt nichts.

Jetzt ist sein Tempo gleich null, er kann nur die Höhe halten, ist immer noch von der letzten Stufe weit entfernt, zu weit, um dahinter zu schauen, weiter nach oben geht es für ihn nicht. Er merkt, dass er nicht mehr genügend Kraft hat, dass sie nur noch ausreicht, um diese elende Höhe zu halten, dass ihm das schon fast zu viel ist. Er wird müde und spürt die Bewegung von oben nach unten, den Sog, den die Treppen ausüben. Zum ersten Mal spürt er das, wie überheblich war er früher. Verfluchte Stufen, verfluchte Treppen, verfluchtes Abwärts, hadert er mit sich, mit der Treppe, ja mit wem eigentlich?

Da, jetzt geht es das erste Mal zurück. Er will es nicht wahrhaben, ist wütend, unternimmt alles, es hilft nichts, langsam aber sicher verliert er an Höhe. Er schließt die Augen.

Er merkt, wie angestrengt er ist. Der Motor läuft auf Hochtouren, die aber nicht mehr die Höchstleistungen erbringen, die er mal erbracht hat. Wut kommt ihn ihm hoch. Schon die Hälfte seines mühsam erarbeiteten Weges hat er verloren, die Hälfte seines Erreichten aufgebraucht, die Höhe, die er so sehr verteidigt hat, muss er immer weiter aufgeben.

Er merkt das Rucken der Stufen. Es lässt ihn wackeln, unsicher auf den Beinen sein. Er muss sich festhalten, muss sich festhalten lassen. Wie oft er mittlerweile gestürzt ist kann er schon nicht mehr zählen. Während eines jeden Sturzes ging es ein rasantes Stück hinunter, der obersten Stufe ferner denn je, der ersten, dem Anfang - jetzt dem Ende -, näher denn je. Ein letzter Kraftakt, mit dem er sich gegen das elende Abwärts wehrt, mit dem er sich auf der untersten Stufe zu halten versucht. Nicht aufgeben, nur nicht die letzte Stufe aufgeben. Er verzweifelt. Er hat Angst.

Noch ein Sturz beraubt ihn seiner Hoffnung. Da liegt er an der Stelle, an der die erste Stufe, die zugleich auch seine letzte ist, im Boden versinkt, nie mehr erscheinen wird, für immer verschwunden. Die Stufe, auf der er zuletzt gestanden haben wird.

Nun hilft ihm auch niemand mehr auf, hebt ihn niemand mehr hoch, drängt ihn zu dieser ersten, letzten Stufe, will, dass er sie betritt. Aus eigener Kraft schafft er es nicht mehr. Seine Augenlider werden schwerer, immer wieder muss er sie schließen, die Abstände bis zum nächsten Öffnen werden immer größer. Bald kann er sie gar nicht mehr öffnen, er ist zu schwach dazu, sie bleiben einfach geschlossen und er vergisst, muss vergessen, was Augen sind.


Die zwei Wartenden


Ich sehe sie aus dem Fenster schauen. Nur noch der Kopf scheint über die Fensterbank zu reichen, klein und verhutzelt hockt sie da, die altmodische Gardine im Rücken, die meine Oma noch Stor nannte, die Sorte von Gardine, die absolut blickdicht sind, so ein graues, verschleiertes Licht im Raum produzieren, alles von draußen abhaltend. Da hockt sie und schaut auf die Straße, in der nicht viel passiert, da nur Wohnhäuser. Sie scheint zu warten, schaut auf und ab, als ob da gleich jemand käme, der sie besuchen will, mit dem sie ausgehen kann, der mit ihr Kaffee trinkt. Aber es kommt niemand, und deshalb frage ich mich oft, auf was oder wen sie wartet. Ich gehe vorbei, will ins Haus, und winke ihr hoch, sie erkennt es graustarig nicht, ich gehe ein Stück zurück, winke überdeutlich, fast grotesk verrenkt, bis sie mich bemerkt, scheu die Hand nach links und rechts bewegt, andeutend, dass sie mich erkannt hat, obwohl ich da nicht so sicher bin.

Ich wohne unter ihr. Von ihr ist fast nie etwas zu hören, kein menschlicher Laut dringt aus ihrer Wohnung, weder in meine, noch in das Treppenhaus. Nur das beginnenden Schleudern ihrer Waschmaschine zeigt an, dass noch Leben in dieser Wohnung, dass da jemand den Knopf gedreht hat, den Wasserhahn geöffnet. Selten verlässt sie die Wohnung, oft tagelang nicht. Davon zeugt auch der überquellende Briefkasten (manche Briefe noch an ihren seit 30 Jahren gestorbenen Mann adressiert), der sie nicht interessiert, nicht kümmert, als solle nichts von dem Leben da draußen ihr Drinnen stören, belästigen. Selbst im Frühling, beim Wiedererwachen des Lebens, von dem die erste sanfte leichte Brise kündigt, die ersten schüchternen Sonnenstrahlen zeugen, bleiben alle Fenster geschlossen, wird zusätzlich noch das Rollo heruntergelassen, draußen soll draußen bleiben, nicht nach drinnen kommen, sollen getrennt bleiben, abgeriegelt, hermetisch.

Nur die drohende Zigarettenneige oder ein Arztbesuch öffnen kurz die Drinnen-Draußen-Grenze, kündigen sich durch ein durchdringendes Knarzen der Tür an; sie gehört längst abgeschliffen, an die sich gehobenen Fliesen angepasst, niemand stört es. In dem Moment, wo man schon meint sich geirrt, sich verhört zu haben, deutet ein schwaches Ächzen der alten Holztreppe, ein „krr, krr“ der einzelnen Stufen an , dass sie doch die Wohnung verlassen hat. Letztendliche Gewissheit stellt sich kurze Zeit später ein, wenn sich dieser ganz bestimmte Geruch unter meiner Wohnungstür hindurchschlängelt, wie osmotisch, da bei mir die Konzentration viel geringer, dieser Geruch nach 50 Jahren Zigarettenqualm und geschlossenen Fenstern, nach säuerlichem Muff, dessen Ursprung ich zunächst gar nicht zuordnen kann. Sie ächzt sich dann die Treppe herunter, die Stufenbretter ächzen gleichlautig mit, beide fast im selben Alter, um dann unten ihr Rollwägelchen aus dem Haus zu drängen, drücken, wuchten bis die Rollen ebenen Boden spüren. Dann zittert sie ängstlichen Schrittes Richtung Kiosk oder Praxis, so klein, so verschwindend, als würde sie gleich in den Boden hineingehen.

Nur einmal in der Woche, da kommt das Draußen in ihr Drinnen, wenn sie Besuch von ihrer Tochter bekommt, die in einer anderen Stadt wohnt, praktischerweise so weit entfernt, dass mehr als ein Besuch pro Woche nicht gesellschaftlich erwartet wird. Vielleicht wartet sie ja auf ihre Tochter, wenn sie da am Fenster hockt, vielleicht meint sie, sie habe sich im Tag vertan oder hofft, dass die Tochter zu einem Spontanbesuch kommt. Wenn das Draußen da ist, dringen auch Geräusche aus der Wohnung, die Stimme der Tochter, da sie nicht nur graustarig sondern auch grauhörig und alles dreimal in Flugzeugdezibel gesagt werden muss. Aber sobald das Draußen die Wohnung wieder verlassen hat, das Drinnen wieder abgeriegelt wurde, kehrt wieder diese totale Stille ein, diese unnatürliche, bei der man dankbar für das Waschmaschinenschleudern ist.

Manchmal kommt sie vom Einkauf mit zwei mickrigen Taschen, die sie auf das Rollwägelchen gehoben hat. Wenn ich dann gleichzeitig nach Hause komme, oder auch schon mal wenn ich sie höre, biete ich mir meine Hilfe an, die sie meist gerne annimmt. Dann darf ich ihr die Taschen in den ersten Stock tragen, vertraut sie mir ihren Haustürschlüssel an, sicher ein großer Vertrauensbeweis, die Grenze zu öffnen, zu überschreite. Sie kommt langsam nachgeächzt, ich schließe die Tür auf, verharre einen Moment, wenn das Schloss aufschnappt, da ich weiß, dass ich jetzt gleich die Luft anhalten muss, dass dieser osmotische Geruch sich gleich meines Körpers bemächtigt, merkt dass meine Geruchskonzentration viel geringer ist, dass er gleich in sämtlich Zellen diffundieren darf. Langsam und vorsichtig versuche ich wieder zu atmen, versuche meine Lungenbläschen zu gewöhnen, wie gesagt Zigaretten und dieser säuerliche Geruch. Ich gehe in die Küche und stelle die Taschen auf den Küchenstuhl. Die Küchenschränke sind wirr zusammengewürfelt. Auf dem Tisch eine dieser Plastikdecken, die beim ersten Funken sofort lichterloh brennen, unter der Decke holzimitierende Kunststoffpanelen, darunter eine runde Neonröhre, die OP-Licht verströmt. Auf dem Tisch stehen hunderte von Schächtelchen, gefüllt mit Tabletten, Pillen, Kapseln, rote, blaue grüne, alle verschieden, einzunehmen zu den unterschiedlichsten Zeitpunkten. Einmal hatte ich sie gefragt, wofür die alle seien, und erst nach einer Stunde konnte ich den Redeschwall bremsen, die Wirkungsweise jede einzelnen Tablette konnte sie beschreiben, wann sie zu nehmen sind, wogegen oder wofür sie ist.

Die Wohnung besteht noch aus drei weiteren Räumen, dem vormals ehelichen Schlafzimmer, an dessen Fenster sie immer wartet, dann noch zwei andere Räume, ein weiteres Schlafzimmer und ein Wohnzimmer, beide gänzlich unbenutzt, wie in einem 50er-Jahre-Museum und vollgestellt bis oben hin, dass man in dem Raum keinen Schritt mehr tun kann.

Sie hatte mich zu ihrem letzten Geburtstag eingeladen, ihrem 85., weil ich immer so hilfsbereit sei. Vielleicht der letzte, sagte sie, Altenstandardspruch. Zusammen mit ihrer Familie durfte ich dann in einer gutbürgerlichen Gaststube ihrer Feier beiwohnen. Sie bekam von dem Gespräch nichts mit, sie sieht auch kaum jemanden, nicht nur wegen des grauen Stars. Ihr zucken immer die Augenlider, anscheinend unkontrollierbar, ihrem Willen entzogen. Auf meine Frage antwortete der pharmazeutisch gebildete Enkel, dass dies von jahrelangem Medikamentenmissbrauch käme, die Hausärzte hätten ihr immer Antidepressiva aufgeschrieben, prophylaktisch.

Mittlerweile hat auch sie sich hochgeächzt, kommt in die Küche, und ich habe schon die Frage auf den Lippen, auf wen sie denn am Fenster sitzend immer so wartet. Aber dann traue ich mich das doch nicht zu fragen, zu intim, vielleicht begreift sich mich auch gar nicht. Vielmehr kommt mir das unbestimmte Gefühl, dass in dieser Wohnung noch jemand anderes ist, ein anderer wartet. Einer der Blut geleckt hat, nein jetzt beginne ich zu verstehen, der säuerlichen Muff gerochen hat. Er scheint ihm anzuzeigen, dass hier bald was zu holen ist, wie eine Aasgeier, der um seine verletzte Beute kreist, bis sie ganz hin ist, wie eine Hyäne, die gackernd und überlegen grinsend auf die schwächer werdende Kreatur wartet. Er sitzt im Wartezimmer des Bahnhofs, und wartet darauf, ob der Zug noch abfährt, ob dieses alte Lok, die eh keinen Passagier mehr befördert, kaum noch von A nach B kommt, voll abgeschrieben ist und ökonomisch wertlos, endlich vom Fahrplan gestrichen werden kann, das Gleis nicht mehr unnütz belegt.

Mir läuft ein Schauer über den Rücken, ich gebe ihr den Schlüssel, mache mich vom Acker, ziehe die Tür fest hinter mir zu, ganz fest, bloß kein ihr-Drinnen in meinem Drinnen, vergewissere mich, dass sie auch zu ist, ziehe in meiner Wohnung alle Klamotten aus, schmeiße alles so komplett in die Waschmaschine, viel blütenduftender Weichspüler, mich schüttelt´s trotzdem noch.

Wenn ich jetzt am Haus vorbeigehe, meine ich hinter dem Fenster zwei Wartende zu sehen, sie und eine Ahnung von ihm, die mich siegesgewiß über ihre Schulter angrinst. Ich weiß nicht, ob sie ihn sehen kann, ich hoffe nicht. Oder gerade doch, vielleicht ist er es ja, auf den sie wartet.


Ich starre auf den Teller



Ich starre auf den Teller. Nicht, dass es da etwas Besonderes zu sehen gäbe. Ich bin mit dem Essen fertig, die Gabel liegt genau parallel zu dem Messer, übrig geblieben sind noch ein paar Soßenschlieren. Er erzählt gerade etwas von seinem Laden, von seinen Kunden. Er ist noch lange nicht mit dem Essen fertig. Er isst immer sehr langsam, schön Gabel für Gabel, und erzählt dabei. Nicht, dass ich wirklich zu hören müsste. Die Geschichten über den Laden und die Kunden sind mir wohl bekannt, in unendlichen Variationen durchgekaut, durchgewurstet. Manchmal schaue ich auf und gebe ein „hm“ oder ein „ja,ja“ von mir, manchmal auch ein böses „habe ich schon mal gehört“, aber eigentlich geschieht das Aufschauen nur, um mich zu vergewissern, ob der Mund sich noch bewegt, ob er noch erzählt oder mit dem Reden aufgehört hat. Mein Gehör kann dies nicht mehr feststellen. Es hat auf Automatik geschaltet, mein Gehirn hört auch etwas, wenn nicht mehr gesprochen wird, kann die Geschichten vollenden, kann Hörversäumtes problemlos ersetzen, ohne dass es zu Verständnislücken kommt. Da ist dann das Auge untrügerisch, da gibt es noch keinen Autopiloten. Gleichzeitig kommt ein Gefühl der Schwere in mir hoch, eine Art Bleimantel, wie beim Röntgen, nur dass er von innen herauskommt, aus dem Brustkorb und sich langsam über den ganzen Oberkörper verteilt. Meine Schultern werden schwerer, sinken herunter, irgendwie fällt der ganze Oberkörper ein, ich komme mir vor, als wollte ich mich ganz klein machen. Auch der Kopf ist schwer, vielleicht starre ich deshalb nach unten. Das Gefühl ist mir eigentlich unerklärlich. Ich habe doch alles, höre ich schon meine Mutter sagen, eine funktionierende Partnerschaft, ein Haus, einen Job, was will man mehr. Beschwer dich nicht.

Ich schaue mal wieder hoch, um eines dieser „hms“ von mir zu geben, weiß aber, dass das nicht mehr lange vorhält, dass ich bald auch was beitragen muss, um das Gespräch in Gang zu halten. Während das Gehirn auf Autopilot läuft, scheint es sich zwei zu teilen, fängt ein anderer Teil des Gehirns an zu denken, als wäre es nicht ausgelastet, unterfordert. Es beginnt Gedanken zu produzieren, einfach um zu denken, um zu arbeiten, um nicht einzurosten. Am unangenehmsten ist mir, wenn es sich dann auf meinen Körper stürzt und in den Tiefen der Organe, der Muskeln, Adern, Bandscheiben und Knochen nach Empfindungen sucht, nach Signalen, Botschaften, die sonst überhört bleiben, weil ein sinnvoller Filter diese Informationen als nicht wichtig aussortiert. Ist erst mal eine solche Botschaft gefunden (gerne im Herzbereich, Rücken ist auch gut), hat mein Gehirn genug Nahrung um alleine weiterzumachen. Dann geht mit ihm die Phantasie durch, überlegt, was das denn für Ursachen haben könnte, was sich daraus entwickeln könnte, ob man damit nicht mal besser zum Arzt ginge. Das scheint das Herz, den Rücken oder was sonst auch immer zu bestärken, dass die gesendeten Informationen richtig waren, dass sie einen Grund haben und deshalb jetzt umso stärker gesandt werden müssen, da wird aus Zwicken ein scharfes Stechen, aus leichtem Drücken ein deutlicher Schmerz.

Um die beiden Gehirnteile wieder zusammenzuführen, zu fokussieren, zwinge ich mich aufzuschauen und irgendetwas zu sagen, irgendwas, was das Gespräch in Gang hält, den Anschein eines Gespräches aufrecht erhält. Er springt auch darauf an, sagt seine Meinung dazu, schmückt sie aus, macht Purzelbäume, dreht es noch mal, erklärt, macht deutlich, was ich schon mit dem ersten Satz verstanden habe.

Da teilt sich das Gehirn schon wieder, stürzt sich diesmal auf das Thema „aus dem Alltag ausbrechen“, diesmal das Kapitel „mal eine Affäre haben“ oder „ein kleines sexuelles Abenteuer“. Sofort zeigt mir mein Auge oder es gaukelt mir vor, zeigt mir ein Abbild, auf jeden Fall scheint dann wirklich der überaus attraktive Typ aus der Umkleide des Fitnesstudios vor mir zu stehen, mir zuzublinzeln, mit mir flirtend in der Dusche verschwindend, wohin ich ihm natürlich folge, um seinen Körper ganz zu bewundern. Gleichzeit schaltet sich dann noch jemand in diese Konversation ein (Kann ein Gehirn sich dreiteilen?) und moralisiert, fragt: „Ist das wirklich Dein Ernst? Denk daran, was Du alles gefährdest“, versucht den zweiten Teil des Gehirns wegzuschieben, klein zu machen, einzupacken. Ich schalte mich auch in dieses Gespräch ein, pflichte dem dritten Teil bei, der zweite trollt sich dann auch, ich bin irgendwie doch enttäuscht, aufregend wäre es ja doch mal gewesen? Muss man immer gut sein?

Er zwingt mich dazu, aus den zwei Teilen wieder einen zu machen, weil er anmerkt, dass ich heute doch etwas schweigsam sei, ob alles in Ordnung ist. Ich beeile mich zu versichern, dass alles ok ist, ich bin heute nur etwas nachdenklich, alles in Ordnung. „Was steht denn morgen auf dem Programm?“ frage ich meinerseits um das Gesprächsfeuer wieder anzufachen, werfe ein paar Scheite auf die Glut. Es beginnt auch direkt wieder zu aufzuflammen. Und langsam sinkt mein Kopf und ich starre auf den Teller.


Ohne mich


Zeitschleife eins:

Ich bin tot. Ich weiß nicht, woran ich gestorben bin, irgendetwas plötzliches, Herzinfarkt oder Autounfall, mitten aus dem Leben raus. Zuerst wird mein Mann benachrichtigt, in der Apotheke, er kann es nicht glauben, nein, nichts zu machen, sagt ihm der Arzt, er war sofort tot, von medizinisch Gebildetem zu medizinisch Gebildetem. Er fühlt nichts, irgendwie tot alles, trotzdem beendet er den Arbeitstag ordnungsgemäß, hält bis zum Ladenschluss durch, eine Apotheke darf nie ohne Apotheker sein. Meine Mutter erreicht die Nachricht erst am Abend. Sie war mit ihrem Freund unterwegs, eine Spritztour, Handy wie immer zu Hause, und meine Schwester konnte sie nicht erreichen. Sie ist wie gelähmt, hat ihren zweiten Mann, der nicht mein Vater war, schon verloren, jetzt noch eines ihrer Kinder. Wir waren immer das wichtigste in ihrem Leben, sagte sie stets. Sie hadert mit dem Schicksal. Meine Schwester weiß gar nicht wie sie reagieren soll, was sie fühlen soll, zu viel strömt auf sie ein, sie ist vollkommen blockiert. Für meine beste Freundin ist es der zweite Abschied innerhalb kurzer Zeit, vor kurzem hatte sie erst ihre beste Freundin verloren.

Alle schlafen schlecht in dieser Nacht. Ich kann sie sich in ihren Betten wälzen sehen, sie stehen wieder auf, trinken was, telefonieren noch mal miteinander, sind ratlos. Warum ist nur keiner wütend?, frage ich mich. Mein Mann und meine beste Freundin gehen am nächsten Morgen wieder arbeiten, was soll man sonst tun, lenkt doch am besten ab, vom zu-Hause-sitzen werde ich auch nicht wieder lebendig. Meine Mutter besucht meine Schwester, zusammen spielen sie mit dem kleinen Sohn, dem kleinen Enkel, für ihn muss man jetzt da sein, er versteht das Ganze nicht. In der Schule erzählt der Direktor in der ersten großen Pause von meinem Tod, viele sind bestürzt, einige Tränen fließen, es wird eine Schweigeminute gedacht. Dann gongt es wieder, der Unterricht geht weiter. Meine Klasse wird für diesen Tag abbestellt.

Zeitschleife zwei:

Auf der Beerdigung sind viele Menschen, sehr viele Menschen, ich scheine beliebt zu sein. Auch viele meiner Schüler, sogar ehemalige sind da, das freut mich. Als der Sarg mit mir in der Erde verschwindet schluchzen viele, sie gehen noch mal an meinem offenen Grab vorbei, schmeißen Erde oder Blumen hinein, sagen ein letztes Mal „lebe wohl“. Auf der Beerdigungsfeier scherzen schon wieder die ersten, es wird ein wenig gelacht, nur meine beste Freundin ist nicht erschienen, sie hat sich noch nie an Konventionen gehalten, dafür liebe ich sie besonders. Sie setzt sich dafür am Abend mit einem Rotwein auf ihre Terrasse, schaut in den nahe liegenden Wald und hängt ihren Gedanken nach. Sie fühlt sich hilflos.

Zeitschleife drei:

Die nächsten Tage sind geprägt von Lähmung, von Entsetzen, von wir-sehen-uns-aber-weiterhin, trotz der Entfernung. Man ruft sich täglich an, in der Apotheke, im Büro, schreibt sicht SMS, gibt seiner Fassungslosigkeit Ausdruck. An den Abenden fühlen sie sich einsam, die Zurückgebliebenen, den vielen weißt-du-nochs folgt Schweigen. Nun beginnt die Trauerzeit, die man braucht, die die anderen weiter leben lässt, die Vergessenszeit, die man braucht, um weiter leben zu können, die mich langsam aber sicher auslöscht. In der Schule übernimmt meine Referendarin einen Teil meiner Klasse, das geht wunderbar, außerdem kann der Lehrer, der sich ein paar Tage zuvor vorgestellt und dem man abgesagt hatte, doch noch gewonnen werden, er fängt in zwei Monaten an.

Zeitschleife vier:

Die Lähmung ist gewichen, die wir-sehen-uns-weiterhin-Schwüre sind schon gebrochen worden, ich bin das Bindeglied, ohne mich keine Bindung. Jeder einzelne denkt noch mal an mich, aber nicht mehr oft, nicht mehr so oft, mein Mann hat schon ein Auge auf jemanden anderen geworfen, man trifft sich vorsichtig, wer kann es ihm verdenken, nein, ich will auch nicht, dass er alleine bleibt, das Leben geht weiter. Meine Mutter hat noch stärkere Bauchschmerzen, das Reizdarmsyndrom, das sie nach dem Tod ihres zweiten Mannes bekam und behielt, intensiviert sich, die Trauer um mich rutscht ihr in den Bauch und paart sich mit der um ihn. Sie hält durch wie immer. Mein kleiner Neffe, der Sohn meiner Schwester, kann sich nicht an mich erinnern. Er war zu jung, um Erinnerungen an mich zu haben, selbst wenn, sie sind verblichen. Meine Schwester erzählt ihm immer mal von mir, zeigt Fotos, immer seltener, bald bin ich verblichen. In der Schule gibt es nur noch eine Klasse, die mal von mir unterrichtet wurden, wenn sie gehen, geht auch die Erinnerung und dann bin ich endgültig tot.


Zeitschleife fünf:

Es scheint als wäre ich nicht da gewesen, ich bin zwar noch in den Köpfen, auf den Fotos, aber ich werde nur noch selten gedacht, selten angeschaut, die Gefühle für mich lassen sich nicht festhalten, sind zerfallen, wie mein Körper. Die Zeit heilt alle Wunden.

„Darf ich Ihnen noch etwas bringen?“ fragt mich die Kellnerin an diesem grauen Novembernachmittag, an dem die Wolken meinen Kopf berühren, und lässt mich nach meinem Kopfschütteln in meiner Unfassbarkeit und meiner Wut zurück..


Rastplatzsucht


Er weiß genau, was er anziehen wird. Und was er nicht anziehen wird. Alles ist darauf abgestimmt, dass er geil aussieht, begehrenswert, darauf, dass er in das Beuteschema möglichst vieler, möglichst junger passt. Alles ist darauf abgestimmt, dass sein immer noch wohlgeformter Arsch gut zur Geltung kommt, seine etwas schwächliche Brust, schwächlich trotz intensivstem Gewichteheben, nicht auffällt, dass er insgesamt jugendlich wirkt, frischfleischig, trotz seiner fast 45 Jahre. Enge Jeans, Turnschuhe, heute in Sneakers, nicht zu enges Shirt (die elende Brust!), ein Baseballcap, keine Unterhose (wichtig ! Keine Unterhose signalisiert, ich bin zu haben! Außerdem kommt der Schwanz besser zur Geltung, auch wenn seiner nicht übertrieben groß ist). Schon lange bevor er vor dem Kleiderschrank steht und seine Rastplatzschublade aufzieht, spürt er dieses Kribbeln, dieses ganz bestimmte Gefühl, das ihn ruhelos werden lässt. Es überkommt ihn ganz plötzlich, ohne Vorwarnung.

Es überkommt ihn immer öfters.

Gleich steigt er in sein Auto mit halbsteifen Schwanz, den er schon beim ersten Kribbeln bekam. Es macht ihn geil, das macht ihn an, vermischt mit dem moralischen „das tut man nicht“, diese Mischung aus Verlangen und Verbot, aus Verlockung und Ekel, aus Geilheit und Abscheu ist das, was die Lebenslangeweile vertreibt, ihn sich spüren lässt. Ansonsten meint er gar nichts zu spüren, Aufstehen, Arbeit, Fernsehen, Schlafen, der ewige Kreislauf.

Er fährt los, fährt die altbekannte Strecke zur Autobahnauffahrt, hunderte Male (sind es schon tausende Male?) gefahren, das Auto findet selber hin. Jetzt steigert sich dieser Gefühlsmix in ihm, sein Herz klopft schneller, Adrenalin schießt in die Adern, die Moralbremse in seinem Kopf wird stärker getreten, er fährt weiter, weiter auf die Autobahn, auf die ausgeklügelte Runde, mit der größten Anzahl von Rastplätzen auf kürzester Strecke, die maximale Chancenausbeute. Heute ist es mein letztes Mal, mein krönender Abschluss, denkt er, wie er es schon so oft gedacht hat, ein Vorsatz, der genau bis zum nächsten Mal hält.

Die Abstände werden kürzer.

An der letzten Tankstelle vor dem ersten Rasplatz hält er kurz an, holt sich was zu trinken, er bekommt immer einen so trockenen Mund, Moral raubt Spucke. Auf Rastplätzen mit Tankstelle und gar noch Restaurant ist nie was los, zu viel Publikum. Eher der einsame, kleine, uneinsehbare, der einen Zugang in den Wald oder ins Gebüsch zulässt, eventuell mit einem dieser stinkenden Toilettenhäuschen, ist das Ziel. Wieder auf der Bahn steigert sich sein Gefühlswirrwarr auf ein Maximum, er glaubt zu platzen, wird etwas da sein, was sich zu erobern lohnt?, wird es sich erobern lassen?, ist dies einer dieser flauen Tage?, sein Gehirn kann nur dieses denken.

Endlich Ruhe.

Das ist das Maximalgefühl, was Besseres kommt nicht mehr, er könnte eigentlich jetzt umkehren, vorbei fahren, nach Hause zurück, aber das geht nicht mehr, irgendwas, irgendwer lässt dies nicht zu, er ist endgültig gefangen, es ist zu spät. Schon biegt er auf den ersten Rastplatz ab, ein Wackelkandidat, oft nichts los, oder nur alte Säcke, es ist auch noch recht früh. Es stehen nur zwei Autos, eines mit Kindern darin, also uninteressant, im anderen ein älteres zwar männliches Exemplar, aber nein, nichts für ihn, also schnell weiter, es gibt noch genug Chancen. Auf der Bahn rauscht dieses Gefühl wieder voll an, berauscht sein Gehirn, umrauscht sein Herz, den Magen, schaltet die Denkmaschine auf einspurig.

Bei der nächsten Abfahrt bemerkt sein Kennerblick direkt drei verdächtige Fahrzeuge, drei potentielle Kandidaten, der eine könnte Student sein, mit diesem alten Golf-II-Modell. Der Wagen ist leer, niemand weit und breit zu sehen, ein gutes Zeichen. Er stellt seinen Wagen so weit wie möglich ab, die Angst entdeckt zu werden, erkannt zu werden, polizeilich auffällig zu sein. Er läuft diesen altbekannten Weg, diesen ausgetrampelten Pfad, durch das Loch im Zaun, in den Wald, gesäumt von unzähligen Zeugen erfüllter Geilheit, wie Wegweiser. Schemenhaft erkennt er eine Gestalt, schlendert langsam näher, wie unbeteiligt, nein, er hat sich doch getäuscht, zu alt, kein Student, muss man nicht nehmen, noch genügend andere Möglichkeiten heute, bloß weiter. Kurz bevor er zurückgeht sieht er ihn doch, den jungen Kerl, im knappen, engen Shirt, als ob er bei einem Einkaufbummel sei, bis auf die unruhigen, gierigen Augen, daran erkennt man sie alle. Jetzt beginnt das altbekannte Ritual, nur nicht zu schnell aus der Deckung gehen, sich angreifbar machen, sich offenbaren. Man nähert sich, geht aneinander vorbei, schaut sich an, versucht Regungen zu erkennen, zu interpretieren, dass man vom selben Stern, geht weiter, als ob nichts wäre, dreht sich um, schaut, ob der andere sich auch umdreht, ja !! er kommt zurück, das Schaudergefühl schwemmt an, er ist auf der Jagd, hat seine Beute im Visier, der Fisch hat den Wurm gesichtet, wusste er es doch, hat sich nicht geirrt, gleich ist er an der Angel, nur ruhig bleiben. Man geht wieder aneinander vorbei, diesmal folgt er ihm, folgt ihm tiefer ins Gebüsch, bis man sich trifft und ebenfalls Zeugen der Geilheit hinterlässt. Schon bevor er sich von diesem geilen Bock ficken lässt, verschwindet dieses Gefühlswirrwarr, das er so mag, das Gedanken bändigt, schlagartig gewinnt die Moralkeule, sie überschwemmt ihn, er ekelt sich vor sich selbst. Schnell weg hier, er flüchtet fast, nur nicht erkannt werden. Er stürzt in sein Auto, es springt nicht sofort an, Panik kommt auf, ja, jetzt doch, mit quietschenden Reifen verlässt er den Rastplatz.

Die Moralkeule entweicht langsam aus seinem Kopf, Rechtfertigungsgedanken schlagen zurück, der Kampf steht unentschieden, langsam bekommt die Rechtfertigung überhand, zumindest soweit, dass die Geilheit, die Gier wieder Spielraum erhält, Fluchtinstinkte unterdrückt werden, der nächste Rastplatz steht auf dem Plan, noch ein geiler Schuss könnte warten, den man sonst verpasst. Und da taucht er auch schon auf, der nächste Rastplatz, sein Favorit, immer richtig was los. Er fährt auf, sein Kennerblick schweift herum, mehrere Kandidaten vorhanden, das sieht er sofort. Er fährt an den Wagen langsam vorbei, das ist das untrügerische Signal, das Augenzwinkern, he, wir suchen das Gleiche. Er stellt den Wagen ab, steigt aus.

Plötzlich, vollkommen überraschend für ihn, strömt ein völlig unbekanntes Gefühl heran, er kann es gar nicht bezeichnen, keine Lust, keine Scham, nein irgendwie wird alles leer, er kann gar nichts mehr empfinden, ist hilflos. Er merkt nur, dass das alte Schema nicht mehr passt, die alte Verhaltensweise falsch, sieht den Weg nicht mehr, auf bedrohliche Weise verschwunden. Jetzt ist er ohne Weg, er weiß nicht wohin. Schnell steigt er wieder ein, das erste Mal, ohne auf der Jagd gewesen zu sein, es ist ihm auf einmal egal, ganz unbedeutend. Er fährt langsam los, verlässt den Rastplatz, fährt am nächsten vorbei, fährt einfach weiter, er weiß nicht wohin. Ihm laufen Tränen die Wange herunter.


Sehnsucht


Ich habe Sehnsucht nach diesem Kessel, eingequetscht zwischen den Hügeln, durchschnitten von der Wupper, die die Bezeichnung Fluss kaum verdient.

Ich gehe blindlings nachts durch die Straßen, kenne mich aus, fühle mich zu Hause, weiß, was nach der nächsten Ecke kommt. Hier habe ich sieben Jahre gewohnt, gelebt und die Stadt ist zu meinem zu Hause geworden. Ich habe eine Beziehung zu ihr aufgebaut, bin mit ihr befreundet, in sie verliebt, verheiratet, wie man das auch immer bezeichnen will. Sie gibt mir Sicherheit, ich habe nie Angst in ihr, obwohl auch hier Russen- und Türkengangs aufeinander schießen, die Gathe mit Geldwäschersexläden und –imbissen vollgestopft ist. Erklären kann ich dieses Gefühl nicht.

Ich habe Sehnsucht nach diesen steilen Straßen, nach den bergigen Parks, nach den tiefhängenden grauen Wolken, aus denen es ständig regnet.

Schön ist sie wirklich nicht, ich will ehrlich sein, sie ist hässlich. Der Krieg hat viele Wunden in jede Straße gerissen, wie Zahnreihen mit vielen Zahnlücken muss sie ausgesehen haben, muss auf der Felge gebissen haben. Nach dem Krieg hat man notdürftig diese Lücken wieder gefüllt, aber nicht mit Emaille verblendet sondern das nackte Metall aus Geldnot stehen lassen. Und so sieht man die Zahnlücken auch heute noch, obwohl keine mehr da sind. Die Lückenfüllungen sind in die Jahre gekommen, ihnen ist nicht mehr zu helfen, man kann nur noch vertuschen. Trotzdem fühle ich mich hier zu Hause, geborgen, die Stadt ist ehrlich zu mir, sie gaukelt mir nichts vor.

Ich habe Sehnsucht nach ihrer Nacht, nach dieser blinden Vertrautheit, mit der ich mich durch die Straßen bewege, in denen ich allein sein kann ohne einsam zu sein.

Heute wohne ich nicht mehr hier, habe diese Beziehung zu Gunsten einer anderen aufgegeben ohne die Stadt zu betrügen, leide aber immer noch unter dem Trennungsschmerz, kann nicht vor ihr lassen, spüre die Verbindung noch, wehmütige Erinnerungen kommen immer wieder hoch. Jedes Mal wenn ich da bin, fahre ich mit der Schwebebahn von Endstation zu Endstation. Hier lässt die Stadt ein Blick von hinten zu, zeigt sich noch ungeschönter, die ehrlichen Hausrücken, die unverstellten Fabrikhöfe. Die Fahrt ist weniger ein Schweben, wie der Name vielleicht vermuten lässt, es ist mehr ein Rattern und Krächzen und Ächzen an einem Gerüst hängend, das sich wie eine Krake an der Böschung der Wupper entlanghangelt. Beim Anfahren ruckt es, beim Halten wackelt sie hin und her, dass man beim Aussteigen zu stürzen droht, keine Stufe wird erhöht für Rollstuhlfahrer, keine Ebene angeglichen für ältere Leute. Mich stört es nicht, ich liebe dieses Transportmittel, horche immer, wenn ich unter der Stahlkrake hergehe, nach dem nächsten Quietschen, das eine Bahn ankündigt, die dann unter tosendem Lärm über mich hinwegbrettert.

Ich habe Sehnsucht nach diesem Unterführungstunnel zwischen City und Bahnhof, diesem Ärgernis, dieses Dreckloch, dass gekachelt ist wie ein Schlachthof, in dem die Bettler pissen und ihr Gestank hängen bleibt, in dem Werbekästen ihre eigene Werbung nicht ernst meinen.

Im Studium habe ich gelernt, dass die Stadt trotz ihrer Größe kein regionales Zentrum sein kann, zu bedeutungslos ist und immer bedeutungsloser wird. Das sieht man an jeder Ecke. In der Einkaufspassage verabschiedet sich ein Einzelhändler nach dem anderen, macht den 1- €-Geschäften Platz, aber nicht lange, dann ist die Erde endgültig verbrannt und es bleibt nichts übrig als mit Pappkarton notdürftig abgehangene Schaufenster. Ich wandere die Plätze meiner Lieblingskneipen ab, viele gibt es schon nicht mehr, haben gegen Hartz IV verloren. Wie viele Abende habe ich hier verbracht, habe sinniert und gedacht. „Hör das Denken auf“, hat Makbule immer zu mir gesagt; was habe ich ihre Kneipe geliebt, es war eine eigene Welt, meine Welt, die mich vor dem Draußen abschirmte.

Ich habe Sehnsucht nach der Hardt, diesem einzigartigen Park, den man ohne Bergsteigerausrüstung fast nicht erklimmen kann, nach der Magnolie im Frühling und den Rabatten in Sommer, in die die Stadt ihre letzten Euros investiert.

Ich schlendere an dem Haus entlang, in dem ich zur Miete gewohnt habe, schau auf das Klingelschild, weiß noch genau, wo mein Name stand. Die Fassade blättert ab, sie gehört gestrichen, eher grundsaniert, auf dem Bürgersteig fliegt Müll herum, die Straße voller Schlaglöcher. Trotzdem könnte ich sofort nach dem Schlüssel suchen, die wohlbekannte Treppe heraufgehen, blind die Wohnungstür aufschließen, ich würde mich noch immer auskennen, würde mich in mein Bett legen und selig einschlafen. Würde am nächsten Tag aufwachen und nahtlos den Weg zum Bahnhof finden, der diesen kleinen Berg herabführt, vorbei an dem stinkenden Imbiss, die Klotzbahn hinunter, an der Pennerin, die schon morgens um halb sieben ihre marxistischen Botschaften durch die Stadt krakeelt, durch die Fußgängerzone hin zu meiner S-Bahn, die mich zur Arbeit bringt.

Ich habe Sehnsucht nach dieser Großkotzigkeit, die die hässlichste der hässlichen Straßen „Wolkenburg“ nennt, an der alle Züge durch die Stadt rattern, da in dem Tal nur Platz für vier Gleise, an der kein renoviertes Haus, ansonsten nur Schlaglöcher.

Ich gehe in die „Marlene“, die Kneipe, in der ich wohl hunderte Wochenenden zusammen mit Fußfetischisten, Gehörlosenstammtischen, singenden Pennerinnen, stinkenden Bettlern verbracht habe, in der wir auf das Sperrstundengekrähe „die letzten Biere“ von Marlene, bürgerlich Uwe, dem Wirt im Brautkleid, gewartet haben. Da war aber noch lange nicht Schluss, Türen und Fenster wurden verschlossen, verhangen, dass man drinnen fast erstickte, dann wurde weiter gesoffen und nur noch halbstündlich stoßweise gegangen.


Ich habe Sehnsucht nach dem Rex, dem Kleinkunsttheater, das sich in einer Seitenstraße versteckt, und nur durch die Eigeninitiative eines einzelnen lebt, nicht aufgegeben hat, überleben will, wie so vieles in dieser Stadt.

Dort, wo die Stadt noch so richtig protzt, im Briller Viertel, wo man das Leben von vor hundert Jahren spürt, sich in einer anderen Zeit verlieren kann, gehe ich durch die wunderschönen Straßen, schaue auf meterhohe Stuckzimmerdecken, in riesige Parks, auf pompöse Eingangspforten. Hier spürt man diese vornehme Stille, die die Villen der Großindiustriellen vergangener Zeiten erwarten. Nahtlos kommt man dann wieder auf der Hauptachse, die das Tal durchschneidet, heraus, geht im tosenden Verkehrslärm unter, hustet wegen der Abgase. Ich gehe diese grauen Häuserzeilen entlang, von ihren Eigentümern vernachlässigt, aufgegeben, da eh keine Chance.

Ich habe Sehnsucht nach den endlosen Treppen, die überall hinführen und jeden außer Atem bringen. Nach diesen unverständlichen Namen, „Tippen Tappen Tönchen“ oder „Pressburger Treppe“ aus der der Volksmund „Pissburger Treppe“ gemacht hat, wer sie einmal hinaufgeschnauft ist, fragt nicht warum.

Ich gehe noch einmal die Gathe herab, für mich der Inbegriff der Stadt, an der man sie erkennt, wo sie am ehrlichsten ist, ihr Aushängeschild, ohne etwas aushängen zu können, habe Tränen in den Augen, weil ich sehe, dass die Stadt stirbt. Sehe Geschäfte, Kneipen, Discos, in denen ich alle gewesen bin, die heute keiner mehr sehen kann, die meine Erinnerungen mitgenommen haben, aber in mir sind sie archiviert. Ich setze mich in mein Auto, das dort parkt, wo ich immer geparkt habe; noch heute finde ich immer einen Parkplatz, wo alle immer schimpfen, keinen zu finden, fahre auf tausendfach gefahrenen Wegen aus der Stadt, sie nimmt ihr Sicherheitsgefühl mit sich, ich kann es nicht festhalten, sofort nach der Stadtgrenze verflüchtigt es sich und ich halte es vor Heimweh kaum aus.


The one wrong fuck


Da sitzt er nun ängstlich im Wartezimmer und wartet darauf, dass er vom Arzt hereingerufen wird. Die vierte schwere Grippe hintereinander, diese nächtlichen Schwitzanfälle, dazu die Gewichtsabnahme, das alles hat dem Arzt nicht gefallen. „Da müssen wir mal ein großes Blutbild machen“, sagte er. Und: „Das gefällt mir gar nicht.“ Völlig überflüssig, das noch hinzu zu fügen. „da müssen wir mal“, reicht schon völlig aus, um einem zu sagen: Da stimmt etwas nicht. Da ist etwas nicht in Ordnung. Ich habe auch schon so eine Ahnung, was da nicht stimmen könnte.

Diese Ahnung hat Stefan natürlich auch schon. Jeder halbwegs aufgeklärte schwule Mann weiß was Nachtschweiß und Gewichtsabnahme bedeutet. Nur dann hier zu sitzen, 1 Woche nach diesem beschissenen Bluttest, der über das restliche Leben entscheidet, diese furchtbare Woche, in der man sich auf nichts anderes konzentrieren kann, in der man immer anrufen will, im Labor, und fragen will, habt ihr schon was gefunden, oder besser, habt ihr nichts gefunden, in dem Wissen, dass es eh nichts bringt. Man muss warten. Warten ist das schlimmste. Warten heißt Unsicherheit, Hoffnung, Stillstand, Atemanhalten. Wissen heißt Sicherheit, Aufatmen oder Sich-Abfinden, Akzeptieren, aber wieder weiter machen können.

Er hat es schon recht bunt getrieben in den letzten zwei Jahren. Sein Freund hatte ihn verlassen, wieder eine Beziehung gescheitert, wieder daran, dass er nicht genug Vertrauen hatte, sich zu öffnen, dass er sich zu oft abgeschottet hat vom anderen, der sich ausgeschlossen fühlte, nicht geliebt, einsam.... Ach, wie gut er das alles kannte. Wie oft hatte er das schon alles gehört. Zurück blieb immer nur ein Gefühl des Versagens, der Unvollkommenheit, des mich-kann-man-doch-gar-nicht-lieben.

Auf sämtlichen Rastplätzen, in sämtlichen Saunen hatte er es getrieben, im Internet sich immer wieder Fickpartner gesucht, vollkommen anonym, zu sich nach Hause, zu ihnen nach Hause, danach nie wieder gesehen. Warum er das gemacht hat, weiß er nicht so genau. Na ja, vielleicht weiß er es doch. Es gab ihm immer ein Gefühl, begehrt zu sein, gerade von den Jungen, attraktiv zu sein, gewollt zu werden, nicht weggeschmissen wie von seinen ganzen Freunden. Das Gefühl hielt nie lange an, schnell musste der nächste her, heute weiß er: alles Zeichen einer Sucht. Sexsucht. Hatte Stefan noch nie was von gehört. Aber das war er wohl. Sexsüchtig.

Es gab auch Phasen, in denen er kurze Beziehungen hatte. Wenn diese den Namen verdienen. Kurze Zeiten, in denen er nur mit einem Kerl schlief. Na ja, zumindest meistens. Aber Beziehungen waren das wohl kaum. Eher Anfänge von diesen, weiter nichts, nach dem Anfang gleich das Ende. Meistens hat er sich getrennt. So fühlt sich das also an. Auf der anderen Seite zu stehen. Auch nicht viel besser.

Er war immer vorsichtig gewesen. Immer mit Kondom. Er kann sich nicht erinnern, dass je etwas schief gegangen sei. Lebensmüde sei er nicht, hat er immer gesagt. War er es nicht?

Daraus zieht er auch jetzt seine Hoffnung. Eigentlich kann ja gar nichts sein. Woher denn? Er war ja immer vorsichtig gewesen. Sind hunderte von anonymen Ficks vorsichtig?

Da öffnet sich die Tür des Sprechzimmers. Dr. Karl bittet ihn persönlich herein. Kein gutes Zeichen. Richtig gedeutet. Positiv. Die letzten Worte hört Stefan gar nicht. Verlässt stumm die Praxis geht nach Hause, will sich instinktiv an den PC setzen, nach ´nem Kerl suchen. Er lässt es.

Die Gedanken kreisen. Doch. Einmal hatte er ohne Kondom ´rumgemacht. Es war mit einem jüngeren Kerl, in den er sich wirklich verliebt hatte. Dennis. Drei Monate waren sie zusammen gewesen. Er sagte, er hätte erst mit zwei Kerlen geschlafen. Immer mit Kondom. Sie hatten auch immer eins benutzt. Nur einen Abend, da war die Schachtel leer. „Komm“, hatte Dennis gesagt. „Ich bin nicht positiv. Ich weiß es genau. Hatte doch nur zwei Kerle vor dir.“ Stefan hatte sich kategorisch geweigert. „Vertraust mir denn gar nicht?“

Da war es wieder dieses Vertrauen. Sollte er wieder eine Beziehung verlieren, weil er nicht vertraute? Diesen Fehler schon wieder machen? „Wird schon nichts passieren. Bin bestimmt negativ. Wir lieben uns doch“, drängte Dennis weiter. „Ich will echt mal mit dir ohne schlafen.“ Stefan überwand sich. Er hatte Vertrauen.

Das Telefon klingelt. Dennis ist dran. „Ich muss dir was erzählen.“ „Zu spät“, denkt Stefan.


Urlaubsblues


Schon am Anfang werden die Tage rückwärts gezählt. Sie werden gehälftet, gedrittelt, geviertelt oder in andere leichter erreichbare, ablebbare Portionen unterteilt. So hangelt man sich an kleinen Erfolgserlebnissen entlang, ein Drittel geschafft, die Hälfte geschafft, die Hälfte von der letzten Hälfte…. Es hat was von einem Abreißkalender oder die Tage im Knast, die man auch rückwärts zählt.

Am Anfang fühlt man sich auch noch einigermaßen gut. Man sieht hier die schöne Kirche, kann dort die schöne Natur wahrnehmen und eine ganz kleine vage Hoffnung keimt auf, dass der Urlaubsblues dieses Mal vielleicht ausbleiben würde. Aber früher oder später ist der Vorrat an Durchhaltewillen, an Es-muss-doch-schön-sein-andere-genießen-es-doch-auch, an Mal-was-anderes-sehen aufgebraucht, wie in einem Gefäß, dass zunächst voll gefüllt ist, aber irgendwo ein Leck hat, und wo nach und nach, Tropfen für Tropfen dieser in einem ganzen Jahr mühsam angelegte Vorrat des Diesmal-klappt-es-aber-doch aufgezehrt ist, auf wundersame Weise verschwunden, verdunstet. Er hat sich einfach aus dem Staub gemacht und ist zu demselben geworden.

Nicht dass man nicht merken würde, dass die Tropfen dahin rinnen. Eine Vorahnung hier, eine andere da, die man gerne nichthört, nichthören will, um des lieben Friedens Willen beiseite schiebt. Der andere braucht ja seinen Urlaub, das ist wichtig für seine Erholung, das ganze ist ja eh schon viel zu kurz.

Und dann ist er da, der Tag und der Moment, in dem dieser Vorrat weg ist und man hat das Gefühl wie ein zu trockener Kuchen zu zerbröseln, in seine Einzelteile zu zerfallen, wie Saharasand im Wind zu verschwinden. Dann werden die Tage lang, die Stunden zäh, die Minuten werden gezählt und man kann nicht glauben, dass jeder Tag auf dieser Welt 24 Stunden hat, komme was wolle. Er türmt sich auf zu ungeahnten Stundenanzahlen, endlos. Nur in der Nacht fällt ein wenig Last ab, wenn alles ruhig ist und das Gefühl aufkommt, wieder einen Tag umgebracht (erwürgt oder erstickt?, erschossen wäre zu schnell) zu haben.

Zusätzlich macht sich das Gefühl breit, mal wieder kein guter Urlaubspartner gewesen zu sein. Dass dieser Teil des Anforderungsprofil in einer Partnerschaft nicht erfüllt wird und man die Entlassung befürchtet. Weiter-sos , es-wird-schon-gehen, alles-nicht-so-schlimm versuchen zu vertuschen, was nicht zu vertuschen ist, was selbst der tumbeste Zeitgenosse irgendwie dann doch merkt. Trotzdem ist die Entlassungsbefürchtung so stark, dass das ganze nicht abgebrochen wird, sondern Durchhalteparolen durchgegeben werden.

Und dann ist er da, der Urlaubsblues und spielt dunkel und langsam mit einem riesigen Orchester. Zu Anfang stimmen nur alle ihre Instrumente. Doch dann, wenn der Dirigent Ordnung in den Laden gebracht hat und alle in Harmonie spielen, ist es so, als wollte er nie wieder aufhören.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.08.2008

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