Er erwachte schon um fünf Uhr früh. Die Träume waren schwarz, stumm, von einer hoffnungslosen Süße erfüllt gewesen. Er erwachte vollkommen leer. Neben ihm atmete seine Frau schwer, flüsterte einige Male unverständliches Lautgemale, gleich der Sprache von Kindern, die noch nicht richtig sprechen können. Der Ahornbaum vor dem Fenster, blattlos, schwarzädrig, im kalten Morgenwind rauschend und ächzend, seine Arme nach ihm greifend, drohend und stumm. Auszeichnungen im Kopf, Verdienstorden, Siegelringe, Titel. Bereuen musst du, sagte er sich, bereuen und das alles vergessen, die Zeit ist vorbei, ich war niemals grausam, niemals sadistisch, niemals habe ich gepöbelt, getreten, habe gehandelt auf Anweisung und höheren Befehl.
Im Prozess sagte er: „Nach einer gewissen Zeit musste ich mir jedoch darüber klar werden, dass die nach dem Osten geschickten Juden aufs Ganze gesehen in den Tod gingen. Wenn ich in diesem Zeitpunkt nicht die heute als einzig möglich angesehene Konsequenz gezogen und meinen Posten verlassen habe, so hat das Gründe, die im Einzelnen schwer zu analysieren sind. Der erste mag wohl darin liegen, dass man einfach die Verantwortung für das grausame Geschehen denen überließ, die es angeordnet hatten, dass man weiterhin in einem gewohnten Gehorsam sich in einen Begriff der polizeilichen Pflichterfüllung eingespannt sah, der den Gedanken an ein Ausscheiden – unabhängig von den dafür auf einen zukommenden Konsequenzen – nicht aufkommen ließ. Dazu kam, dass eine Zeitperiode angebrochen war, in der es um Lebensentscheidungen des ganzen Deutschen Volkes ging und in diesem Zusammenhang sich derartig viele Verluste und Zerstörungen um einen herum abspielten, dass die Achtung vor der Existenzberechtigung anderer Menschen nicht mehr in dem erforderlichen Maße hochgehalten wurde. Dabei hat sicher auch die durch die Propaganda hervorgerufene allgemeine Herabwürdigung des Judentums eine Rolle gespielt. Dazu kommt, dass neben den äußeren Zerstörungen auch im Innern vom Menschen Veränderungen vorgingen, die zu einem Abstumpfen sittlicher Maßstäbe geführt haben und über die Empfindungsorgane für Recht und Unrecht sozusagen Hornhäute entstehen ließen. Wenn ich heute die oben geschilderten psychologischen Vorgänge betrachte, so möchte ich zu der Überzeugung kommen, dass mir bei Beginn der ersten Transporte nach dem Osten im Juli 1942 das Schicksal der Juden zur Gewissheit wurde. Wenn man in diesem Zeitpunkt die einem zugänglichen Nachrichtenquellen zusammenhielt und dann in diesem Zeitpunkt den Auftrag bekam, die Juden in diese Ostgebiete zu verschicken, so konnte jemandem in meiner Stellung kein anderer Schluss übrig bleiben, als dass diese Menschen dort wenigstens zu einem großen Teil über kurz oder lang ihrer physischen Vernichtung entgegengingen. Der weitere Ablauf der Dinge bestätigte dieses Wissen. Dazu gehört die Zusammensetzung der Transporte, zu denen nicht nur arbeitsfähige Juden und ihre unmittelbaren Familienangehörigen sondern auch andere nicht arbeitsfähige Personen abgerufen wurden. Von der Vergasung von Juden habe ich erstmals offiziell Ende 1943 gehört und zwar in Trient anlässlich Besuchen bei den dortigen Reichsdienststellen, in deren Stab ich auf den mir aus meiner Stuttgarter Zeit bei der Kriminalpolizei bekannten Kriminalkommissar W. traf, der mir davon erzählte, dass er im Bereich Lublin mit Vergasungen zu tun hatte.“
Für jedes besetzte Land wurde ein Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes eingesetzt, der BdS. Das war sein Job. Unter anderem schrieb er zu dieser Zeit: „Im Zusammenhang mit dem Ausbruch des sowjet-russisch-deutschen Krieges habe ich, wie bereits berichtet, etwa über 500 kommunistische Funktionäre in Haft setzen lassen. Trotzdem haben die Kommunisten in Amsterdam kräftig weitergearbeitet. Der Arbeit und dem Einsatz meiner dortigen Außenstelle ist es gelungen, in letzter Zeit einige Bezirksleitungen und Druckschriftenherstellungsgruppen aufzurollen. Die Kommunistische Partei der Niederlande entfaltet jedoch immer noch eine beachtliche Aktivität vor allem dadurch, dass sie sich die allgemeine oppositionelle Stimmung zunutze macht und z.B. die Oranjetreuen anlässlich des 31.8. (Geburtstag der Königin) vorzuspannen versucht. Im Einvernehmen mit dem Höheren SS- und Polizeiführer Nordwest, möchte ich zur Abschreckung dieser kommunistischen Kreise den Vorschlag machen, etwa 100 von mir auszuwählende kommunistische Funktionäre aus dem hiesigen Durchgangslager in das KL Buchenwald abzutransportieren. Das Beispiel der Juden hat gezeigt, dass der Abtransport einer großen Zahl von Niederländern in deutsche Konzentrationslager immer sehr ernüchternd auf die Betriebsamkeit der Reichsfeinde gewirkt hat. Ich bitte ergebenst um Ihre Entscheidung. Heil Hitler. Ihr gehorsamst ergebener...“.
Die Politik der Ausgrenzung, Vertreibung und Demütigung rief in der Bevölkerung des besetzten Landes kaum Unterstützung, vielmehr passiven und aktiven Widerstand hervor. Die Verordnungen gegen die Juden wurden in weiten Kreisen der Bevölkerung lebhaft diskutiert und fast durchweg scharf abgelehnt. Der Antisemitismus innerhalb des niederländischen Volkes war auf einen kleinen Kreis beschränkt. Aus einem wirklichen Mitleidsgefühl und aus Opposition gegen die deutschen Besatzungsbehörden nahmen weite niederländische Bevölkerungskreise Partei. Die in und an öffentlichen Lokalen angebrachten Plakate "Juden unerwünscht" entsprachen in den weitaus meisten Fällen nicht den Wünschen der Inhaber und Besucher dieser Lokale. Die Verordnung des Höheren SS- und Polizeiführers zur Ablieferung aller in Besitz von Juden befindlichen Radiogeräte wurde von vielen Juden dadurch teilweise sabotiert, dass diese ihre der Ablieferung unterliegenden Geräte vorher bei Bekannten oder Radiohändlern gegen alte oder minderwertige Apparate eintauschten und diese dann zur Ablieferung brachten. In illegalen Zeitschriften konnte man lesen:
"Duldet keinen Antisemitismus!
Protestiert!
Kommt zu einer einmütigen Tat!
Immer brutaler und drastischer werden die Maßnahmen gegen die Juden. Noch hat die Empörung über die Entlassung der Juden aus den öffentlichen Ämtern nicht nachgelassen, oder neue Bestimmungen, die den Juden den Besuch von Gaststätten und Kinos verbieten, werden von der "Horecaf" und dem Kinobund bekannt gemacht. Alle diese Maßnahmen haben den Zweck, die Juden aus den öffentlichen Ämtern zu drängen.
Deshalb muss die öffentliche Meinung gegen sie mobilisiert werden."
Nachdem es zu Ausschreitungen kam, wurden 400 Juden deportiert. Daraufhin kam es zu Streiks. Die Straßenbahnen wurden stillgelegt, wobei das Publikum zu Gunsten des Streiks eingriff. Der Streik umfasste auch zahlreiche andere Betriebe, wie Straßenreinigung, Warenhäuser usw. Den unmittelbaren Anlass zum Streik lag darin, dass am 22.2. und 23.2. im Amsterdamer Ghetto etwa 400 Juden von der deutschen Polizei verhaftet worden waren. Dieser Maßnahme lag ein Angriff mittels chemischer Säure auf eine Streife der Sicherheitspolizei zugrunde. Die Täter konnten verhaftet und dem SS-Gericht zur Aburteilung vorgeführt werden. Der Haupttäter wurde zum Tode verurteilt und die Strafe bereits vollstreckt, während die Übrigen zu mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt wurden. Die 400 festgenommenen jüdischen Männer zwischen 20 und 35 Jahren wurden zunächst nach Buchenwald verbracht. Etwa im Juni 1941 wurden sie, soweit sie noch am Leben waren, nach Mauthausen verlegt. Sie wurden buchstäblich zu Tode gefoltert. Alsbald danach, etwa im Juli 1941, trafen in rascher Folge Todesmeldungen ein. Den Angehörigen wurde in einer Pappschachtel Asche und eine Todesurkunde zugestellt. Die Unterrichtung der Bevölkerung vom alsbaldigen Tod der Häftlinge war eine beabsichtigte Terrormaßnahme.
Im Zuge der Vorbereitung der Endlösung wurde von ihm die Durchsetzung des Verbotes der Verbindung von Ariern mit Nichtariern verfügt. Nach einer Entscheidung des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete galten die Nürnberger Rassengesetze sinngemäß auch in den Niederlanden. Eine gesetzliche Regelung durch Erlass einer entsprechenden Verordnung fand jedoch nicht statt. Alle Juden, die Aufgebote mit Nichtjuden beantragt haben oder in Zukunft beantragen, wurden in Schutzhaft genommen und dem KL Mauthausen überstellt. „In gleicher Weise ist mit den Juden zu verfahren, die künftig noch außerehelichen Geschlechtsverkehr mit Nichtjuden unterhalten.“ Die Standesämter waren vom Generalkommissar für Verwaltung und Justiz angewiesen, alle Aufgebote von Juden mit Nichtjuden dem BdS zur Verständigung der einzelnen Außenstellen mitzuteilen. Die vorangeschrittene Entrechtung machte eine gesetzliche Regelung nicht mehr notwendig. Wer sich in den Weg stellte, kam nach Mauthausen.
Der nächste Schritt war die Einführung des Judensterns in Holland, sieben Monate nachdem er in „Großdeutschland“ eingeführt worden war. Dazu schrieb er an seinen Vorgesetzten:
„Dem Judenrat wurde heute Nachmittag 16 Uhr eröffnet, dass er innerhalb der nächsten 3 Tage die Kennzeichnung sämtlicher Juden mit dem Judenstern durchzuführen habe. Über die Einzelheiten dieses Vorgangs teilt der Leiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung folgendes mit: "Auftragsgemäß wurden am 29.4.42 um 16 Uhr die Vorsitzenden des jüdischen Rates, A.) Asscher B.) Cohen zur Zentralstelle für jüdische Auswanderung bestellt. Ihnen wurde eröffnet, dass die Kennzeichnung (Judenstern) durchzuführen sei. Es wurde darauf hingewiesen, dass in der heutigen Abendpresse die Veröffentlichung erscheint und 3 Tage nach der Bekanntgabe in Kraft tritt. Nach dieser Mitteilung waren Asscher sowie Cohen völlig sprachlos. Man hat scheinbar nicht mit dieser Maßnahme gerechnet. Dann erklärten sie, nämlich Asscher und Cohen, dass es keine angenehme Mitteilung für die Judenschaft sei, sie persönlich seien jedoch stolz darauf, den Stern zu tragen und sie würden somit Ehrenbürger der Niederlande. Weiter fragte Cohen, warum die Farbe des Sternes gerade gelb sei. Es sei ja die Farbe der Erniedrigung für das Judentum. SS-Hauptsturmführer A. antwortete darauf, dass diese Farbe der Deutlichkeit halber gewählt worden sei und der Stern auch in Deutschland dieselbe Farbe habe. Dann wurden dem Judenrat die Sterne zur Verfügung gestellt (569355 Stück). Die Verteilung der Sterne wurde dem Judenrat übertragen, worauf dieser jedoch die Einwendung machte, die Durchführung innerhalb 3 Tagen sei zu kurz. Es wurde darauf hingewiesen, dass dieser Termin unbedingt einzuhalten sei. Weiter wurde gefragt, ob seitens des Judenrats eine Veröffentlichung in der Tagespresse erscheinen dürfe. Dieses wurde abgelehnt. Nachdem Cohen äußerte, es sei doch eine furchtbare Maßnahme, sagte Asscher wörtlich: Es wird nicht lange dauern, ein-zwei Monate, bis der Krieg abgelaufen ist, und wir sind frei! Insgesamt kann gesagt werden, dass der Judenrat versuchte, scharf gegen die Einführung des Sterns zu protestieren. So äußerte sich Cohen wie folgt: Sie sollten unsere Gefühle verstehen, Herr Hauptsturmführer, es ist ein schrecklicher Tag in der Geschichte der Juden in Holland!“
In der Zeit vom Frühjahr 1942 bis Ende November, als die Anweisung erging, auch die straffälligen Juden den Auschwitztransporten beizugeben, gelangten durch die Sicherheitspolizei in Den Haag mindestens 400 Juden nach Mauthausen und wurden dort alsbald getötet. Die Tötungsart war unterschiedlich. Sichere Feststellungen sind nicht mehr zu treffen. Den Tod dieser Häftlinge, wenn sie nicht erschossen wurden, führte die Lagermannschaft der SS durch Misshandlungen aller Art herbei.
Er wusste, dass die nach Mauthausen geschickten Juden dort getötet wurden. Die Tötungsart war ihm im Einzelfall nicht bekannt. Die Todesnachrichten gingen für die nach Mauthausen verbrachten Juden ab Mai 1942 in ziemlich rascher Folge nach der Absendung bei der Sicherheitspolizei in Den Haag ein.
Aber auch die niederländische Bevölkerung war sich vollkommen im klaren, dass Terror, Ausgrenzung und Deportation nur einem Zweck diente, der Vernichtung des jüdischen Volkes:
"VOLKSGENOSSEN!
ES IST SOWEIT!
Nach der langen Reihe unmenschlicher Bestimmungen in den letzten Wochen: der gelbe Stern, das Einliefern der Fahrräder, das Verbot, Häuser von Nichtjuden zu betreten, das Verbot, Telefon, Straßenbahn und Zug zu benutzen, das Verbot, in nichtjüdischen Geschäften einzukaufen, außer in den festgesetzten Stunden usw. ist jetzt das Schlussstück gekommen:
DIE ABSCHIEBUNG ALLER JUDEN IM ALTER VON 16 BIS 42 JAHREN!
Am 15.7.42 des Nachts um 1.50 musste die erste Gruppe sich am Zentral-Bahnhof in Amsterdam melden. Hiernach werden täglich 1200 Juden das gleiche tun müssen. Von Westerbork in Drenthe, wo die Unglücklichen gesiebt werden, werden dann jedesmal ca. 4000 Juden zugleich abgeschoben. Die Züge stehen dafür bereit. Prager Spezialisten im Henkerwerk sind dorthin gekommen, um die Abschiebung so schnell wie möglich durchzuführen. Insgesamt werden auf diese Art und Weise ca. 120.000 jüdische Niederländer entfernt werden.
Dies sind nüchterne Tatsachen, in Hartheit und Sachlichkeit nur den Aufträgen des ägyptischen Pharao gleichkommend, der alle jüdischen männlichen Kinder umbringen ließ und des Herodes, dem Antisemiten, der, um Jesus zu töten, alle Säuglinge von Bethlehem töten ließ. Nun, verschiedene Tausend Jahre später, haben Hitler und Henker in dieser Gesellschaft ihren Platz gefunden. Offizielle Polnische Berichte nennen die Zahl von 700.000 Juden, die bereits in den Klauen dieser Germanen starben. Unseren jüdischen Mitbürgern wird es ebenso ergehen. Das Los der nichtjüdischen Arbeiter (Niederländer) in Deutschland ist hart, hinsichtlich der Juden geht es jedoch um die Verwirklichung der Drohungen, die die Nazis immer wieder gegen die Juden geschleudert haben, es geht um ihre Vernichtung und Ausrottung.
VOLKSGENOSSEN!
Mit Abscheu und Empörung hat das niederländische Volk von den anti-jüdischen Maßnahmen Kenntnis genommen. Es ist unsere gemeinsame Schuld, die vom Jüdischen Rat nicht ausgenommen, dass unsere Feinde über eine vollständige Judenadministration verfügen.
Alle vorgehenden deutschen Maßnahmen hatten zum Ziel, die Juden von den übrigen Niederländern zu isolieren, die Verbindung unmöglich zu machen und unsere Gefühle von Mitleben und Verbundenheit einzuäschern. Es ist ihnen besser gelungen, als wir es selbst wissen und wahrscheinlich zugeben wollen. Im Geheimen müssen die Juden umgebracht werden, und wir, die Zeugen sind, müssen taub, blind und stumm sein. Wir dürfen ihr Stöhnen nicht hören, wir dürfen ihr Elend nicht ansehen, wir dürfen unsere Abscheu und unser Mitleiden nicht aussprechen. Gott und die Geschichte werden uns verurteilen und mitpflichtig erklären an diesem Massenmord, wenn wir jetzt schweigen und zusehen.
Niederland ist hart geschlagen und tief erniedrigt. Jetzt werden wir den Beweis liefern müssen, dass im Druck unsere Ehre nicht verloren ist und unser Gewissen nicht verstummt, dass unser Glaube nicht kraftlos gemacht ist. Deshalb erwarten wir, dass alle Bürger die Vorbereitungen und Ausführung dieser Abschiebung sabotieren werden. Gedenkt des Februarstreiks im Jahre 1941, als ein bis zum äußersten gereiztes Volk zeigte, was es kann, wenn es will. Wir erwarten, dass Generalsekretäre, Bürgermeister, hohe Beamte, ihr Amt in die Waage werfen und weigern, noch länger mit der deutschen Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten. Wer nun doch an seinem Sitz kleben bleibt, wird nach der Befreiung eine schwere Aufgabe haben, um seine Haltung zu rechtfertigen. Wir rechnen damit, dass alle, die dazu in der Gelegenheit sind, speziell Beamte, Polizei, Eisenbahnpersonal usw. diese sadistischen Nazi-Maßnahmen sabotieren werden.
Lasst Euch nicht zurückhalten durch die Meinung, dass alles doch nichts nützt. Ein schweigendes Niederland ist jetzt schlimmer als ein geschlagenes Niederland. Falls es schon ist, dass wir machtlos sind, (aber es ist nicht wahr), dann gerade zeigen wir umso besser unsere beleidigten Gefühle von Menschlichkeit, Recht und Nächstenliebe. In diesem Zeugnis können Besiegte stärker sein als Sieger.“
Am 15.Juli 1942 begannen die systematischen Deportationen. Aus dem jeweiligen Bestand des Lagers Westerbork wurden die Züge gefüllt. Die Transportmittel wurde durch die Reichsbahn zur Verfügung gestellt. Für die planmäßige Füllung der Züge hatte die Sicherheitspolizei in Den Haag Sorge zu tragen. Trotz Terror und Demütigungen widersetzte sich die Bevölkerung. Von 2000 für eine Woche zur Deportation Aufgerufenen erschienen nur ca. 400. In ihren Wohnungen waren die Aufgerufenen nicht mehr zu finden. Die Abwanderung über die belgische Grenze war im vollen Gange. Gegen Geld und gute Worte fanden sich immer Helfershelfer für den Grenzübertritt oder für eine heimliche Unterbringung. Aber schließlich erreichten die Besatzer mit Hilfe des Terrors ihr Ziel. Am 20.Juli 1944 war die Endlösung der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden für die nationalsozialistische Besatzung vollzogen. Nach dreimonatiger Pause in der Transportfolge wurde am 3.September 1944 der letzte Zug mit niederländischen Juden nach Auschwitz abgeschickt. Mit diesem Zug wurde auch die Jüdin Edith Frank mit ihren beiden Töchtern Anne und Margot Frank nach Auschwitz transportiert. Während der Zeit, in der er als BdS die Sicherheitspolizei in den Niederlanden befehligte und damit die Judenerfassung verantwortlich mitbestimmte, gingen insgesamt 72 Transportzüge von Westerbork ab. Der letzte unter seiner Leitung als BdS zusammengestellte Transport ging am 31.August 1943 ab. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden 82.773 Menschen deportiert. Hiervon haben 319 überlebt. Es wurden somit 82.454 Menschen getötet.
Er bereut, er bereut nicht nur prozesstaktisch, auf Grund der erdrückenden Beweislage. Insofern ist er ein Einzelfall. Aber er ist ein gutsituierter Einzelfall. Nach Verurteilung in Holland, beginnt er im nun demokratischen Deutschland wieder Fuß zu fassen, in Staatsdiensten, im Innenministerium. Auch beginnt er eine nachrichtendienstliche Tätigkeit für den BND. Bis im Zuge der allgemeinen gerichtlichen Aufarbeitung der NS-Zeit die Staatsanwaltschaft ihn mit den erdrückenden Beweisdokumenten belastet und schließlich anklagt. Er wird zu 15 Jahren Haft verurteilt, kommt aber nach 2 Jahren wieder frei, weil die Strafe durch Haft in Holland und in Untersuchungshaft zum großen Teil abgegolten ist. Schließlich kehrt Ruhe ein. Der Pensionist sammelt akribisch sämtliche Dokumente zu seinem Fall, aber die Familie hat endgültig genug von der alten Geschichte.
Er erwacht früh. Es ist ein kalter, stürmischer Februarmorgen. Der Ahornbaum wirft mit seinen Ästen und Zweigen um sich wie in einem teuflischen Tanz. Seine Frau Maria atmet schwer und langsam. Er betet ein Gebet, seit dem Ende des Krieges hat er wieder zu Gott gefunden. Es ist ein Gebet der Dankbarkeit und der Hoffnung nach Erlösung. Er steht langsam auf, die Füße verschwinden im Schwung in den Filzpantoffeln, noch einmal will er in die Schreibstube, die Akten seines Lebens studieren, so wie er in seinem ganzen Leben Akten studiert hat, denn die Akten geben ihm Sicherheit, dort kennt er sich aus, auf die kann er sich verlassen. Er sammelt die Papiere, die Kopien, sie rascheln durch seine Finger, dicht an sein Gesicht gepresst, um Aktenzeichen zu entziffern, Unterschriften zu erkennen, Zahlen nachzurechnen. Ein seltsam karges Leben, ohne Humor, ohne Lebenslust entbirgt sich da. Ein Leben voller martialischer Symbole im Dienste der Ordnung, die Ordnungen kommen und gehen, aber der gewissenhafte Verwaltungsbeamte bleibt. Er schließt den Ordner seiner Laufbahn, legt die Hände auf die Stirn, dann stirbt er mit einem leisen Seufzer.
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2008
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