Cover

Ein gleichmässiges, rhythmisches Klopfen, von einem lang gezogenen Lamento begleitet, reisst mich unsanft aus dem Schlaf. Nur unwillig tauche ich aus jener Welt auf, in der ich vergessen kann, am Leben zu sein.
Ich bin verschwitzt, mein Herz rast in meiner Brust. Ist es wirklich meines oder gehört es nicht doch jenem anderen Wesen, das sich immer öfter in mir breit macht? Aber ich weiss: Das darf ich nicht denken. Vielleicht befindet sich der andere nämlich gerade in mir oder in unmittelbarer Nähe und hört verstohlen meinen Gedanken zu.
Das Klopfen, das nicht abreissen mag, bringt mich ins Hier und Jetzt zurück. Ich setze mich im Bett auf und blicke zu meiner Zimmernachbarin Franziska hinüber. Obwohl der Raum dunkel ist, reichen ein paar Lichtstrahlen von einer Strassenlaterne, die durch die heruntergelassenen Rollläden ins Zimmer fallen, um mich erkennen zu lassen, dass sie ruhig schläft. Ihre dunklen Haare bedecken einen Teil ihres schönen Gesichtes und der Oberkörper, der nur teilweise von der Zudecke verhüllt ist, hebt und senkt sich gleichmässig.
Die Angst in mir nimmt nicht ab, nur weil ausserhalb meiner dünnen, brüchigen Hülle alles so zu sein scheint, wie ich es mir am liebsten vorstellen würde. Der Schein trügt, er gaukelt mir, das weiss ich genau, meistens etwas vor.
Jetzt drängt es mich, nachzusehen, zu kontrollieren, was das Geräusch verursacht, wenn Ruhe sich in mir ausbreiten soll. Absicherung ist vonnöten, falls ich wieder einschlafen will, und das möchte ich unbedingt, denn nur in jenem Zustand fühle ich mich wirklich wohl.
Langsam setze ich meine nackten Füsse auf den kalten Boden, suche tastend nach den Hausschuhen und finde sie erstaunlicherweise dort, wo ich und nicht jener Andere sie gestern Abend abgestellt hatte. Ein befriedigendes Gefühl der Genugtuung breitet sich in mir aus: Eine kleine Schlacht habe ich gewonnen. Ich konnte mich durchsetzen, wenigstens was meine Pantoffeln anbelangt.
Der Schweiss an meinem Körper erkaltet und mich fröstelt. Auf dem Stuhl sehe ich meine Fliessjacke und streife sie mir über. Dann verlasse ich den Raum, der von zwei Menschen und drei Seelen bewohnt wird. Langsam und möglichst geräuschlos gehe ich den langen Gang hinunter, der hell beleuchtet ist und doch unheimlich an ein Krankenhaus erinnert. Ich trete durch eine Glastüre ins Freie und folge den lauter werdenden Geräuschen, die mich geweckt hatten.
Eine junge Frau sitzt draussen unter dem Vordach des Gebäudes auf einem weissen Plastikstuhl. In dieser frostigen Dezembernacht hält sie sich im Freien auf, nur in ihr dünnes Nachthemd gehüllt. Sie lehnt an der Betonwand und schlägt ihren Kopf rhythmisch dagegen. Dazwischen heult sie immer wieder auf, weil ihre inneren oder äusseren Verletzungen ihr offensichtlich Schmerzen verursachen. Das Geräusch, welches mich geweckt hatte, stammt ironischerweise nicht etwa vom Aufprall des Kopfes an der Mauer, sondern vom sich verändernden Druck auf den Plastikstuhl, der auf dem Boden herumrutscht.
„Was ist los?“, fragt meine Stimme die junge Frau, „geht es dir schlecht?“ Die Frage klingt selbst in meinen Ohren wie ein Hohn an diesem Ort, und folgerichtig antwortet mein weibliches Gegenüber mit einer Gegenfrage: „Warum? Geht es dir etwa gut?“ Der Blick, den sie mir dabei zuwirft, hat nichts Unfreundliches oder Aggressives an sich und ist höchstens eines: verzweifelt.
Peinlich berührt schweige ich, doch das Wesen in mir macht sich breit und sagt jetzt: „Es ginge mir viel besser, wenn ich nicht hier sein müsste.“ Das Gesicht der jungen Frau hellt sich leicht auf: „Sollen wir abhauen?“, fragt sie und in ihren Augen ist ein zartes, beinahe schönes Leuchten auszumachen. Im Gegenzug dazu hängen ihr die Haare strähnig und fettig ins Gesicht, die ungeschminkte Haut ist vom Weinen gerötet, die Augen sind verklebt.
Es gelingt mir, wieder die Kontrolle zu übernehmen und so antworte ich: „Nein“, und füge wenig später noch hinzu, „abhauen bringt nichts, absolut nichts, denn das andere Wesen kommt ohnehin mit.“ Die junge Frau schaut mich verwundert an. „Welches andere Wesen, wovon sprichst du?“, fragt sie.
Etwas würgt mich von innen, ich bekomme kaum Luft, Schweiss bildet sich trotz Kälte auf meiner Stirn und ich setze mich auf einen freien Plastikstuhl, versichere mich aber vorher, dass es keine weiteren in der Nähe gibt. Der Andere soll sich gefälligst aus dem Staub machen, verschwinden. Wenn nicht, dann will ich ihm keine Möglichkeit bieten, es sich bequem zu machen. Der Gedanke an meine erbärmliche List lässt mich laut auflachen.
„Da ist jemand“, sage ich leicht aufgebracht und wünsche meine Äusserung zu erklären, „der mich nicht in Ruhe lässt.“ Die junge Frau senkt den Kopf und sagt: „Das geht mir ähnlich. Doch mein Jemand will nichts mehr von mir wissen. Ich bin es, die ihn nicht in Ruhe lassen kann. Die Gefühle in mir sind zu stark. Ohne ihn gehe ich zugrunde. Alleine sein, das bringt mich um.“
Wieder bin ich es, die unnatürlich laut auflacht, während sich die Angst in mir weiter ausbreitet, als müsste gleich etwas Furchtbares, etwas Nicht-wieder-gut-zu-machendes geschehen. „Mich bringt dagegen diese ständige Anwesenheit um.“
Die junge Frau lächelt jetzt beinahe, als sie meint: „Dann musst du nicht allein mit dir sein, sondern hast immer Gesellschaft und Ablenkung. Dann spürst du dich doch im Dialog mit deinem Wesen.“ Ich schüttle den Kopf und erwidere hoffnungslos: „Du verstehst nicht. Ich habe mich verloren, weil ich nicht mehr allein bin.“
Die junge Frau weint jetzt, als sie traurig antwortet: „Und ich habe mich verloren, weil mich keiner mehr spiegelt.“
Dann versinken wir in ein tiefes Schweigen. Die kalte Nacht umhüllt uns, jede für sich.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.01.2009

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /