Das Leben der 21-jährigen Evangeline hat gerade erst so richtig begonnen, als sie die Nachricht erhält, dass ihre beste Freundin, die sie wegen ihres Traumjobs über ein Jahr nicht mehr gesehen hat, bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen ist.
Als wäre dies nicht schon schlimm genug, muss sie sich fort an um das neugeborene Baby ihrer Freundin kümmern. Unbegreiflich für die 21-jährige.
Doch zu allem Übel treten dann auch noch zwei weitere Probleme in ihr Leben, zwei potenzielle Väter, die sich sowohl um das Sorgerecht des Kindes, als auch um die Liebe um Evangeline streiten.
Wird sie sich zwischen den beiden entscheiden können oder bleibt sie lieber mit Baby Luk alleine?
Ich, Evangeline hatte nicht mehr viel Zeit, ich musste zur Arbeit.
Hektisch hastete ich entlang hochgezogener Mauerwerke, die sich über den Wolken die Hand zu reichen schienen. Von unten aus sah man dies natürlich nicht, da sich tief hängende Wolken zwischen Himmel und Erde niederließen. Ein vergrauter Tag, den man hier in Conville nur zu gut kannte.
Nur ganz selten ließ sich mal die Sonne für mehrere Stunden am Tag blicken. Ein scheues Geschöpf, welches sich selbst an guten Tagen nicht wirklich zu zeigen vermochte.
Als ich endlich an der letzten Ecke zu meiner Marketing Agentur, in der ich jetzt schon seit gut über einem Jahr arbeitete, einbog, war ich einem Nervenzusammenbruch näher denn je.
Ich schwitzte aus allen Poren meines nicht durchtrainierten Körpers, was ich der knapp bemessenen Arbeitszeit zu verdanken hatte und auch meine Atmung fügte sich meinen hastigen Schritten hinzu. Zischend verließ der verbrauchte Sauerstoff meinen Körper, frischen jedoch wieder einatmen erschien schwerer als gedacht, weswegen ich allmählich glitzernde Sternchen vor meinem inneren Auge sah.
So ein Mist! Gerade heute entfuhr es mir gedanklich.
Heute war der Tag aller Tage – ich würde aufsteigen, endlich aufsteigen, und zwar vom Kopiermädchen zum Sortiermädchen. Ein erheblicher Schritt, denn zuvor hatte ich einige Bereiche durchlaufen müssen, die so rein gar nichts mit einer Marketing Agentur zu tun hatten. Vom Toilettenmädchen bis hin zu Kaffee und Bagels-Bringerin. Ein Aufstieg, den ich somit nur ungern verpassen wollte, geschweige denn erst gar nicht auftauchen, obgleich mir das schon seit Monaten durch den Kopf ging.
Weder bekam ich ein angemessenes Gehalt noch einen vernünftigen Arbeitsbereich. Doch heute, so war es mir endlich gegönnt. Ich würde mehr Gehalt erhalten und sogar einen der vielen Schreibtischplätze im ersten Stockwerk beziehen dürfen. Ein voller Erfolg für mich, denn bis vor einem Jahr habe ich noch die Couch-Polsterung zum bequemen Liegen ausprobierte. Faulheit ließ grüßen.
Nachdem ich endlich das Gebäude erreichte, in dem sich die Agentur und unzählige weitere Firmen befanden, zupfte ich ein letztes Mal meinen schwarzen, knielangen Rock sowie meine rötliche Bluse zurecht. Mit einem Einmal-Taschentuch aus dem Supermarkt tupfte ich mir noch rasch ein paar Schweißperlen von der Stirn, besprühte mich für einen Moment mit meinem Lieblingsparfüm und begutachtete meine rotblond-gelockte Haarmähne in den verspiegelten Scheiben des Gebäudes, welche ich mir am Morgen zu einem halben Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Rechts und links umschmeichelten federleichte Haarsträhnen mein hauchzart geschminktes Gesicht.
»Das muss reichen«, flüsterte ich eher zu mir selber, bemerkte aber geschwind aus dem Augenwinkel, dass ich von nahestehenden Personen beobachtet wurde.
Meine Umhängetasche, aus der ich mir das Taschentuch geholt hatte, wieder auf die Schulter geschwungen, betrat ich das Gebäude, welches durch eine Drehtür zu betreten war, rückwärts. Ein letzter böswilliger Blick musste ich jedoch all den Personen schenken, die mich zuvor skeptisch beim Herrichten begutachtet hatten.
Wollt ihr ein Passfoto?, motzte ich und streckte gedanklich all denjenigen meine gepiercte Zunge heraus. Dass ich dies aber nie äußerlich zeigen würde, das wusste nur ich. Für meine sonst so zurückhaltende Art wäre es ein No-Go mein freches Ich jemandem anderes zu zeigen, als nur meinem eigenen Spiegelbild.
»Vorsicht!«, vernahm ich noch eine schrille Frauenstimme. Da war es aber auch schon geschehen und ich lief blindlings in jemanden hinein, der mich zum Fall brachte.
»O man, auch das noch«, schimpfte ich.
»Haben Sie denn keine Augen im …«, da verschlug es mir auch schon die Sprache.
Auf meine durch den Sturz geschundenen Knie kniend, sah ich hinauf in wundervolle Augen, die so eine Freundlichkeit ausstrahlten, die mich sofort alles vergessen ließ.
Meine Beförderung, mein fast zu spät erscheinen und sogar meine Wut, die sich durch meinen Sturz einen Weg aus mir heraus bannen wollte. Ich schluckte schwer.
Nun kniete ich in einer Haltung, die mir eigentlich die Schamesröte ins Gesicht gejagt hätte, aber diese Augen, diese Augen ließen selbst diese unangenehme Situation vergessen.
»Ich scheine sehr wohl Augen im Kopf zu haben, wie Sie sich selber gerade davon überzeugen können«, lachte der Fremde spielerisch auf.
»Aber so einen atemberaubenden schönen Rücken, wie Sie ihn besitzen, scheint mich wohl geblendet zu haben.« Hatte er gerade meinen Rücken für schön befunden? Doch ehe ich darüber einen weiteren Gedanken verschwand, reichte mir mein Gegenüber eine seiner großen, starken Hände und hievte mich in null Komma nichts hoch.
»Danke«, säuselte ich verlegen.
»Ich habe zu danken«, setzte er erneut sein bezauberndes Lächeln auf.
»Doch nicht dafür«, winkte ich unbeholfen ab und bemühte auch mir ein so verzücktes Lächeln ab, erfolglos. Bei mir schien es sehr geknickt und aufgesetzt zu wirken, so hatte ich zumindest das Gefühl, weswegen ich schnell wieder die Miene aufsetzte, die ich zuvor schon drauf hatte. Voller Vorfreude, wegen der eigentlichen Beförderung.
Unsere Finger immer noch ineinander verhakt, standen wir minutenlang inmitten einer Menschenmasse, die sich das Schauspiel nicht entgehen lassen wollte.
Nur leises Genuschel aus dem Hintergrund drang an mein Ohr. Sieh dir mal das Turteltäubchen da vorne an. Hast du Sie gesehen, wie Sie vor ihm gekniet hatte, als würde Sie ihm jeden Moment einen …
»Jelly? Jelly bist du das?«
Was? Wer?
»Jelly, o Gott, Jelly, da bist du ja«, rief abermals eine zierliche Frauenstimme, doch ich verstand nicht so recht.
Der Augenkontakt zwischen dem Fremden und mir bestand weiterhin, warum dann reagieren?
Ich war einfach so fasziniert von eben diesen Augen, von diesem Mann, von diesem berauschenden Männerduft …
»Jelly? Bist du denn verrückt? Du bist zu spät!« Kann diese Frau nicht mal aufhören herumzuquieken?
Schlagartig wurde mir wieder alles bewusst, weshalb sich meine Augen weiteten und sich mein Mund zu einem O Gott formte. Ich war gemeint. Diese Frau rief mich, mich Jelly alias Evangeline. Ach du heilige Scheiße!
Panisch riss ich meinen Blick von dem Fremden los und schaute geradewegs in das zierliche Gesicht von Mia, einer liebevollen Arbeitskollegin, die ich vom ersten Tag an lieb gewonnen hatte.
»Jelly … du … bist … zu … spät«, rief sie mir abermals zu, doch dieses Mal kam es mir wie in Zeitlupe vor.
Die junge Arbeitskollegin drängte sich schleichend durch die Menschenmasse hindurch, ganz langsam und zögerlich. Auch mein Augenaufschlag reagierte nur noch schleppend, als wäre ich in einer Zeitschleife gefangen.
Als hätte ich nicht schon zuvor zu wenig Zeit gehabt, seufzte ich.
Eine blöde Buspanne einen Kilometer entfernt, zwang mich zum Laufen um mein Leben. Einen folgenden Bus hätte mir genau so wenig genutzt, da auf der Strecke zur Arbeit nur alle halbe Stunde ein Bus fahren würde. Hätte ich gewartet, so wäre ich definitiv zu spät erschienen und wäre nie in den Genuss dieses wundervollen jungen Mannes gekommen, dessen Namen mir in diesem Moment völlig egal erschien. Sein atemberaubender Anblick reichte mir vorerst vollkommen aus.
Doch jetzt, als wäre es von Gott gewollt, wurde ich eines besseren belehrt. Denn ich war dennoch zu spät auf der Arbeit erschienen. Die Uhr an der gegenüberliegenden Wand verriet mir die knallharte Realität, in der ich mich derzeitig befand.
»So ein Mist!«, fluchte ich laut und entzog dem Fremden meine Hand, die er sanft zu streicheln begann. Muss das immer mir passieren?, fluchte ich gedanklich weiter und setzte zum Gehen an.
Der wirklich gut aussehende Fremde hinter mir liegend, griff ich nach der Hand von Mia, schlängelte mich durch die Massen von Menschen und lief mit Mia im Schlepptau dem Treppenhaus entgegen. Mir bleibt heute auch gar nichts erspart.
Für eine Etage den Aufzug zu betätigen, wäre in diesem Moment schwachsinnig gewesen. Und um ehrlich zu sein, musste ich endlich mal etwas gegen meine kleinen Fettpölsterchen tun, die sich immer mehr über meinen Hosenbund quälten. Eine Naschkatze durch und durch.
Aber auch so wäre es dümmlich gewesen für nur eine einzige Etage die Mechanik des Aufzugs in Gang zusetzen. Der Aufwand würde Unmengen an Geld verschlingen, nur weil ich mich der Faulheit betätigt hätte. Nichts da!
Die ersten Treppenstufen lagen hinter uns zwei Frauen. Wieder einmal beschleunigte sich mein Puls, mein rasender Herzschlag hatte ich schon teils dem Fremden zu verdanken, weswegen mein Herz jetzt doppelt so schnell schlug, als vor einer Stunde noch.
»Jelly warten, bitte«, flehte Mia hinter mir.
Doch ich änderte nichts an meinem Tempo. Warum auch? Ich musste noch schneller laufen. Die Beförderung wollte ich mir nicht entgehen lassen. 10 Minuten zu spät, das würde man mir schon nicht verübeln. So war zumindest der Gedanke, ob man dies auch tat, stand natürlich auf einem ganz anderen Blatt. Also gab ich Gas, egal ob Mia mir noch folgen konnte oder nicht.
»Jelly … so bitte … warte doch.« Mein Tempo schien sich zu lohnen. Mia war außer Atem und um ehrlich zu sein, ich auch, wieder einmal.
»Sam … es geht um … Sam.« Abrupt blieb ich stehen und Mia lief voll einst in mich hinein. Aber standhaft, wie ich nun einmal war, wenn ich den Namen meiner besten Freundin Samira hörte, machte mir dieses Mal der Zusammenstoß nichts aus.
Mit geöffnetem Mund sog ich scharf den umherliegenden Sauerstoff in mich hinein und füllte meine Lunge bis zum Anschlag. Sam … es geht um Sam? Ist sie hier? Hat sie angerufen? Sitzt sie im nächsten Flugzeug? Vorfreude stieg in mir auf und konnte nicht mehr gebändigt werden. Ich freute mich immer über alle Maßen, wenn sich meine bessere Hälfte meldete oder man im Allgemeinen von ihr sprach. Sie war mein Ein und Alles, was mir immer wieder schmerzlich einen Stich mitten ins Herz jagte.
Vor über einem Jahr ließ ich meine beste Freundin zurück. Über 500 Kilometer trennten uns von nun an, nur meines Traums wegen.
Samira hingegen blieb daheim bei ihrer Mutter und ihren vier Geschwistern. Als älteste der fünf Kinder empfand sie es für wichtig genau dort zu bleiben, denn vor drei Jahren ungefähr verstarb ihr Vater urplötzlich an Herzversagen. Was dazu führte, dass weiß bis heute keiner, aber sie sah sich in der Pflicht für Mutter und ihren kleineren Geschwistern ein Vaterersatz zu sein, obgleich dies eigentlich unmöglich erschien. Aber sie tat es und ich musste sie wohl oder übel zurücklassen, obwohl wir beide den gleichen Traum anzustreben versuchten. Meine SamSam.
»Was ist mit ihr? Ist sie da? Hat sie angerufen?« Pure Freude stand mir ins Gesicht geschrieben und ich vergas abermals, weswegen ich überhaupt so hastig gelaufen war. Selbst der Fremde von vorhin trat in den Hintergrund meiner Gedanken.
Mir kam es wie eine halbe Ewigkeit vor, in denen Mia und ich schwiegen. Minuten, die mein Gesicht zu einem lachenden Honigkuchenpferd erstarren ließ. Meine Kiefermuskeln brannten und schmerzten unerträglich, aber ich unternahm nichts dagegen. Ich freute mich mehr denn je.
»Ein Anruf …«, begann Mia, woraufhin ich sie freudestrahlend unterbrach.
»Sie hat angerufen? Wie schön. Was hat sie denn gesagt? Kommt sie nach hier? Oder ist sie hier in der Nähe?«
Quällende Stille trat ein. Ein kribbelndes Gefühl stieg in mir hoch und die Nervosität drohte mich zu übermannen. Ich wurde immer ungeduldiger.
»Nun sag schon«, befahl ich freundlich, aber unruhig.
Mias Gesicht verzog sich derweil zu einer starren Statutenmaske, die die man in einem Museum begutachten konnte. Was ist nur los mit ihr?
»Mia, nun sage schon, was sie gesagt hat.« Ein weiterer Versuch etwas aus meiner Arbeitskollegin herauszukriegen, leider ohne Erfolg.
Jetzt wurde ich erst recht nervös, ungewöhnlich nervös. Irgendetwas schien hier gerade ganz und gar nicht zu stimmen. Nur was? Das verstand ich jedoch nicht.
»Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte ich mit Bedacht und trat auf der Empore der Treppe einen Schritt an Mia heran.
»Geht es ihrer Familie nicht gut? Oder …«, mein Atem stockte. Ich bekam es allmählich mit der Angst zu tun, weswegen ich die zweite Frage erst einmal unausgesprochen ließ. Selbst mein Herz machte einen absonderlichen Aussetzer. Was ist nur los hier?, schoss es mir nochmalig durch den Kopf.
Weitere Minuten der unerträglichen Qual vergingen. Jetzt wäre ich definitiv viel zu spät zu meiner Beförderung erschienen, aber in diesem Moment war mir alles völlig egal geworden. Einzig Mias Gesichtsausdruck, welches nach und nach an Farbe verlor, galt meiner vollen Aufmerksamkeit.
»Bitte sag mir, was geschehen ist!«, flehte ich, das zierliche und immer kleiner werdende Geschöpf vor mir an und ergriff sofortig die Initiative. Rechts und links, oberhalb der Ellbogen bekam ich Mia zu packen und schüttelte sie zunächst vorsichtig. Doch als dies nicht den gewünschten Effekt brachte, verstärkte ich meinen Griff und rüttelte sie, leider Gottes, etwas heftiger durch.
»Bitte sag es, bitte«, winselte ich und bemühte mich gleichzeitig meine Würde aufrechtzuerhalten, vergebens.
Tränen stiegen mir schlagartig in die Augen und bannten sich gleich darauf einen Weg über meine zartrosa-farbenen Wangen. Ein ungutes Gefühl breitete sich immer mehr in mir aus und irgendwie wusste ich in diesem Moment, dass ich einen gewaltigen Schlag unter die Gürtellinie erhalten würde.
»Sie ist …« auch Mia weinte, so kannte ich meine Arbeitskollegin nicht. Nie zuvor hatte ich dieses zierliche Frauchen weinen sehen, obwohl sie allen Grund dazu gehabt hatte. Aber jetzt? Sie weinen zu sehen, verstärkte mein ungutes Gefühl. Dickere Tränen rollten über meine Wangen und endeten letztlich als dunkle Flecken auf meiner Bluse.
Bitte sag es nicht flehte ich gen Himmel. Sag mir nicht … Nein, nein das darf nicht … betete ich zu Gott und hoffte inständig, dass er mich erhören möge.
»… bei einem tragischen Unfall …«
»Nein … Nein … Nein«, schüttelte ich vehement die Aussage von Mia ab.
»Nein … Nein, das … das darf nicht. Nicht meine Sam. Das ist bestimmt eine andere Sam … Ja, ja genau eine andere …«
»Es tut mir so unendlich leid«, flüsterte Mia.
»So unendlich«, wiederholte sie und senkte ihren dunkelhaarigen, wunderschönen Kopf und bettete ihr Tränen überströmtest Gesicht in ihre zierlichen, kleinen Händchen. Sie sah schon so aus, als würde man sie mit einer ungeschickten Handbewegung zerbrechen können, aber jetzt? O Gott.
»Bitte sag, dass das nicht wahr ist.«
Sie schüttelte leicht zur Verneinung den Kopf.
»Bitte Mia«, flehte ich erneut und sackte in mich zusammen.
Erst ließ ich meine Hände von den Armen meiner Arbeitskollegin. Schwer fielen sie an meinem Körper herunter. Dann senkte auch ich den Kopf gen Fußboden. Zuletzt gaben meine Knie wie Wackelpudding nach und ich fiel abermals auf meine Kniescheiben, die schon von vorhin geschunden waren. Jetzt jedenfalls bemerkte ich den Aufprall und den darauffolgenden Schmerz nicht. Alles war wie taub, wie leer gefegt. Ich spürte nichts mehr, außer diesen unerträglichen Schmerz inmitten meines, innerhalb weniger Sekunden, zerbrochenen Herzens.
»Aber wie …«, sprach ich so leise, sodass selbst ich Schwierigkeiten hatte, meine ausgesprochenen Worte zu verstehen. Aber scheinbar verstand man mich trotzdem.
»Bei einem Autounfall. Nur sie allein.« Ein kleiner, aber dennoch schmerzlicher Hoffnungsschimmer am Horizont. Keiner der Familie um Samira schien dasselbe Schicksal, wie sie ereilt zu haben. So ein Schwachsinn!, ermahnte ich mich selber. Sam, o meine Sam.
Weinend kniete ich vor meiner Arbeitskollegin, die sich an die hinter ihr liegende Wand lehnen musste. Mia kannte meine beste Freundin, meine Schwester, meine Seelenverwandte nicht, aber doch wusste Mia genau, was Sam mir bedeutete. Nichts auf der Welt hätte man mir für Sam anbieten können, selbst nicht all das Geld, was es auf Erden gab. Sie war … jetzt rede ich schon, als würde sie nicht mehr auf Erden weilen. Jelly reiße dich zusammen! Aber sie ist doch … Nein … Nein, das ist sie … O mein Gott!
»Sam, nein! Sam, nein! Sam, nein!«, schrie ich.
»Jelly … Jelly es tut mir so …« Mias Stimme verstummte, zumindest hörte ich sie nicht mehr. Ich blendete alles aus. Doch der Schmerz blieb stetig bestehen, eher gesagt stieg er immer unerträglicher an. Mein Herz zog sich so ins Unermessliche zusammen, sodass ich meinte an einem Herzinfarkt, hier und jetzt, versterben zu müssen. Dann wäre ich wenigstens wieder mit meiner Sam zusammen.
»Was ist denn hier los?«, eine rauchige Stimme durchdrang die schmerzende Stille. Jedoch sah ich nicht auf.
»Was soll das Spektakel hier?«, sprach der Mann, dessen Stimme mir ziemlich bekannt vorkam, weiter. Jedoch reagierte ich nicht.
»Ihre Freundin …«, winselte Mia und ich wusste genau was Mia jetzt sagen würde. Ich sah panisch auf, direkt in die verheulten Augen von Mia, die rot wie Feuer aussahen.
Sag es nicht!, befahl ich ihr gedanklich streng, allerdings überhörte Mia meine schreienden Gedanken.
»… sie ist verstorben.« Es wurde scharf Luft eingesaugt. Ob ich das war, keine Ahnung. Ich hatte einfach keine Ahnung mehr von irgendetwas.
Man hatte mir das wichtigste aus meinem Leben gerissen, so als hätte man mir selber das Herz aus meinem Körper gerissen. Woher sollte ich dann also wissen, wer scharf Luft einsog? Samira fehlte mir schon jetzt unheimlich.
Mit all meiner Kraft, die ich in diesem Augenblick aufbringen konnte, hievte ich mich schwerfällig hoch, schniefte ungeniert in den Ärmel meiner Bluse und sah meinem Chef, den Mann, der sich gerade eben noch über diese Situation lustig und gleichzeitig aufgeregt hatte, in die Augen. Ein letztes Mal atmete ich kräftig ein und aus, ehe ich, »Ich kündige«, böswillig verkündete und darauf erneut meine Beine unter die Arme nahm und aus dem Gebäude meiner ehemaligen Arbeitsstätte floh. O Sam, o meine Sam, bitte … bitte nicht.
Für mich gab es von nun an keinen Traum, keinen Sinn und erst recht keinen stinkigen Job mehr, bei dem ich mich für einen Hungerslohn abbuckelte.
Jetzt zählte für mich nur noch weg von hier, weit, weit weg.
Ein schlechter Albtraum, lass mich wieder erwachen, betete ich ein letztes Mal zu Gott, dem Schöpfer aller Menschen, dem Schöpfer von Sam … meiner Sam.
Dicke Tränen, Krokodilstränen liefen mir unentwegt die Wangen hinunter. Aber nicht nur sie, nein, auch dicke Regentropfen mischten sich hinzu, so als würde auch Gott weinen, mit mir zusammen. Nur um den Verlust meiner Liebsten kundzutun.
Jedoch klebten die Tropfen an mir, wie tonnenschwere Pflastersteine der Trauer. Sie taten mir nicht gut, aber doch lief ich durch sie hindurch. Immer weiter, immer schneller.
Ich wollte nur noch weg von diesem Gebäude, von diesem schrecklichen Albtraum von Chef, welcher elendig nach Zigarettenqualm und penetrantem Alkohol-Urin-Gemisch stank. Unbegreiflich, wie so ein Mensch überhaupt ein Unternehmen leiten konnte.
Und besonders wollte ich von dieser Erinnerung, welche ich gerade vor wenigen Minuten im Treppenhaus dieses Wolkenkratzers erlebt hatte, nichts mehr wissen. Was für ein Schwachsinn! Daran werde ich mich ein Leben lang erinnern, ermahnte ich mich.
Dauerhafte Bilder schwebten vor meinem inneren Auge. Sie liefen unentwegt, wie ein schlecht gedrehter Film ab. Und wiederholte sich aufs Neuste, immer und immer wieder. Dabei kamen auch Erinnerungen von Sam hoch.
Die vielen Partys, die wir während der Highschool unsicher gemacht hatten. Oder auch die Tage, an denen es einem von uns nicht gut ging, doch der jeweils andere auch zuhause blieb, nur der Pflege wegen. Ja, schon klar. Nur Dummheiten hatten wir im Kopf trotz Krankheit.
Noch heute dürfte Nachbars-Oma Lori, eigentlich Hannelore, stinksauer auf uns sein.
Ihren sechs Jahre alten Jack Russell Rüde Lumpi hatten wir für mehrere Stunden entführt und ihn mit uns jeglich zur Verfügung stehender Schminke bepinselt. Erst als unser Lebenswerk, mit pinken Nagellack und rot-schwarzer Haartönung fertig war, schleusten wir heimlich den Hund wieder in ihr Haus.
Samira war zur damaligen Zeit im Alter von 14, im Jahr 2006, an Windpocken erkrankt. Da ich diese schon hatte, konnten wir unsere Rache - den Hund der streitlustigen Nachbarin einmal umgestalten - vollends in die Tat umsetzen.
Wir hatten Tränen gelacht, als wir Oma Lori kilometerweit schreien hörten. Doch insgeheim fühlten wir uns, selbst nach Jahren, ihr gegenüber schlecht und unwohl.
Sie stand einem Herzinfarkt zu dieser Zeit sehr nahe. Zum Glück nur sehr nahe und nicht mehr. Aber doch hatten wir einen Heidenspaß. Wir verzogenen Gören.
Das war so eine wundervolle Zeit, schniefte ich gedanklich. Äußerlich hingegen weinte ich wie ein Schlosshund.
Mir war es vollkommen egal, ob man mir dies ansah. Man sollte ruhig sehen, dass ich mich mehr als elendig schlecht fühlte und einen Verlust der Extraklasse zu verdauen versuchte.
Doch der strömende Regen tat sein bestes. Man hätte an mir nicht erkennen können, ob es sich um Tränen oder Regentropfen handelte. Alles an mir hing klatschnass herunter. Nicht nur meine hängenden Schultern sowie mein Haupt, auch mein Haar und meine Kleidung, durch die ich leicht zu frösteln begann.
Allerdings entfernte ich mich von allem Elend, welches mich an mein eigentliches Leben erinnerte.
Ich lief die Straßen Convilles schnellen Schrittes entlang, aber nicht so, als würde man meinen ich würde vor jemandem davon rennen … Obwohl … natürlich renne ich vor jemandem weg … vor mir und meinem unerträglichen Schmerz.
Die Straßen wurden immer länger, immer unbewohnter und immer ruhiger. Eine Wohltat für meine schreienden Ausbrüche.
»Nein … Nein, das darf nicht sein«, schrie ich unaufhaltsam.
»Du kannst mir doch nicht meine Sam wegnehmen!«, schrie ich gen Himmel und blieb dabei an einem alten, kleinen Kiosk stehen, dessen Fensterläden schon mal bessere Zeiten gesehen hatten.
Das Gebäude im Rücken, der Regen auf meinem Haupt und die Augen angestrengt aufhaltend. Ich streckte sogar beide Arme rechte und links vom Körper, ballte meine Hände zu Fäusten und hoffte inständig, dass sich ein gewaltiges Gewitter auftun und mich mit einem Schlag über die Wolken befördern würde. Aber auch dabei wurde ich enttäuscht, wie des Öfteren. Man gönnte mir auch gar nichts.
»Warum hast du mir das angetan? Warum …«, schrie ich weiter.
»Hast du mir nicht schon genug angetan?«, flüsterte ich letztlich zu mir selber und senkte abermals meinen Kopf.
Ich konnte und wollte nicht aufhören zu weinen. Jetzt, gerade jetzt musste alles aus mir heraus. Die Wut, die Trauer, die Verzweiflung und auch den Schmerz. Mein Körper zitterte unentwegt und das nicht nur wegen der Kälte, die mich zu durchbohren schien.
Ich lief auf den holprigen Pflastersteinen des Bordsteins der rechten Straßenseite weiter. Zu gerne hätte ich was anderes angehabt. Zum Beispiel meine Lieblingskleidung: bequeme Jeans, sportliche Schuhe und besonders mein geliebter, verschlissener blauer Kapuzenpullover, ein weiterer Begleiter meines Lebens, bei dem man seine Hände in der vorderen Tasche hätte versenken und die Kapuze tief ins Gesicht ziehen können. Aber nein ich Vollidiotin. Ich musste mich natürlich aufbrezeln, obwohl mir dieser grässliche Rock gar nicht stand und die Bluse ein hässliches Überbleibsel meiner Jugend war. Ich hätte sie schon längst verbrennen sollen. Scheiß alte Zeiten!
Sam hätte mich diesbezüglich am heutigen Morgen in die Schranken gewiesen und mir dazu geraten, etwas anderes, etwas Besseres anzuziehen. Ja, das hätte sie.
Sie hatte stets einen guten Kleidergeschmack und wusste ganz genau, was mir stand und was ich hätte lieber spenden sollen. Und ich? Ich beschränkte mich eher auf bequemere Kleidung, die ihren Zweck darin erfüllten zum einen bequem zu sein und zum anderen, um meine Fettpölsterchen zu kaschieren. Jedoch nicht heute. Da wollte ich ja unbedingt chic aussehen, Fehlanzeige. Ich sah wie ein bunt-gerupftes Huhn aus und so fühlte ich mich auch.
»Du hast so eine schöne Taille …«, pflege Sam stets zu sagen. Ja klar und das Fett drum herum? »… und um deinen Busen beneide ich dich schon, seit du ihn hast«, lachte sie immer herzlich auf.
Dabei war ich diejenige, die sie heimlich beneidete. Ihre langen Beine, dafür hätte ich gemordet. Mit einer Körpergröße von gerade einmal 1,60 m wurde ich immer als Zwerg bezeichnet. Sam dagegen war 17 Zentimeter größer und hatte somit Modelmaße.
Auch ihr restlicher Körper hätte einem Model geglichen, besonders ihre arschlangen, brünetten Haare und ihre strahlend blau-grauen Augen, waren ein Blickfang schlecht hin. Mal abgesehen von ihrer Hammerfigur und dem apfelförmigen Hinterteil. Ein Model schlecht hin, seufzte ich immer theatralisch und verdrehte dabei die Augen.
Allmählich kam ich dem Platz näher, den ich gerne und ausgiebig in meiner wenigen Freizeit, die mir zur Verfügung stand, aufsuchte. Ein kleiner, feiner und nicht viel belebter Park, mit einem kleinen Ententeich mittendrin.
Nur vereinzelnde Jogger und Hundebesitzer traf man hier an. Familien mit Kindern hingegen besuchten lieber den stadtinternen Park, der viel größer war und sogar zwei Spielplätze besaß. Allerdings hatte dieser keinen Teich. Entenfüttern scheint wohl aus der Mode zu sein, so hatte ich den Verdacht.
Aber ich kam gerne hierher und sinnierte über mein Leben, welches ich allein, für mich ganz allein in Conville führte. So auch an diesem Tag, worüber ich sehr froh war. Das hätte ich definitiv nicht ausgehalten, mit jemandem hier zu sein.
Als ich mich schließlich durch dichtes Geäst gezwängt hatte und letztlich am Teich ankam, dessen umherliegenden Parkbänke nicht mehr zu gebrauchen waren, ließ ich mich, trotz Regen, auf den durchtränkten und matschigen Wiesenboden nieder.
Ich schmiss mich regelrecht hin und achtete dabei nicht mehr wirklich auf meine Kleidung.
Sollte ich irgendwann nochmals bei mir zuhause erscheinen, so würde ich diese grässlichen Fetzen sofort in die Tonne schmeißen. Das war wenigstens etwas Greifbares, was man in den Mülleimer schmeißen konnte. Die Trauer und den Schmerz, der mich gerade ummantelte, hätte ich nur zu gern dazu getan.
Ich verstehe … einfach … Wie … Warum …
Selbst meine Gedanken waren nicht mehr wirklich fähig einen vernünftigen Satz zu bilden, geschweige denn hatte es einen Sinn ergeben. Zu aufgewühlt, zu durcheinander war ich.
Dann wiederum, unbegreiflich aber wahr, spukten nur noch Fragen durch meinen Kopf. Wie verwirrend.
Warum gerade Sam? Warum musste ihr das passieren? Warum wusste Mia vor mir bescheid? Warum wurde ich nicht persönlich angerufen? Wer hatte überhaupt angerufen? Könnte es nicht durchaus ein Telefonstreich gewesen sein? Oder vielleicht auch von Mia selber? Würde sie mir so einen üblen Streich spielen? Wäre sie dazu überhaupt in der Lage?
Fragen über Fragen, die mich immer mehr quälten. Ich fragte mich dies, ich fragte mich das, aber nie war ich nur ansatzweise einer logischen Antwort nahe.
»Warum gerade sie?«, fragte ich abermals an Gott gerichtet, bettete danach mein Gesicht in meine Hände, die aufgestützt auf meinen Knien lagen.
»Sam … warum …«, ich schluckte schwer, »… warum hast du mich alleine gelassen?«
Doch ehe ich weitere Fragen an Gott und an mich selber stellen konnte, spürte ich etwas neben mir zucken. Für wenige Sekunden durchweg, dann stille und nochmalig.
Es kam mir vor, wie das vibrieren eines Handys. Dass es vielleicht meines sein könnte, kam mir gar nicht in den Sinn, stattdessen sah ich vorsichtig auf und dann um mich herum.
Leichtfüßig prasselte der Regen auf die Wasseroberfläche des Teichs und hinterließ größer werdende Kreise. Jedes Getier, welches sich gerne auf dem Teich aufhielt, war weit und breit nicht zusehen und auch Menschen fehlten in dieser tristen braun-grünen Landschaft.
Ich schien allein zu sein, allein mit meinem Kummer und Schmerz, somit war auch das Zucken rechts von mir rasch wieder vergessen.
Hin und her wippend bemühte ich mich meine Körpertemperatur aufrechtzuerhalten, was sich bei meiner dürftigen Bekleidung als schwierig herausstellte. Dennoch versuchte ich es und umklammerte meine angewinkelten Knie enger.
Meine Zähne klapperten aufeinander, es war mir dennoch egal. Ich beobachtete lieber stumm weinend den Teich, den darauffallenden Regen und die Wasserkreise, die sich alle ähnelten, aber doch ungleich erschienen.
»Sam kannst du dich noch daran erinnern, dass du beinahe mal in so einem Teich ertrunken wärst? Da waren wir gerade einmal sieben und acht Jahre alt. Kannst du dich noch erinnern, wie du dich bemüht hast über der Wasseroberfläche zu bleiben? Man hatte ich eine Heidenangst. Ich hatte geschrien, geweint und irgendwie auch gelacht zugleich. Wie konntest du denn auch nicht schwimmen? Du warst doch immerhin ein ganzes Jahr älter wie ich. Du hättest schwimmen müssen. Ich war der Verzweiflung nahe«, sinnierte ich schluchzend über alte Zeiten.
»Du hättest schwimmen müssen. Ich hatte solche Angst, Angst dich zu …« brr … Brr … Brr … Ich schreckte auf.
Da war es wieder dieses Zucken, dieses vibrieren, dieses verdammte Geräusch, welches die Stille und meine Gedanken abermals unterbrach.
Erneut schaute ich um mich herum, doch wieder war niemand zu sehen. Brr … Brr … Brr … unaufhörlich machte es weiter. Was ist das?
Ich schaute rechts, ich schaute links, nur Bäume, Büsche und Wasser, doch ich spürte es genau.
An meinen Körper herunterschauend erblickte ich schließlich meine Umhängetasche. Verdammt! Kommt es daraus?, schwirrte es mir durch den Kopf. Aber woher? – Brr … Brr … Brr …, ertönte es nochmalig.
Nach einer langen Überlegungszeit, in der ich wieder auf die Wasseroberfläche starrte, nahm ich letztlich doch meine Tasche in die Hand, legte sie mir auf meine zitternden Knie und öffnete sie zögerlich.
Ich bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Jetzt zitterte ich nicht nur wegen der Kälte des Regens, der nass an meinem Körper klebte, auch zitterte ich, da ich genau wusste, was mich in dieser Tasche erwarten würde. Bitte lass es nicht mein ... Natürlich ist es mein Handy. Wie kann ich auch nur denken, es wäre etwas anderes? Wie dumm, wie dämlich, wie bescheuert.
Ich war mir hundertprozentig sicher, dass das Zucken, vibrieren, Brummen von meinem darinliegenden Handy herrühren würde, aber doch wollte ich es nicht wahr haben. Es sollte einfach nicht sein. Ich wollte es einfach nicht, weswegen ich inständig hoffte und betete, vergebens.
Es war mein Handy und … O Gott, bitte nicht … es würde noch mehr auf mich warten.
Nichtsdestotrotz wollte dieses verdammte Ding nicht aufhören. Das Zucken und Summen hielt stetig an und trieb mich in den Wahnsinn. Bitte, bitte lass mich in Ruhe!
Lauthals ein und ausatmend nahm ich schließlich all meinen Mut zusammen, stand auf und stellte mich unter einen nahestehenden Baum. Ich war ein wenig geschützt und auch mein Handy, welches ich aus der Tasche nahm, die zum Glück aus Kunstleder bestand.
Dennoch schützte ich das empfindliche Gerät zusätzlich mit meiner freien, zittrigen Hand, welche ich schützend darüber hielt.
Ich nahm noch einen letzten kalten Atemzug, sog ihn scharf ich mich hinein und schloss für einen Augenblick meine Lider, ehe ich das Handy mit einem Knopfdruck betätigte.
Sofort leuchtete der rötlich-schwarze Bildschirmschoner auf, welchen ich mit einer Wischbewegung eines Fingers wegzaubern musste. Mir verschlug es abrupt den Atem.
Neun Anrufe in Abwesenheit, fünf Kurzmitteilungen und … Sam … meine Sam.
Ihr bezauberndes Lächeln, ihre Haarpracht, ihre strahlenden Augen, ihre Wangen, ihre … Ich hätte die Liste endlos weiterführen können, aber … es schmerzte zunehmend.
Ihr Anblick hinter den Anrufen in Abwesenheit und den Nachrichten ließ meinen Körper zu Stein gefrieren. Ihr Gesicht als Hintergrundbild. Ich war dem Wahnsinn näher gekommen.
Nichts mehr rührte sich in mir. Einzig die Tränen, die sich einfach nicht aufhalten ließen. Ich zitterte nicht mal mehr, vom Atmen ganz zu schweigen.
»O NEIN!«, schrie ich nach einer gefühlten Ewigkeit so laut aus mir heraus, sodass es anfing, in meiner Kehle zu brennen.
»O … NEIN!«, brüllte ich gedehnter.
»NEIN … NEIN … NEIN!«, entfuhr es mir weiter, dabei ließ ich mich zu Boden fallen, schüttelte wild meinen Kopf und drehte und windete ich mich auf dem nassen Untergrund hin und her, wie ein kleines Kind, dem man verwehrt hatte, sich einen Lolli im Einkaufsladen kaufen zu dürfen.
Hysterisch, wie ich war, stampfte und schlug ich dabei unentwegt mit Füßen und Händen auf den Boden. Ich wollte und konnte es einfach nicht verstehen, dass man mir meinen Lebensinhalt genommen hatte. Aber doch war es so, zumindest wurde es mir so gesagt.
All meine Gefühle, meine Emotionen, meine Verzweiflung, mein Kummer und Schmerz ließ ich nochmalig aus mir heraus. Doch dieses Mal war es anders, anders als zuvor.
Es war stärker denn je, inbrünstiger und schwerfälliger.
Mit all meiner Kraft presste und drückte ich alles aus mir heraus, aber wohin? Der Regen erstickte alles. Der Wind verwehte alles. Nichts kam da an, wohin ich all mein Gefühlschaos schicken wollte.
Ich wollte Gott, Sam und auch mich selber mit Worten, die keinen wirklichen Sinn ergaben, bestrafen. Jeder sollte spüren, wie verzweifelt ich doch war. In diesem Moment, unter einem Baum, in diesem Regenwetter der Gefühle.
»NEIN … NEI …«
»Jelly?«, ich stockte.
»Jelly? Jelly bist du das?«, ich bewegte mich nicht mehr.
»Jelly? Jelly hörst du mich?« Was … Wer … Sam? Panisch riss ich meine Augen auf.
»Jelly … hörst … du …«, es verstummte. Was … Was war … das?
Ich setzte mich auf, die Arme abstützend auf dem Boden hinter mir und den Blick in alle Richtungen gedreht. Allerdings verschwamm mein Sichtfeld unter Tränen und dem Regen. Nichts mehr sah danach aus, wie ich es zuvor noch gesehen hatte.
Der Teich war nur noch eine grau-weiße Masse unter einem fortlaufenden Grün-braun-Ton. Dabei peitschte mir der Wind durchs nasse Haar und benetzte mich weiterhin mit kalten Regentropfen.
Nur ein greller Schein am geglaubten Ende des Teichs setzte sich von allem anderen ab. Er war weder grau-weiß noch grün-braun. Was … ist … das?
»Jelly?«, wurde abermals gerufen, nur es drang seicht an mein Ohr. Das Wetter verschluckte alles, auch mein Husten, welcher anfing, mir den Sauerstoff zum Atmen zu rauben.
»Hal…lo?«, rief ich unter einem keuchenden Hustenanfall, der mich vollkommen einnahm. Was ist denn jetzt los? Weder hatte ich mich verschluckt noch war ich erkältet – noch.
Ich hustete permanent auf und es kratzte unerträglich in meinem Hals.
Eine Hand auf dem Bauch liegend und die andere Hand vor meinem Mund haltend, saß ich hustend da und begutachtete den näherkommenden Schein.
»JELLY?«, wurde es lauter.
»JELLY, BIST DU DAS?«, rief man weiter.
»Ha … l … o, wer …«, doch zu mehr kam ich nicht. Der Husten kratzte und hörte nicht auf. Es tat nur noch weh.
»JELLY?«
Sam … Sam bist … du … das? Selbst meine Gedanken kamen ins Stocken.
Zum einen, wegen des Hustens und zum anderen … Sam? … Sam … aber das, … das kann … Da war es auch schon um mich geschehen.
Mir blieb die Luft weg. Das Atmen fiel mir unerträglich schwer. Meine Lunge brannte und quietschte zugleich. Ich … kann … nicht … mehr … at … atm … Schwarz … alles Schwarz. Mich übermannte die Schwärze der Ohnmacht.
Letztlich bekam ich noch den dumpfen Aufprall mit und danach … Schwarz, Kohlraben Schwarz. Was ist pa …
Texte: © Geneviève Morin
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Tag der Veröffentlichung: 26.05.2014
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