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4. Magie


1.
Einige Wochen später stand Thelin im Schatten eines Apfelbaums hinter dem Waisenhaus und genoss die wohlige Wärme des Spätsommers. Es war Hochtag und heute gab es keine Arbeit. Der Tag stand zu seiner freien Verfügung und er ging seiner neuen Lieblingsbeschäftigung nach: Er übte sich im Bogenschießen.
Vor einer Woche war Mulgran zu Besuch gekommen und hatte ihm einen elegant gefertigten Bogen samt einer großen Zahl Pfeile zum Geschenk gemacht. Das Holz war hart, aber dennoch biegsam, die Sehne glänzte silbrig und sirrte angenehm, wenn man einen Pfeil abschoss. Thelin war gleich vernarrt in die feine Waffe gewesen und verbrachte seine gesamte freie Zeit damit, seine Fertigkeiten zu verbessern.
Heute hatte er sich als Ziel einen etwa zwanzig Schritt entfernt stehenden Baum ausgesucht, der nach wenigen Schüssen mit Pfeilen gespickt war. Er wurde stetig besser, die Übungen zahlten sich aus. Schon hatte er beschlossen, es nun aus größerer Distanz zu probieren, als Mulgran aus dem Haus trat.
An ihrem Rockzipfel hingen mehrere Kinder, die die alte Frau um Leckereien anbettelten, doch sie schickte sie lachend weg.
„Später, später!“, rief sie ihnen hinterher.
Thelin betrachtete die eigentümliche Dame, die zu ihm kam. Sie trug die grellbunte Kleidung, die so charakteristisch für sie war und stützte sich, so wie sie es immer tat, auf ihren langen knorrigen Stab, der mehrere Handbreit über ihren Kopf hinausragte.
„Puh, es ist ganz schön heiß heute, nicht wahr?“, meinte sie und zog sich den Hut vom Kopf, um sich Luft zuzufächern. Langes, weiß-graues Haar kam zum Vorschein, das zu einem lockeren Zopf zusammen gebunden war.
„Ja, ehrenwerte Frau Mulgran, das ist es!“, erwiderte Thelin und konnte ein breites Grinsen kaum unterdrücken.
„Du sollst mich nicht so anreden!“, sagte Mulgran schnell und zwinkerte ihm zu. „Ich glaube fast, du tust dies mit Absicht! So als wolltest du mich ärgern!“
„Nein, ehren…, ähm, nein, Mulgran, natürlich nicht! Beim blauen Himmel, wie käme ich dazu!“, gab Thelin mit Unschuldsmiene zurück. Natürlich wusste er, dass die alte Dame solche Förmlichkeiten nicht mochte, aber sie war jederzeit für einen Spaß zu haben. Nicht allein deswegen mochte er sie so sehr.
Mulgran wandte ihre Aufmerksamkeit Thelins Schießkünsten zu.
„Du machst dich, für eine Woche Übung bist du bereits sehr gut! Erstaunlich!“
Stolz setzte Thelin zu einem weiteren Schuss an, doch dieser ging weit daneben.
„Naja, es geht so!“, sagte er beschämt grinsend. „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, so heißt es doch!“
„Übe tüchtig weiter und du kannst eines Tages ein solcher Meister werden. Da bin ich zuversichtlich!“, Mulgran setzt ihren Hut wieder auf, nicht ohne sich noch einmal ausgiebig am Kopf zu kratzen.
„Ich habe lange überlegt, ob ich dir den Bogen geben soll!“, fuhr sie fort und wirkte ein wenig verlegen. „Eigentlich mag ich Waffen nicht besonders und ein Bogen kann eine besonders hinterhältige Schusswaffe sein. Aber du wirst langsam erwachsen und ich finde, du solltest dich verteidigen können, wenn es sein muss!“
Mulgran hielt inne und machte ein ernstes Gesicht. Sie seufzte und sprach schließlich weiter.
„Der Bogen gehörte deinen Eltern. Er lag bei dir, als ich dich fand. Ich glaube, du solltest das wissen.“
Thelin war wie vor den Kopf geschlagen. Er wusste so gut wie nichts über seine Eltern, außer dass sie kurz nach seiner Geburt gestorben waren. Mulgran hatte ihn bei ihnen gefunden. und ließ nie etwas über die näheren Umstände verlauten. Es war heute das erste Mal, dass sie von seinen Eltern sprach.
Ehrfürchtig betrachtete er den Bogen und fuhr sanft mit dem Finger über die eleganten Schnitzereien auf dem hellen Holz. Wenn er daran dachte, dass vielleicht sein Vater die wundervolle Waffe selbst in Händen gehalten hatte, dann fühlte er sich ihm zum ersten Mal in seinem Leben nahe - als wäre er nur einen Herzschlag entfernt. Er war froh, endlich etwas von seinen Eltern zu besitzen, endlich hatte er etwas, was von ihnen auf ihn übergegangen war, so wie es sein sollte. Aber seine Freude erstarb schnell, als ihm wieder bewusst wurde, wie wenig er über sie wusste. Beim Gedanken an sie stand kein Bild vor seinen Augen. Da war nur undurchdringlicher Nebel, der alles überdeckte. Jetzt gab ihm der Bogen das Gefühl, als würde der Schleier sich ein wenig heben.
„Sie waren guten Herzens!“, sagte Mulgran sanft und schreckte Thelin aus seinen Gedanken. Sie wandte sich schon zum Gehen, da fragte er unsicher:
„Woher wisst Ihr das? Dass sie guten Herzens waren, meine ich. Kanntet Ihr sie?“
„Nein, leider kannte ich sie nicht. Ich sah sie zum ersten Mal, als sie tot vor mir lagen. Doch ich konnte es sehen. Glaube mir, sie hatten gute Herzen, ich weiß es!“
Thelin nickte und betrachtete mit aufgewühlten Gefühlen den Bogen.
Dieser einfache Gegenstand war nun die einzige Verbindung, die er zu seiner Familie hatte. Er würde gut auf ihn Acht geben.
Tausend Fragen brannten ihm auf der Zunge, aber als er den Kopf hob, war Mulgran verschwunden.

2.
Wenig später lief Thelin über den Steg, den er zusammen mit Fendo repariert hatte, während sie große Abenteuer ersonnen hatten, die sie gemeinsam bestehen wollten. Kurz verharrte er in Gedanken an seinen alten Freund, der nun schon so lange Zeit fort war. Sie hatten einander nicht Lebewohl gewünscht. Als Thelin nach einer unruhigen Nacht erwacht war, war Fendo mit Meister Eldrin schon von dannen gezogen. Die Erinnerung daran streifte ihn, wie er an diesem Tag den großen Karren alleine hierher gezogen hatte und mit einer Mischung aus Wut und Selbstmitleid an dem Steg gearbeitet hatte. Der Höhepunkt war gewesen, als er auf einen widerspenstigen Nagel hatte schlagen wollen und ihn verfehlt hatte. Durch den eigenen Schwung war er vornüber in den Bach gefallen. Er war unverletzt geblieben, wobei er von Glück sagen konnte. Patschnass hatte er sich daraufhin auf den Rückweg gemacht und seitdem keinen Handschlag mehr getan. Er hatte behauptet, die Arbeit sei erledigt und niemand hatte seine Worte angezweifelt.
Schnell ließ Thelin den Steg hinter sich und trabte in Richtung des großen Waldes. Unweit lag das niedergebrannte Gehölz, das sich bereits von dem Unglück erholte. Es war erstaunlich, wie schnell die Natur den schwarzen Flecken Erde wieder erobert hatte.
In Thelins Händen befanden sich sein Bogen und ein Bündel Pfeile. Kurz nachdem Mulgran ihn verlassen hatte, waren Schwärme von Kindern aus dem Haus geströmt und hatten lauthals begonnen, miteinander zu spielen. Genervt war Thelin vor dem Lärm geflohen und seine Schritte führten ihn nun wie von selbst zu dem großen Wald. Er wollte sich ein wenig im Bogenschießen üben und sich vielleicht gar eine Mahlzeit jagen. Allerdings war ihm nicht sehr wohl dabei, wenn er sich vorstellte, wie einer seiner Pfeile aus dem Bauch eines jungen Rehs ragte. Da aß er lieber Haferschleim.
Er war noch nicht oft hier gewesen. Altweiler und sein Lieblingsplatz in den Hügeln lagen in einer ganz anderen Richtung. Dort war auch das Leben, Dörfer, Höfe oder kleine Katen auf den Feldern. Hier jedoch begann der große Wald, ein düsterer Ort, den niemand gerne aufsuchte. Kindern wurden unheimliche Dinge über die Bäume erzählt. Man sagte ihnen nach, sie würden in der Nacht lebendig und holten dann unartige Jungen und Mädchen zu sich in den finsteren Wald. Thelin hatte kein Wort davon geglaubt und sich vielmehr über die ängstlichen Blicke der anderen Kinder lustig gemacht.
Stumm grüßten ihn die gewaltigen Bäume und erzeugten ein leises Gefühl der Ehrfurcht. Die knorrigen Riesen waren älter als alles andere Leben auf der Welt Nasu, fast war es ihm, als hörte er sie murmeln und von einer längst vergessenen Welt erzählen. Aber da war nur das Wispern der Blätter im lauen Sommerwind.
Auf dem Weg hierher war Thelin über offene Felder und weitläufige Wiesen gegangen und die Sonne hatte ihn mit warmen Strahlen verwöhnt. Nun aber empfing ihn ein kühler Hauch, als er in den Schatten des Waldes trat. Ein Blick zurück zeigte ihm das leuchtende Grün einer von Sonnenlicht liebkosten Ebene und er fragte sich, warum ihn sein Weg zu diesem unwirtlichen Ort geführt hatte. Der Grund dafür war schwer zu bestimmen, die Faszination, die der Wald auf Thelin ausübte, war jedoch greifbar und er konnte sich ihr nicht entziehen. Eine unbewusste Kraft zwang ihn vorwärts.
Thelin sog den würzigen Geruch des Waldes gierig in sich auf und sah sich neugierig in dem Gewirr aus Baumstämmen, Sträuchern und Unterholz um. Vereinzeltes Licht drang in dünnen, rauchigen Steifen durch das dichte Blattwerk und fiel in leuchtenden Kaskaden auf den spärlich mit Gras und Moos bewachsenen Waldboden. Vögel sangen ihre uralten Lieder, ein Specht ließ ein kurzes Stakkato vernehmen, Kleintiere wuselten raschelnd durch das Dickicht und alles wurde begleitet vom endlosen Rauschen der Blätter im Wind. Eben noch hatte dieser Ort auf Thelin dunkel und abweisend gewirkt, jetzt aber spürte er den rauen Charme der freien und unberührten Natur. Verzaubert setzte er einen Fuß vor den anderen und bestaunte mit offenem Mund all die kleinen Wunder, die sich ihm boten. Ein kleines Tier, ähnlich einer Maus, blickte ihm von einem niedrigen Ast keck an und verschwand dann fiepend im dichten Laub. Im Schatten eines Strauchs mit leuchtend blauen Früchten stand ein fast kniehoher Pilz, dessen Hut rot schimmerte. Um ihn herum hatte sich eine ganze Horde kleiner Ebenbilder ausgebreitet.
„Familie Rot-Pilz!“, dachte Thelin amüsiert und genoss die Eindrücke, die auf ihn einströmten, mit verzücktem Lächeln.
Einige Schritte entfernt befand sich ein dichter Busch mit dunklen, dicken Blättern. Dralle, dunkelviolette Beeren hingen daran und Thelin pflückte vorwitzig eine davon. Er widerstand der Eingebung, genüsslich in die verlockende Frucht hinein zu beißen und zerdrückte sie stattdessen zwischen Daumen und Zeigefinger. Ein fauliger Geruch drang ihm in die Nase und er wischte angeekelt seine Hand im
Moos ab.
„Gut, dass ich die nicht gegessen habe!“, murmelte er bei sich und wollte weiter gehen, als ein Vogel aus einem Gebüsch vor ihm aufflog und protestierend piepte. Thelin schrak aus seinen Gedanken hoch.
„Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht verlaufe!“, dachte er und drehte sich um. Zwischen den dicht stehenden Bäumen konnte er gerade noch das Tageslicht erkennen. Er wollte nicht leichtsinnig sein und beschloss, nicht tiefer in den Wald einzudringen.
Während er noch da stand, unschlüssig, ob er nicht besser umkehrte, entdeckte er nicht weit entfernt einen hellen Platz, eine Lichtung, wo die Sonne ungehindert auf die mit kurzem Gras bewachsene Erde fiel.
„Bestens!“, sagte er zu sich selbst und ging eilig dort herüber. Am Rande der Lichtung musste er sich durch dichtes Unterholz schlagen, wobei er laut fluchte, da er sich in Dornen verfing und seine Kleidung zerriss.
Schließlich hatte er sich durchgekämpft und stand im warmen Sonnenschein. Er sah an sich herab, seine nackten Unterschenkel wiesen Schrammen auf, die aber keine Schmerzen bereiteten. Seine Hose war jedoch an mehreren Stellen eingerissen. Ihm standen langwierige Stopfarbeiten bevor, denn er besaß nur zwei verschiedene Beinkleider. Mehr als das hielten die ehrenwerten Frauen nicht für notwendig.
Thelin zuckte gleichgültig mit den Achseln. Seine Hosen waren schon so oft gestopft worden, da kam es auf die paar Risse nun auch nicht mehr an.
Die Lichtung war wie geschaffen für sein Vorhaben. Sie war annähernd kreisrund und stieg zur Mitte hin leicht an. Dort, genau im Zentrum stand eine mächtige dunkelblaue Tanne, die ihre schweren Äste Flügeln gleich von sich streckte. Thelin sah sie verdutzt an. Sie war der einzige Nadelbaum, den er bislang in diesem Wald gesehen hatte. Es war eine seltsame Laune der Natur, dass sie hier stand. Aber Thelin kümmerte es nicht lange, was verstand er schon von solchen Dingen?
Gut gelaunt legte er seinen Bogen samt der Pfeile nahe der Tanne ins Gras und suchte sich eine große Eiche am Rande der Lichtung aus, die ihm als Ziel dienen sollte. Mit seinem Messer ritzte er drei konzentrische Kreise in die Rinde, von denen der kleinste gerade mal Handteller groß war. Dann stellte er sich in etwa fünfzehn Schritt Entfernung zu seinem Ziel auf und legte einen Pfeil an die Sehne.
Das Geschoss sirrte durch die Luft und bohrte sich mit einem harten Geräusch in den Stamm der Eiche, nur wenige Fingerbreit entfernt vom innersten Kreis.
„Ein guter Anfang!“, brummte er zufrieden und griff zum nächsten Pfeil.
Eine Zeit lang übte Thelin konzentriert weiter und schaffte sogar einige Volltreffer in die Mitte. Bald aber verließ ihn die Lust. Nachdem er einige Zeit mit albernen Spielereien verbracht hatte, so hatte er zum Beispiel mit geschlossenen Augen geschossen und dabei soweit das Ziel verfehlt, dass er den Pfeil nicht mehr wieder fand, setzte er sich ins weiche Gras und blickte versonnen zum Himmel.
Wieder kam ihm sein Freund Fendo in den Sinn, mit dem der heutige Tag gewiss noch schöner gewesen wäre. Oft hatte er darüber nachgedacht, doch noch alleine abzuhauen, an Tagen wie heute kam ihm das so leicht vor. Die Versuchung war da, quälte ihn wie ein Juckreiz, raunte ihm zu, es wäre ein großes Abenteuer geworden, zusammen hätten sie die Welt erobert.
Aber dann hatte er sich immer wieder die Frage gestellt, warum er das tun sollte. Für ihn allein war die Vorstellung schal und albern. Es ging ihm gut im Waisenhaus, wenn er sich auch manchmal ein wenig einsam fühlte. Tag für Tag stand eine Mahlzeit auf dem Tisch und die Arbeit war nicht so schwer, wie er es immer beklagte. Heute wusste er nicht mehr, aus welchen Gründen Fendo und er das Leben bei den ehrenwerten Frauen hatten hinter sich lassen wollen. Frau Lean hatte ihnen immer mal wieder Anlass gegeben, aber auch sie brachte Thelin schon lange nicht mehr aus der Ruhe.
Trotzdem blieb das Gefühl des Alleinseins, ausgelöst durch Fendos Abreise. Jetzt war niemand mehr da, der auch nur etwa im gleichen Alter war wie er. Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass er keine Freunde hatte, er war wirklich ganz allein. Die Erkenntnis, dass etwas fehlte in seinem Leben, saß wie ein Stachel in seiner Brust, als er sich aufrichtete, um den letzten Pfeil für heute in den Stamm der Eiche zu jagen.
Das Geschoss glitt von der Sehne, verfehlte aber weit das Ziel. Es prallte von einem krummen Ast ab und flog in hohem Bogen in den Wald.
Thelin fluchte und hoffte inständig, dass er nicht noch einen Pfeil verloren geben musste.
Der Schrei zerriss die idyllische Stille des Waldes.

3.
Verblüfft ließ Thelin den Bogen fallen. Hatte er etwa unabsichtlich ein Wild erlegt? Aber nein, das war nicht die Stimme eines Tieres gewesen. Er war nicht, wie er geglaubt hatte, alleine in diesem Wald. Jemand anderer war außer ihm noch hier und der Pfeil hatte ihn anscheinend getroffen.
Er rannte los, sprang durch das Dickicht, ohne jede Rücksichtnahme auf seine Kleidung. Seine Augen mussten sich erst an das Halbdunkel unter den Bäumen gewöhnen, dann aber sah er, wie das Laub eines nahen Baumes heftig erzitterte. Eine leise Stimme drang daraus hervor, die sich verwundert und ärgerlich anhörte.
Thelin stockte. Auf wen hatte er da geschossen? Er hoffte, dass nichts Schlimmeres passiert war, aber der Klang der Stimme ließ das nicht vermuten. Es ähnelte weit mehr dem ärgerlichen Schimpfen eines Tieres. Langsam näherte er sich und fragte mutig:
„Hallo? Habe ich jemand verletzt?“
Die Stimme verstummte und das Rascheln der Blätter verebbte augenblicklich.
Thelin wusste nicht recht, was er tun sollte. Seine Augen versuchten das dichte Blattwerk zu durchdringen, doch es war nichts zu erkennen.
„Hallo?“, wiederholte er. „Wer ist denn da?“
Es kam keine Antwort. Der Wald war ganz still, weit entfernt drang nur das fröhliche Piepen eines Vogels an Thelins Ohr.
Er trat noch näher an den Baum heran und spähte angestrengt durch das Laub. Schemenhaft glaubte er etwas zu erkennen. Ihm war, als würde er einen nackten Fuß mit kurzen aber dicken Zehen erkennen. Bedächtig griff seine Hand in das Geäst und zog es nach unten.
Sein Blick fand zwei große, braune Augen, die ihn voller Verwunderung anstarrten. Sie gehörten zu einer kleinen, rundlichen Gestalt mit langem, lockigem Haar und einem dichten, schwarzen Bart, die ganz in Grün gekleidet war. Thelins Pfeil hatte das rechte Hosenbein an den Ast genagelt und eine dickliche Hand hielt ihn noch immer am Schaft umklammert und versuchte, ihn herauszuzie­hen.­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­
Thelin klappte vor Überraschung der Unterkiefer herunter und er brachte außer einem leisen „Oh!“ keinen Ton heraus. Lange sahen sie einander wortlos an, bis die fremde Gestalt sich zuerst bewegte. Mit einem Ruck und einem leisen „Plopp“ zog sie den Pfeil heraus. Die abrupte Bewegung ließ sie das Gleichgewicht verlieren und nachdem sie für einige Momente verzweifelt mit den Armen gerudert und den Oberkörper wie bei einem schnellen Tanz vor und wieder zurück gebogen hatte, fiel die kleine, dicke Gestalt vornüber, geradewegs in Thelins Arme, der von der unerwarteten Last zu Boden geworfen wurde.
Für einen kurzen Augenblick lagen sie Nase an Nase und atmeten den Atem des anderen. Dann aber sprang der Fremde auf und lief eilig einige Schritte rückwärts. Schon schien es, als würde er in den Wald laufen und so plötzlich verschwinden, wie er aufgetaucht war. Doch das tat er nicht. Er blieb vielmehr stehen und verzog die Gesichtszüge, er dachte anscheinend angestrengt über etwas nach.
Thelin richtete sich langsam auf und musterte sein Gegenüber neugierig. Die nachdenkliche Miene des Fremden erhellte sich zusehends, Erschrecken und Erstaunen fielen von ihm ab. Fast hätte man meinen können, er freute sich nun über die unverhoffte Begegnung. Also fasste Thelin sich ein Herz.
„Wer bist du?“, fragte er plump.
Es dauerte einen Moment, bis der Fremde auf die Frage reagierte, indem er verständnislos die Stirn runzelte.
„Verstehst du, was ich sage?“, fragte Thelin und sprach betont langsam. Die Miene des kleinen Mannes hellte sich auf. „Du verstehst mich?“
Der Fremde nickte bedächtig und noch etwas zögerlich, in seinen Augen aber zeigte sich ein Schimmer des Verständnisses.
Thelin erkannte, dass er etwas sagen musste, also beschloss er, sich erst einmal vorzustellen.
„Mein Name ist Thelin!“, eröffnete er langsam und unterstrich seine wenigen Worte mit weit ausholenden Gesten. „Ich wohne in einem großen Haus weit außerhalb des Waldes. Ich bin siebzehn Jahre alt und habe mich auf der Lichtung im Bogenschießen geübt. Es tut mir Leid, dass dieser Pfeil dich beinahe getroffen hätte. Ich hoffe, du bist mir nicht böse.“
Erwartungsvoll sah er zu dem Fremden, in dessen Kopf es sichtlich arbeitete, er konzentrierte sich ganz auf die Worte.
„Ich…“, begann er, doch seine Stimme klang heiser und rau. Aber selbst in diesem einen Wort schwang schon ein seltsamer Akzent mit, der verriet, dass der Mann nicht aus dieser Gegend stammen konnte. Er legte eine Hand an den bärtigen Hals und hob erneut zum Sprechen an. Seine Stimme blieb schroff und wirkte wie eingerostet, so als wäre sie lange Zeit nicht mehr ertönt. Oftmals blickte er ungeduldig zur Seite, wenn er in seinem Gedächtnis nach den rechten Worten kramte.
„Ich… bin Olten Anamaresta, … lebe hier … im Wald. Immer nicht,… wie lange?“
Das kurze Sprechen hatte ihn viel Mühe gekostet, doch er schien mit dem Ergebnis sehr zufrieden, denn ein schüchternes Lächeln trat auf sein Gesicht, wenn es auch hinter dem dichten Bart fast vollständig versteckt blieb.
Thelin erwiderte zaghaft das Lächeln, hatte aber nicht recht verstanden.
„Wie lange?“, wiederholte er und zuckte mit den Schultern.
„Wie lange?“, echote Olten und ahmte jede Geste nach.
Jetzt begriff Thelin. „Ach so, du weißt nicht, wie lange du schon hier bist! Aber wie kann das denn sein?“
Olten schüttelte langsam den Kopf und gab nun ein wunderliches Bild ab. Zwar blieb das freundliche, schüchterne Lächeln an ihm haften, um seine Augen jedoch legte sich ein trauriger Ausdruck.
„Wie lange…“, sagte er und diesmal war es keine Frage, sondern ein Ausruf des Bedauerns.
„Ich verstehe nicht ganz. Warum bist du so traurig deswegen, wenn es dir hier nicht gefällt, dann geh doch einfach woanders hin!“
Nur kurz streifte ihn der Gedanke, dass er selbst nicht den Ort hinter sich ließ, an dem es ihm nicht mehr so gut gefiel. Hier aber schienen die Gründe anders zu liegen.
Olten schaute ratlos drein. Thelin hatte so schnell gesprochen, dass der kleine Mann kaum ein Wort verstanden hatte. Thelin musste sich wiederholen und untermalte seine Worte wieder mit Händen und Füßen.
Die Traurigkeit um Oltens Augen nahm zu. „Nein, nicht kann!“
„Warum das denn nicht?“, fragte Thelin erstaunt und ging ein paar
Schritte auf sein Gegenüber zu. Ein Funke von Misstrauen trat in Oltens Blick.
„Hey, keine Angst!“, Thelin blieb stehen und hob beschwörend die Hände. „Ich will dir nichts tun. Beim Beben, das mit dem Pfeil war ohne jede Absicht. Ich könnte nicht mal auf einen Hasen schießen. Glaube mir, vor mir hast du nichts zu befürchten!“
Olten zog wieder die Stirn kraus. „Beim Beben?“, fragte er.
„Was?“, Thelin war verwirrt, „Ach so, das ist nur so ein Ausruf, vergiss es!“
„Vergisses?“, echote Olten und sprach es wie ein Wort aus.
„Vergiss es!“, betonte Thelin und machte zwischen den einzelnen Worten eine künstliche Pause. Er ruderte wie wild mit den Armen, als ob sein Gegenüber dann besser verstehen könnte.
Olten nickte stockend, aber er sah nicht so aus, als hätte er irgendetwas verstanden. Langsam begann die Begegnung ihn zu überfordern. Er war es nicht gewohnt, mit jemandem zu sprechen.
Thelin stemmte die Hände in die Seiten und seufzte. „Hm, das ist nicht so leicht, was?“
Er grinste breit, während er sich ausmalte, wie er den restlichen Tag mit Olten verbrachte. Nein, das würde bestimmt nicht leicht.

4.
Die Sonne folgte ihrem uralten Rhythmus und tauchte unbeirrbar hinab zum Horizont. Der Tag ging zur Neige, doch Thelin und Olten bemerkten davon nichts. Sie saßen im Schatten der Tanne und versuchten, miteinander zu sprechen. Es ging von Mal zu Mal besser, Oltens Rede wurde flüssiger, wenn er sich auch noch oft verhaspelte oder das richtige Wort nicht fand.
Nach und nach wurde seine einzigartige Geschichte klarer, Thelin hörte mit zunehmendem Erstaunen und gelindem Entsetzen zu. Er konnte nicht zählen, wie oft er ungläubig „wie bitte?“ gesagt hatte, war es, weil er Worte nicht verstand oder ihr Inhalt nicht zu glauben war.
Die Sonne berührte die Wipfel der Bäume, als Olten mit trauriger Miene zum Ende kam. Er hatte zu Thelin Vertrauen gefasst und hatte ganz offen gesprochen, zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit.
Thelin saß ihm gegenüber und betrachtete ihn aus großen, ratlosen Augen. Stockend versuchte er zusammenzufassen.
„Also, nun einmal langsam und von vorne, damit ich das alles richtig verstehe! Du lebst hier in diesem Wald, mehr oder weniger allein, wenn man von all dem Getier einmal absieht, welches hier ebenfalls noch zu Hause ist.“
Thelin sah sich für einen kurzen Augenblick unbehaglich um und legte die Arme um seine angezogenen Knie.
„Jetzt kommt der fantastische Teil deiner Geschichte. Es ist nämlich nicht so, dass du freiwillig hier wärst. Im Gegenteil, man hält dich hier gefangen, der Wald ist dein Käfig, der dich auf magische Weise an einem Ausbruch hindert.“
Thelin machte eine Pause. Wenn er es selbst aussprach, wirkte es noch unglaublicher.
„So es Richtigkeit hat!“, fiel Olten nickend ein. „Von großer Kraft war Magie des Kundigen Eftulak, welcher Olten Anamaresta verbannte in das Reich der ältesten Bäume der Welt Nasu.“
„Irgendwie hast du diesen Eftulak so sehr verärgert, dass er dich verbannt hat. Ich wüsste schon gerne, was du getan hast! Aber das magst du nicht erzählen. Warum bloß?“
Olten schüttelte energisch den Kopf. Was immer es war, er würde nicht darüber sprechen.
Thelin klatschte in die Hände. „Na gut, belassen wir es dabei. Du willst nicht, damit ist das erledigt. Fahren wir fort mit unserer Zusammenfassung: Es ist nicht nur so, dass du nur hier gefangen bist, sondern du weißt noch nicht einmal, wie lange schon. Nach dem, was du mir erzählt hast, weißt du nicht einmal, dass unsere Welt Nasu durch den Riss geteilt ist. Das heißt nichts anderes, dass du mindestens schon tausend Jahre hier bist!“
Thelin stockte und schüttelte den Kopf. Es war einfach nicht zu glauben.
„Also, es ist nicht so, dass ich dir nicht glauben möchte, aber …äh… du siehst nicht aus wie jemand, der so alt ist. Keine grauen Haare, keine Falten, kein krummer Rücken. Du siehst kaum älter aus als ich!“
Olten lächelte sanft und nickte. „Kein Wissen habe ich um meine Zeit, gleich und gleich sind die Tage. Verdammt bin ich zu leben ohne Alter an diesem Ort!“
„Ich verstehe nicht…“
„Für immer war ich hier, für immer bin ich hier. Oltens Zeit ist nicht die deine.“
Langsam glaubte Thelin zu verstehen. Nicht nur dieser Wald war Oltens Käfig. Auch die Zeit hielt ihn gefangen. Während in der Welt die Jahrhunderte vorbei gezogen waren, war er hier gewesen, abgeschnitten vom Lauf der Jahre. Thelin hatte in seinem Leben noch nicht viel über solche Dinge wie den Verlauf der Zeit oder das Wirken der Magie nachgedacht, eines aber fiel ihm gleich auf.
„Wenn es tatsächlich so ist, dass wir in anderen Zeiten leben, wie kann es dann sein, dass wir hier sitzen und uns unterhalten? Das ist doch ein Widerspruch, oder nicht?“
Olten hob nachdenklich die Schultern. „Alt nun ist Eftulaks Zauber, verfallen kann seine Kraft. Möglich ist es, dies ist der Grund!“
Er machte eine Pause und Hoffnung stahl sich in seine Stimme.
„Niemals zuvor traf ich jemand hier!“, fuhr er fort. „Niemand war hier? Olten war hier? Du bist hier …“
Er unterbrach sich. Seine eigenen Gedanken verwirrten ihn und es ärgerte ihn offensichtlich, dass er sich nicht so ausdrücken konnte, wie er es wollte.
„Tja, ich denke es spielt keine Rolle, warum wir uns miteinander unterhalten können. Wichtig ist doch nur, dass wir es tun.“, meinte Thelin und zog eine Grimasse. „Vielleicht bedeutet das, dass der Zauber nicht mehr wirkt. Wir können es gleich ausprobieren, der Waldrand ist nur wenige Schritte entfernt!“
Sofort hob Olten abwehrend die Hände und prallte förmlich vor Thelins Worten zurück. Er war zutiefst erschrocken.
„Nicht möglich, nicht möglich!“, rief er furchtsam aus.
„Aber warum denn?“
„Tod bringt es, sicheren Tod! Eftulaks Worte!“
„Aber du musst es doch wenigstens versuchen! Sonst musst du ewig hier bleiben!“
„Ewigkeit ist schon vergangen!“, erwiderte Olten resigniert legte die Hände ergeben in seine Schoß. „Nichts anderes kenne ich mehr!“
Thelin sprang aufgeregt auf die Füße. „Aber da draußen ist die Freiheit, ein anderes Leben außerhalb eines Käfigs! So viele Dinge warten auf dich, Abenteuer und unendliche Möglichkeiten! Das kannst du doch nicht so einfach wegwerfen!“
Olten schwieg betreten und sah zu Boden. Er gab ein Bild des Jammers und Thelin beschloss, ihn nicht länger zu bedrängen. Doch er schwor sich, seinem neuen Freund zu helfen, dazu fühlte er sich geradezu verpflichtet.
„Angst ist in mir, große Angst!“, sagte Olten leise. „Lange währte es wohl, mein Leben, doch Tod suche ich nicht. Ist es mein Schicksal, leben in diesem Wald für alle Zeit?“
„Ich weiß es nicht!“, sagte Thelin wahrheitsgemäß und legte dem kleinen Mann tröstend eine Hand auf die Schulter. Aber ich werde es herausfinden, dachte er grimmig bei sich.
Eine Weile noch saßen sie still im Gras und lauschten dem Rauschen des Waldes. Dann erhob sich Thelin und sagte, dass er nun heimgehen musste.
„Ich komme wieder, das verspreche ich! Du bist nicht mehr allein.“, gab ihm Thelin freundlich zu verstehen, als er Oltens wehmütigen Blick bemerkte. Dann aber durchzuckte ihn eine erschreckende Erkenntnis. „Doch wie finde ich dich wieder? Ich weiß nichts von Magie, aber…“
Er brachte den Satz nicht zu Ende, er wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte. Olten aber verstand ihn durchaus.
„Hier sein werde ich, warten werde ich!“
Thelin nickte und sammelte Bogen und Pfeile ein. Er winkte zum Abschied vom Rand der Lichtung.
„Ich komme wieder!“, beteuerte er noch einmal und sah, wie der kleine Mann zurück winkte.
„Danke!“, sagte Olten laut.
„Wofür?“, rief Thelin zurück und hielt in seinen Bemühungen inne, das dichte Unterholz zu durchdringen.
„Für einen Pfeil!“

5.
Ein stürmischer Herbst zog ins Land und immer häufiger verbarg er den Himmel hinter grauen, regenschweren Wolken. Die Zeit der Ernte war vorüber und die Vorbereitungen für den Winter wurden getroffen. Der Wechsel der Jahreszeiten legte Melancholie auf die Gemüter der Bewohner des Waisenhauses, ein wundervoller Sommer lag hinter und das triste Grau der späten Jahreszeiten vor ihnen. Thelin aber fühlte sich besser als jemals zuvor in seinem Leben und trauerte den sonnigen Tagen nicht hinterher. Sooft es ihm möglich war, stahl er sich davon, um seine Zeit in Gesellschaft seines neuen Freundes zu verbringen.
Olten war zusehends aufgetaut in den Wochen nach ihrem ersten Zusammentreffen, auch mit der Sprache kam er immer besser zurecht. Stets, wenn Thelin zur Lichtung eilte, wartete der kleine Mann bereits auf ihn, ein frohes Lachen auf seinem bärtigen Gesicht. Manchmal schien es, als hätte er sich seit ihrem letzten Treffen gar nicht vom Fleck bewegt. Thelin wusste nicht, was er davon halten sollte, aber er fragte auch nicht danach. Denn jedes Mal wenn dieses Thema zur Sprache kam, verfiel Olten in Stille und Traurigkeit.
So kam es, dass sie ganze Nachmittage mit langen Unterhaltungen oder weitläufigen Spaziergängen unter dem Dach der alten Bäume verbrachten. Thelin bestaunte die ausgedehnte Größe des Waldes, die er zuvor nicht einmal erahnt hatte und die vielfältigen Wunder dieses Ortes. Das besondere Licht des Herbstes malte wundervolle Bilder in das Halbdunkel, die er niemals vergessen würde.
Oft erzählte Olten aus dem Leben, das er geführt hatte, bevor er verbannt worden war. Zusammen mit seinem Herrn und Meister, dem Zauberer Eftulak, hatte er die Länder der Welt Nasu bereist, wobei er in viele Geheimnisse der Kunst eines Kundigen eingeweiht worden war. Olten selbst war kein Magier, es schlummerten keine verborgenen Talente in ihm. Doch er wusste von den Kräften der Magier zu berichten, war er doch schon vielen von ihnen begegnet.
Thelin hörte staunend zu. Zwar hatte er schon von magischen Kräften gehört, in den vielen tausend Geschichten, die von Drachen, Magiern und wilden Kriegern handelten. Wie jedes Kind hatte er sie geliebt und immer und immer wieder darum gebettelt, dass man ihm eine weitere erzählte. Aber dennoch waren es für ihn nur Geschichten gewesen. Eine Vorstellung der Wirklichkeit entstand erst in ihm, als er atemlos Oltens Worten lauschte, die ihm die Türen zu einer unbekannten, aber unendlich faszinierenden Welt aufstießen.
„Eftulak ein Wahrer des Baumes war!“, begann Olten und grinste über Thelins verständnisloses Gesicht. „Kein Wissen hast du über die Worte, ist es nicht so? Siehe, Zauberkraft in allem ist, verbunden die Kundigen sind damit!“
Es war nicht leicht für Thelin, den manchmal wirren Worten Oltens zu folgen, man konnte nicht immer gleich sagen, welches Wort eigentlich an welchem Platz im Satz hätte stehen müssen. Schließlich aber glaubte er, alles verstanden zu haben.
Die Zauberer stehen in tiefer Verbundenheit zu dem Land, welches ihnen ihre Macht schenkt. Doch gibt es verschiedene Zweige der Magie, ein jeder Magier ist einem anderen zugetan. Fünf Teile der Macht bestehen: Feuer, Wasser, Erde, Stein und Baum. Niemand weiß, wie es vor sich geht, dass ein Zauberer dem einen Teil angehört und ein anderer dem nächsten, nicht einmal die Erwählten selbst. Die Magie ruft sie und verleiht ihren Wirkenden große Macht und beinahe ewiges Leben. Doch bringt sie auch Verantwortung für das Leben in der Welt Nasu mit sich. Magie ist nicht nur Gabe, sondern auch Verpflichtung, der sich die Auserwählten nicht entziehen dürfen.
„Nicht dein Glaube soll es sein, nur Gutes es mit sich bringt ein Zauberer zu sein!“, sagte Olten ernst mit erhobenem Zeigefinger. „Leben im Dienste allen Lebens und bedenke, ewiglich währt es!“
Thelin wusste nichts von diesen Dingen, aber er erlag einer tiefen Faszination. Er wollte alles wissen über Zauberer und ihre Magie.
Olten fuhr fort und berichtete ihm nun von den fünf magischen Gilden, die das Leben in der Welt der Zauberer bestimmten.
Die Wahrer des Baumes stehen mit dem Element der Natur in innigster Verbundenheit und wachen über sie wie eine Mutter. Zuweilen sind sie verschrobene, einsiedlerische Personen, die in ihrer eigenen Welt leben, deren Kinder sie sind. Eftulak, Oltens alter Meister, war ein solcher Baumzauberer gewesen, der der Welt entrückt gewesen war und andere Lebewesen gemieden hatte. Allein für die Magie hatte er gelebt. Nicht alle von ihnen sind von solcher Natur. Viel öfter sieht man die Wahrer des Baumes als fröhliche und selbstbewusste Männer und Frauen, die ihre Kraft einsetzen, um Gutes zu bewirken.
Die Weber des Steines bergen den zweiten Teil in sich. Sie sind die Kämpfer im Namen der Magie, große Kraft liegt in ihren Fähigkeiten. Sie sind diejenigen, die im Falle eines Krieges in vorderster Front stehen, ihre Feinde unerbittlich bekämpfen und ihre Verbündeten beschützen. Aber in ihren Taten liegt auch tiefe Weisheit, denn niemals würden sie ihre Macht missbrauchen und sie unbedacht einsetzen.
Der dritte Teil der Macht offenbart sich in der Magie der Erde, der größte Teil der Zauberer entspringt ihrer Wahl. Zwar ist ihre Kraft wohl am geringsten einzuschätzen gegenüber den vier anderen, dennoch verfügen sie über große Möglichkeiten. Sie sind zumeist freundliche und hilfsbereite Wesen, die all ihre Kraft auf die Wahrung der Magie des Landes verwenden. Sie nennen sich daher selbst die Wächter der Erde.
Nur wenige sind auserwählt, die Magie des Wassers zu wirken. Sie sind Suchende, ihr Leben ist verschrieben der Logik und der Wissenschaft. Kühl und berechnend sind sie, Einzelgänger mehr als alle anderen und immer forschen sie nach dem Unbekannten. Sie kennen nur die Verpflichtung gegenüber ihrem Verstand. Als einzige der fünf Gilden vermögen es die Wassermagier, die Kraft anderer Zauberer zu spüren. Daher ist es an ihnen, all diejenigen aufzuspüren, auf die eine Wahl der Magie gefallen ist, damit sie eine angemessene Ausbildung erhalten. Sie sind die Wirkenden des Wassers.
Die Magie des Feuers schließlich bildet den fünften Teil der Macht. Lange Zeit war sie unbekannt, denn sie ist selten und die Wassermagier können ihre Kräfte nicht erspüren. Ein Wärter des Feuers birgt größte Fähigkeiten in sich, doch ihr Wesen ist zumeist wankelmütig und hitzig. Immer wieder ist es vorgekommen, dass einer von ihnen seine Magie für dunkle Zwecke missbrauchte. Gefährlich sind sie, denn ihr Leben widmen sie einzig und allein dem Streben nach Macht und dem Mehren ihrer Kraft.
Olten beendete die lange Rede mit einer Miene, die sich während der
letzten Sätze verdunkelt hatte. Es gab anscheinend Gründe, warum er die Feuermagier offensichtlich nicht mochte.
Thelin saß da wie gebannt. Die magischen Grundfesten der Welt Nasu waren ihm bislang fast gänzlich unbekannt gewesen, nicht mehr als ein Nebensatz in einer der vielen Geschichten, die man ihm als Kind erzählt hatte. Eines aber wusste er zu erzählen, das Olten unbekannt sein musste.
„Es war ein Feuermagier, der die Schuld trägt an dem Riss durch die Welt. Ich kenne die Geschichte und Frau Gelda hat immer wieder gesagt, dass sie wahr ist! Sein Name war Barandur und er trieb die Feuerzauberer in den Verrat. Dann kam die Schlacht der Zauberer, in der das Gute am Ende triumphierte.“
Olten zuckte zusammen, als er die Worte hörte.
„Ja, ich weiß, du weißt nichts von einem Riss! Aber es ist die Wahrheit, es gibt ihn wirklich. Frau Lean hat uns erklärt, er sei entstanden aus der Vergewaltigung der Magie durch die Feuermagier!“, Thelin konnte noch gut an all das erinnern, wenn es auch lange Jahre her war, dass sie in der Schule darüber gesprochen hatten und er zumeist nur mit einem halben Ohr zugehört hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben nutzte ihm die Bildung etwas, die ihm im Waisenhaus zuteil geworden war.
Olten wiegte mit schmerzhaftem Gesichtsausdruck den Kopf hin und her. „Oft dachte ich nach über deine Worte von dem Riss durch die Welt Nasu. Nicht glauben kann ich es, doch sehen kann ich, keine Lüge ist es. Siehe, Feuermagie dringt empor aus tiefsten Tiefen, Erklärung sein kann sie für den Riss. Dein Glauben ist nun, mein Wissen über Magie habe Vollständigkeit, nicht so ist es leider. Nicht weiß ich, wie geschehen es könnte sein. Lehrer aber wissen sicherlich. Ihren Worten schenke ich Glauben.“
Lange saßen sie schweigend da und hingen beide ihren eigenen Gedanken nach. Thelin war von dem, was er gehört hatte fasziniert und abgeschreckt zugleich. Die Welt außerhalb des Waisenhauses war so unendlich groß und voller Geheimnisse. Es drängte ihn immer mehr, sie endlich kennen zu lernen. Doch auch in Oltens Worten waren ihre Gefahren deutlich zutage getreten, Zauberer waren davon nur ein Teil. Dennoch konnte er nichts dagegen tun, dass die Flamme des Fernwehs höher und höher in ihm aufflackerte.
Eine Frage aber hatte er noch, wenn er auch wusste, dass sie Olten vielleicht schmerzen würde.
„Seit dem Riss sind fast tausend Jahre vergangen, das ist eine lange Zeit. Es tut mir Leid, das sagen zu müssen, aber diese Zeit hast du hier in der Einsamkeit verbracht. Was, wenn sich alles geändert hat inzwischen?“
Er hatte befürchtet, dass Olten nach dieser Frage die Schultern hängen ließ, wie immer, wenn seine Verbannung angesprochen wurde. Dieses Mal aber war es anders. Der kleine Mann lachte lauthals los und verschluckte sich dabei mehrere Male, so dass Thelin ihm auf den Rücken schlug und vorsichtig mit lachte. Er hoffte, das Olten nicht plötzlich den Verstand verloren hatte.
„Köstlich war die Frage, denn nicht Wissen hast du um größte Eigenheit der Zauberer. Stur sind sie, Arroganz zuweilen wird ihnen zugeschrieben. 1000 Jahre zu wenig sind an Zeit für Veränderung im Zirkel der Zauberer!“

6.
„Jahreszeiten!“, rief Thelin aus, als er an einem verregneten Hochtag im späten Herbst auf die Lichtung sprang. Mittlerweile hatte er sich einen breiten Trampelpfad durch das Dickicht gebahnt, so dass seine Kleidung nicht mehr jedes Mal zerrissen wurde.
Oltens Gesicht, gerade noch erfüllt von einem freudigen, erwartungsfrohen Lächeln, wurde zu einem großen Fragezeichen.
„Schau mich nicht so an! Jahreszeiten!“, betonte Thelin, als spräche er zu einem Kleinkind.
„Ja, Kenntnis habe ich von ihnen. Frühling, Sommer, Herbst und Winter.“, entgegnete Olten langsam Er verstand nicht, worauf sein Freund hinaus wollte.
„Toll, soviel zumindest weißt du!“, sagte Thelin lakonisch und schüttelte aufgeregt den Kopf, während er fortfuhr. „Also, es gibt Jahreszeiten, du hast sie richtig benannt. Hier im Wald gibt es sie auch. Um zu erfahren, wie lange du schon hier gefangen bist, so hättest du doch bloß die Winter zählen müssen!“
Triumphierend lachte er auf und ließ sich neben seinem Freund ins Gras fallen. Er war auf seine logische Meisterleistung sehr stolz, die ihn die letzten Tage beschäftigt hatte.
Oltens freudiges Lächeln war nun endgültig in Schieflage geraten. Schüchtern zeigte er auf Thelins Jacke, deren Schultern vom Regen benetzt waren.
„Regen fiel auf dem Wege hierher?“
„Ja, aber nur ein bisschen. Die paar Tropfen machen mir nichts aus.“
Olten zerrieb die Feuchtigkeit zwischen seinen Fingern und er sah aus, als hielt er eine große Kostbarkeit in Händen, die ihm allzu schnell verloren ging.
„Siehe, Sonnenschein regiert hier! Immer dies so ist. Regen fremd geworden ist.“, sagte er und sein kurzer, dicker Zeigefinger deutete zum klaren Himmel.
Thelins Mundwinkel bogen sich nach unten, die Seifenblase seiner Logik war zerplatzt. Tatsächlich konnte er sich an keinen einzigen trüben Tag auf der Lichtung erinnern. Das stimmte ihn missmutig und er brummte kindliche Flüche vor sich hin.
„Freund Thelin“, oft sprach Olten ihn auf diese Weise an, „gräme dich nicht. Erträglich ist es mir, mein Schicksal. Warum nicht auch dir?“
Thelin wand sich vor Verlegenheit. Tatsächlich war er voller Zweifel, denn er konnte nicht verstehen, was ein Zauberbann bedeutete. Es überstieg seinen Horizont, dass jemand für tausend Jahre an einem Ort gefangen gehalten wurde, ohne dass er alterte und er auch nur bemerkte, wie die Zeit an ihm vorüber flog. Sein Verstand suchte verzweifelt nach etwas, das er greifen, das er verstehen konnte. Aber da war nur das große unförmige Wesen der Magie, welches ihm den Blick versperrte. So gern er auch Oltens Erzählungen über Zauberei lauschte, er war noch lange nicht so weit, dass er sie vollends verstand.
„Weißt du, es ist so schwer für mich, das alles zu verstehen. Wenn du gesagt hättest, du wärst hier gefangen seit zehn oder zwanzig Jahren, dann wäre es vielleicht etwas anderes. Aber gleich 1000 Jahre!“
„Nicht meine Worte waren dies!“, entgegnete Olten nicht unfreundlich.
„Ja, ich weiß, aber das läuft auf das Gleiche hinaus. Die ganze Sache mit Zauberern und Magie und Zauberbannen ist so fremd für mich.
In meiner Welt spielen sie keine Rolle!“
„Segensreich für mich, keine Rolle spielten sie in dem meinen.“
Thelin musste lachen. „Ja, das glaube ich dir gern! Und deshalb musst du hier raus! Die Welt wartet draußen nur auf dich, Zauber hin oder her, du musst es wenigstens versuchen!“
Noch während er sprach, sah Thelin, dass er besser geschwiegen hätte. Oltens Blick wurde weich und ein trauriger Ausdruck legte sich über sein Gesicht, genau so, wie schon viele Male zuvor. Aber Thelin konnte nicht länger dazu schweigen. Es schmerzte ihn, dass sein Freund sich aufgegeben hatte und ohne Hoffnung, aber voller Angst war. Furchtsam richteten sich seine Augen auf die Stelle, wo er den Rand des Waldes vermutete.
„Kann… nicht…“, stammelte er immer wieder, bis ihn Thelin schließlich beruhigte.
Es blieb ein kurzer Besuch, denn er konnte die Wut nicht verhehlen, die in ihm schwelte, weil er so hilflos war und seinem Freund nicht helfen konnte. Sie würde ihn innerlich verzehren, wenn er weiterhin in Oltens traurige Augen schauen musste. Aber doch ließ Thelin die Hoffnung nicht fahren, eines Tages würde er einen Weg finden. Es musste einfach einen geben.

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Tag der Veröffentlichung: 14.09.2009

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