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3. Pläne


1.
Einige Tage später saßen Thelin und Fendo am Frühstückstisch und verzehrten jeder eine große Schüssel Haferschleim. Beide mochten sie diese Speise nicht, doch wie sooft gab es nichts anderes und Thelin hatte keine Lust, hungrig an die Arbeit zu gehen. Also ließ er nichts übrig.
Fendo leerte seine Schüssel nicht ganz, lustlos pendelte sein Löffel über dem Haferschleim. Er gähnte und sah seinen Freund an, der gerade die letzten Reste seines Frühstücks herunterschluckte.
„Und? Weißt du schon, was du heute machen musst?“, fragte er und benutzte seine Finger als Zahnstocher.
„Tu das nicht, ich habe gerade erst gegessen!“, entgegnete ihm Thelin angewidert.
„Was?“
„Na, das da.“ Thelin deutete mit seinem Löffel auf Fendos Hand, die jetzt fast vollständig in seinem Mund verschwunden war.
„Ach das!“, murmelte der Junge undeutlich und wischte sich seine Hand an der Hose ab. „Kommt nicht wieder vor, versprochen! Wusste ja nicht, dass du so empfindlich bist.“
„Ich bin nicht empfindlich. Es reicht, wenn ich das Zeug einmal selbst in mich hineinstopfen muss. Da muss ich mir nicht noch die Reste von deinem Frühstück in deinem Mund anschauen. Sieht einfach furchtbar aus!“
„Gut, gut! Also, was ist nun?“
„Ich habe keine Ahnung, was ich heute tun soll. Gestern habe ich Frau Lesdorin geholfen. Hat mich ganz schön eingespannt, aber heute dürfte nichts mehr an Arbeit für mich übrig sein. Obwohl, wenn es darum geht, etwas in dieser Art für mich zu finden, fällt den ehrenwerten Damen immer was ein! Mal sehen, es ist jeden Tag von neuem eine kleine Überraschung!“
„Wirst dich bestimmt nicht langweilen, glaube ich!“, Fendo lachte verschmitzt und erhob sich. „Komm, lass uns gehen, wie du weißt, wartet Frau Lean nicht gerne!“
Auch Thelin stand nun von seinem Platz auf und nahm sein Geschirr, um es in der Küche abzugeben.
Im Speisesaal herrschte vorübergehend hektische Unruhe, als alle Kinder ihre Plätze verließen, ihre Schüsseln und Löffel abgaben und sich auf den Weg in den Schulsaal machten. Zurzeit waren nur etwa 30 Jungen und Mädchen im Waisenhaus. Die Zahl der Kinder schwankte ständig. Thelin erinnerte sich noch an eine Zeit, als beinahe Hunderte von seinesgleichen nach dem Essen durch diesen großen Raum gehuscht waren, regelrechte Tumulte hatte es da gegeben und haufenweise zerbrochenes Geschirr. Mittlerweile ging es ruhiger zu.
Gerade hatten Thelin und Fendo ihre Schüsseln einer Magd in die Hände gedrückt, als ihre beiden Namen gerufen wurden. Neugierig sahen sie sich um und erblickten Frau Gelda, die sich durch die Menge auf sie zu bewegte.
„Unsere beiden großen Jungs!“, rief sie geschäftig und winkte ihnen zu. „Da seid ihr ja. Ich habe Arbeit für euch!“
Ein wenig keuchend blieb sie vor den beiden stehen, die sie aufmerksam ansahen. Fendo strahlte sie geradezu an, die Vorfreude auf ausfallenden Unterricht stand deutlich in seinem Gesicht geschrieben. Für ihn war alles besser als Schule bei Frau Lean.
Thelin freute sich noch nicht, denn die Arbeit, die er mit jemand anderem zusammen tun musste, war zumeist auch besonders schwer, so dass die Unterstützung kaum ins Gewicht fiel.
„Ja, Frau Gelda, was gibt es denn?“, fragte er dennoch pflichtbewusst.
„Hört zu, Jungs!“, begann die Leiterin des Waisenhauses. „Drüben am Ende des Weizenfeldes befindet sich ein alter Steg über den Bach. Er ist dringend nötig, da man sonst einen weiten Umweg machen muss, um das tiefe Bachbett zu überqueren. Gestern war ich dort und musste zu meiner Bestürzung feststellen, wie morsch der Steg geworden ist. Man kann ihn nur unter Lebensgefahr betreten!“
Sie machte eine Pause und sah die beiden Jungen lächelnd an.
„Ja, …“, machten Thelin und Fendo erwartungsvoll.
„Na, traut ihr euch vielleicht zu, den Steg zu reparieren? Ist keine leichte Arbeit und wir ehrenwerten Damen sind einfach zu alt für so was. Aber für euch müsste das doch genau das richtige sein, oder nicht?“
Thelin fragte sich, wie die Frauen im Waisenhaus zurechtgekommen waren, bevor er ihnen all die Arbeiten abgenommen hatte. Sie mussten vollkommen hilflos gewesen sein. Dann aber überlegte er sich, dass es eine herausfordernde Aufgabe war, die ihm zusammen mit Fendo sicherlich viel Spaß machen würde.
Nachdem sein Freund schon mindestens zehn Mal „Ja, sicher!“ gerufen hatte, nickte Thelin grinsend und meinte:
„Klar schaffen wir das!“

2.
Wenig später standen sie Stirn runzelnd vor dem baufälligen Steg. Frau Gelda hatte nicht übertrieben, er machte einen höchst zerbrechlichen Eindruck. Das Holz war morsch und mit feuchtem Moos überwuchert. Auf einer Seite war das Geländer verschwunden und auf der anderen in der Mitte durchgebrochen. Es bestand tatsächlich Lebensgefahr, wenn man den Steg überqueren wollte. Das Bachbett war sehr tief, beide Ufer erhoben sich über mannshoch. Der Bach selbst besaß an dieser Stelle eine starke Strömung und Thelin glaubte, dass er fast bis an die Hüften darin versinken würde.
„Beim Donnerschlag, da wollte ich nicht herunterfallen!“, rief Fendo aus.
„Nein, bestimmt nicht! Da kannst du dir alle Knochen brechen!“, stimmte Thelin ihm zu.
„Und? Wie fangen wir jetzt an?“
„Hm, mal sehen, was wir damit anfangen können!“, sagte Thelin und deutete mit dem Daumen auf den Karren, den sie den weiten Weg vom Waisenhaus hierher gezogen hatten. Es befanden sich viele Latten, Bretter, Kanthölzer und das notwendige Werkzeug darauf.
„Ich würde sagen, wir brauchen alles davon! Wir müssen das Ding fast ganz neu bauen!“, Fendo blickte kopfschüttelnd zu dem windschiefen Steg, dann aber erhellte sich plötzlich seine Miene. „He, sag mal, das wird doch gewiss ein bisschen länger dauern, nicht wahr?“
„Hm…“, machte Thelin wieder und legte den Daumen ans Kinn. „Nun, ich glaube, dieses Werk wird uns eine Weile beschäftigen. Es ist, wie du gesagt hast: Wir müssen fast von vorne anfangen! Allerdings stelle ich gerade mit Schrecken fest, dass ich so etwas noch nie gemacht habe. Ein paar Mal habe ich vielleicht den Hammer schon geschwungen, Ausbesserungsarbeiten am Haus oder an der Mühle, mehr war es ja bisher nicht.“
Doch Fendo hörte die letzten Worte schon nicht mehr. Er hüpfte jauchzend über die Wiese und schlug in seinem Übermut sogar ein Rad.
„Was hast du denn?“, fragte Thelin belustigt.
„Frau Lean wollte mich prüfen diese Woche. Aber das fällt jetzt wohl aus, Frau Gelda und diesem Steg sei Dank. Beim Sonnenschein, das ist einfach toll!“, Fendo drehte sich noch einmal um sich selbst, dann war sein Freudentanz beendet und er ließ sich fröhlich ins Gras fallen.
„Wenn du meinst!“, meinte Thelin lachend und zog seinen Freund wieder auf die Beine, der Karren musste abgeladen werden.
Gegen Mittag hatten sie den Großteil des morschen Holzes abgerissen und auf einen wachsenden Haufen zusammengeworfen. Obwohl das Material alt und faul war, mussten sie sich doch zuweilen sehr anstrengen, um die Bretter und Latten zu entfernen.
Sie setzten sich auf den Karren und packten ihre Bündel aus, die Frau Lesdorin ihnen am Morgen mitgegeben hatte. Es befanden sich Brot und Käse darin und als leckere Dreingabe himmlisch duftender Apfelkuchen. Hungrig machten sie sich über ihre deftige Mahlzeit her.
Es war ein wundervoller Tag, die Sonne schien gnädig vom blauen Himmel herab, in dem träge, schneeweiße Wolken hingen. Ein laues Lüftchen wehte von Osten her und brachte angenehme Kühle nach der schweißtreibenden Tätigkeit. Thelin und Fendo legten sich satt ins Gras und genossen das schöne Frühlingswetter.
„Thelin?“, fragte Fendo nach einer Weile.
„Was ist?“, entgegnete Thelin, der beinahe eingedöst wäre.
„Warum bist du eigentlich noch hier?“
„Das weißt du doch! Die Leute haben genug Kinder und anscheinend
brauchen sie mich da nicht noch obendrein.“ Von seinem Verdacht gegenüber Frau Gelda erzählte er nichts. Er glaubte, dass es sich lächerlich anhörte, wenn er aussprechen würde, dass man ihn im Waisenhaus gefangen hielt.
„Nein, das meine ich nicht. Ich meine, warum bist du trotzdem noch hier?“
Thelin schwieg verdutzt. Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Oftmals hatte er auf dem Hügel gesessen und seine Gedanken in die weite Welt schweifen lassen. Abenteuer hatte er sich ausgemalt und die Schönheit fremder Länder. Stets war Thelin von einem wohligen Fernweh ergriffen worden und eines Tages wollte er in die Welt hinaus ziehen und das sehen, was er sich bislang nur in seinen Tagträumen ausgemalt hatte. Aber dieser Tag hatte für ihn immer in weiter Ferne gelegen.
„Ich weiß es nicht.“, antwortete er ehrlich. „Ich glaube, weil hier mein zuhause ist. Wo soll ich denn sonst hin?“
„Das heißt also, du traust dich nur nicht!“
Thelin wusste darauf nichts zu entgegnen. Irgendwie hatte sein Freund ja Recht, aber so einfach war es nicht.
„Ich werde jedenfalls nicht so lange warten.“, sprach Fendo weiter. „Wenn nicht bald einer kommt und mich mitnimmt, dann hau ich einfach ab.“
Thelin setzte sich überrascht auf und betrachtete den Freund, der versonnen zum Himmel empor blickte.
„Meinst du das ernst? Einfach so abhauen?“
„Ja klar. Was habe ich schon zu verlieren? Hier hält mich doch nichts. Ich bleibe auf keinen Fall für den Rest meines Lebens unter der Fuchtel von Frau Lean!“
„Schreckliche Vorstellung, stimmt schon.“, sagte Thelin leise und legte sich wieder auf den Rücken.
Fendo lachte. „Und was ist mit dir?“
„Es ist irgendwie nicht richtig, weißt du. Einfach so abhauen. Aber du hast natürlich Recht. Was hält uns schon hier? Wir sind Waisen, wir haben niemanden.“
„Siehst du.“, Fendo setzte sich im Schneidersitz vor Thelin hin. „Lass uns zusammen von hier fortgehen!“
Thelin blickte erschrocken hoch. „Jetzt?“
„Nein, nein. Dafür braucht es doch Vorbereitungen! Wir brauchen einige wichtige Dinge und wir wollen ja auch keinen Verdacht erregen. Die ehrenwerten Frauen lassen uns nicht gehen, jede Wette. Aber wenn wir alles richtig anstellen, dann können wir in einer Woche schon unterwegs sein.“
„Du denkst schon länger darüber nach, nicht wahr?“
„Hm, ein bisschen schon. Ach, Thelin“, Fendo sprang ausgelassen auf die Beine, „stell dir dass nur mal vor! Wir beide ziehen los und die ganze Welt steht uns offen!“
Seine Augen strahlten bei der Vorstellung, Sehnsucht stand darin. Thelin stellte mit gelindem Entsetzen fest, dass es seinem Freund ernst war. Doch dann sprang auch er auf, angesteckt von der Begeisterung. Ein kribbelndes Gefühl der Vorfreude breitete sich in ihm aus. Vor seinem inneren Auge erlebte er bereits die tollsten Abenteuer, bereiste fremde Länder und sah sich selbst unter einem malerischen Sternenzelt an einem prasselnden Lagerfeuer sitzen. In seiner Vorstellung saß er auf einem prächtigen Streitross und ritt im Licht der vergehenden Abendsonne dem Horizont entgegen. Er lernte die Wesen aus den alten Geschichten kennen kennen und führte wichtige Gespräche mit Zauberern. Zauberer, er würde Zauberer kennen lernen und nicht immer nur in Erzählungen von ihnen hören.
Warum hatte er immer nur davon geträumt? Es musste es doch nur tun, es war so einfach. Fendo hatte Recht, die Welt stand ihnen offen.
„Es ist verrückt, aber warum sollten wir das nicht tun?“, rief Thelin aus und umarmte seinen Freund überschwänglich.
„Das wird toll, du wirst sehen!“, Fendos Entzücken ließ seine Stimme zurück in das Krächzen des Stimmbruchs falle, den er erst vor einigen Monaten hinter sich gelassen hatte. Seine Augen leuchteten wie glitzernde Sterne, als er sich ihre aufregende gemeinsame Zukunft ausmalte.
Sie blieben noch eine Weile im Gras liegen und schwelgten in kindischen Träumereien. Die Aufregung ließ sie die Arbeit vergessen, bis sie von näher kommenden Schritten hoch geschreckt wurden
Frau Lean kam mit hochgezogenen Brauen herangerauscht.
„Habt ihr nichts zu arbeiten?“, fragte sie spitz.
„Doch, doch, ehrenwerte Frau Lean!“, riefen Thelin und Fendo wie aus einem Mund, erhoben sich schnell und klopften sich das Gras von ihren Hosen, weil sie ihrem strengen Blick ausweichen wollten.
Mit Tadel in den kleinen Augen ging die hagere Frau an ihnen vorbei und begutachtete die bisherige Arbeit.
„Ich dachte mir, ich schaue mal nach, was die beiden Jungen so treiben. Sie hatten ja immerhin den ganzen Vormittag Zeit.“ Frau Lean sprach von Fendo und Thelin als wären sie gar nicht da und schüttelte unentwegt den Kopf. „Das ist alles, was sie fertig gebracht haben? Nicht sehr viel, denke ich.“
„Aber das ganze morsche Holz ist doch schon abgerissen und wir…“, begann Thelin verteidigend, aber Frau Lean schnitt ihm barsch das Wort ab. Jetzt sprach sie ihn wieder direkt an.
„Ich kenne euch! Ihr seid von Natur aus ein faules Pack, jeder einzelne von euch. Ich will gar nicht wissen, wie lang eure Pause schon gedauert hat. Pah!“ Sie spuckte beim Reden, so sehr hatte sie sich in kürzester Zeit in Rage geredet. „Faulenzen kann ich nicht durchgehen lassen und damit ihr es ein für alle Mal lernt, bekommt ihr eine Strafarbeit. Ihr wisst, was das bedeutet. Es gibt noch einen Stall auszumisten. Beim letzten Mal ist Thelin ja nicht ganz fertig geworden!“
Sprachlos sahen die beiden Jungen Frau Lean an, die sie boshaft anstarrte. So schlecht war ihre Arbeit nicht, dass sie eine Strafe für Faulenzen verdient hatten. In diesem Moment wusste Thelin, dass es ihr Spaß machte, gemein zu ihnen zu sein. So als verschaffte ihr das eine gewisse Befriedigung. Er konnte sich nicht erklären, warum sie so war. Niemals war sie Opfer einer seiner Streiche geworden. Dafür fürchtete er sie viel zu sehr. Und doch war sie auf ihn immer besonders erpicht, sie wartete scheinbar nur darauf, ihm eins auszuwischen.
„Gleich morgen früh geht es los!“, zischte Frau Lean noch, dann ließ sie die beiden Jungen stehen und stolzierte davon.
Fendo sah ihr wütend nach. „Die machen wir nicht, die Strafarbeit. Ihren verflixten Stall kann sie selbst ausmisten. Ich mache es jedenfalls nicht!“
„Doch, das müssen wir. Sonst gibt es nur noch mehr Ärger und noch mehr Strafarbeit. Und dann wird es schwer mit dem Abhauen!“
„Wir werden es also wirklich tun?“, Fendos Augen bekamen wieder
dieses erregte Glänzen.
„Ich werde froh sein, dass ich mit dieser Kuh nichts mehr zu tun haben muss. Das war ihre letzte Strafarbeit!“

3.
Der aufdringliche Geruch nach Kuhmist und Schweinedung ließ Thelin unentwegt würgen. Zwar hatte er sich ein Tuch vor Mund und Nase gebunden, aber der Schutz war bei weitem nicht ausreichend. Schweiß rann ihm in breiten Bächen an Rücken und Bauch herab, die Arbeit strengte ihn sehr an. Dampfend häufte sich der Mist auf dem schmalen verdreckten Karren, den er Mistgabel für Mistgabel befüllte.
Thelin ärgerte sich maßlos über die ungerechte Strafarbeit. Fendo und er hatten nichts verbrochen und waren doch von Frau Lean bestraft worden. Aber es gab nichts, was er dagegen tun konnte. Nur die Aussicht auf ihren gemeinsamen Fluchtplan ließ ihn Gestank und Anstrengung ertragen.
Fendo erging es ebenso. Er fluchte immerzu und beschwor allerlei Ungemach auf Frau Lean herab.
„Ich hoffe, dass sie eines Tages in diesem Mist begraben wird!“, zischte er hinter seinem Tuch, während der Schweiß sein Gesicht zum Glänzen brachte. „Das ist das letzte Mal, das schwöre ich dir, Thelin! Meine Nase will das alles nicht mehr ertragen, außerdem tut mir der Rücken weh und meine Hände sind voller Blasen. Ich hasse es!“
Thelin antwortete nicht, er arbeitete verbissen weiter. Fendo brauchte das Fluchen, damit er die Kraft fand, weiter zu machen. Würde er nicht andauernd schimpfen, dann konnte er kaum zwei Mal seine Mistgabel heben.
Bei Thelin war das anders. Er arbeitete zumeist stumm und unverdrossen bis alles getan war. Erst dann konnte es vorkommen, dass er seinem Ärger Luft machte. Thelin fraß ihn nicht in sich hinein, so wie es manchmal den Eindruck machte. Er wollte nur niemandem die Genugtuung geben, ihn in seiner Verzweiflung zu beobachten.
„Oh nein, beim Beben! Das reicht jetzt!“, rief Fendo aus und riss sich das Tuch vom Gesicht. Eine Mistgabel polterte zu Boden und erntete noch einen kräftigen Fußtritt. Die Kühe muhten protestierend über den Lärm und einige Ferkel quiekten erschrocken.
Thelin bog seinen schmerzenden Rücken durch und sah hinter seinem Freund her, der mit fuchtelnden Armen den Stall verließ. Für einige Augenblicke wog er die Mistgabel in den Fäusten, dann ließ auch er sie fallen. Fendo hatte Recht, es war genug. Gleichgültig, was Frau Lean darüber dachte.
Die frische Luft vor dem Stall strömte wohltuend in Thelins Lungen und die Frühlingssonne weckte seine Lebensgeister, die in dem dunklen Gebäude tief entschlummert waren. Trotz der verdrießlichen Schmerzen in seinem Körper ging es ihm jetzt etwas besser.
Er sah Fendo am Mühlbach knien und sich waschen. Wassertropfen flogen durch die Luft und perlten vom sich endlos drehenden Mühlrad ab. Thelin gesellte sich hinzu und steckte seinen glühenden Kopf in den träge dahin fließenden Bach. Kühl und still war der Moment, aber die Erholung währte nur kurz, denn Fendo bespritzte ihn mit Wasser. Mochte er auch von der anstrengenden Arbeit erschöpft sein, Zeit für kleine Späße fand er immer.
„Hör auf damit!“, rief er prustend, aber Fendo dachte gar nicht daran. Also setzte Thelin sich zur Wehr und tauchte seine Hände übermütig ins Wasser, bis sie beide ganz durchnässt waren. Die Wasserschlacht dauerte nicht lange, aber es ließ sie ihre Strafarbeit, die Blasen an den Händen und den schmerzenden Rücken vergessen. Atemlos fielen sie nach hinten in das kurze Gras am Ufer des Mühlbachs.
Das kühle Nass hatte ihren verschwitzten Körpern gut getan. Thelin fühlte sich erfrischt und gar nicht mehr so niedergeschlagen wie noch gerade eben. Da hatte er geglaubt, dass er, nachdem er den Stall ausgemistet hatte, nur noch wie tot ins Bett fallen würde. Jetzt, wo die Arbeit für ihn erledigt war, musste der Tag noch nicht vorüber sein. Es war ja noch nicht einmal später Nachmittag.
„Diese Pause haben wir uns verdient!“, sagte er, während er darauf wartete, dass der warme Frühlingstag seine Kleidung trocknete.
„Das ist wohl wahr!“, stimmte Fendo zu, dessen Füße noch immer im Wasser baumelten.
„Wir sollten öfters Pause machen, finde ich. Ist viel schöner als Arbeiten!“
„Und länger sollten die Pausen sein. Wenn wir überhaupt mal welche machen, gehen sie viel zu schnell vorüber!“
„Und wir sollten sie nicht hier machen, hier erinnert doch alles an die unliebsame Arbeit. Sieh nur, da vorne liegt so eine verflixte Mistgabel. Wie soll man sich da nur erholen?“
„Stimmt, das geht gar nicht! Also?“
„Also was?“
„Machen wir uns davon!“
Thelin senkte verschwörerisch die Stimme. „Wie? Jetzt schon?“
„Nein, nein! Dafür ist es noch ein paar Tage zu früh! Ich meine, wir sollten unsere Pause ein wenig ausdehnen. Zeitlich und räumlich, meine ich.“
„Aber wir wollten doch keine Aufmerksamkeit erregen! Wenn wir jetzt ohne zu fragen abhauen, gibt es nur Ärger!“
„Ach, die merken, doch gar nichts davon! Und wenn schon, schlimmer als da drin kann es nicht werden!“
Verstohlen sahen sie am Stall vorbei zum Waisenhaus, doch keine der ehrenwerten Frauen sah ihrem Treiben zu. Sie nutzten die Gelegenheit und spurteten zwischen Mühle und Stall hindurch hinaus aufs Feld, sprangen über den Mühlbach und waren schnell außerhalb der Sichtweite des Waisenhauses.
Ohne festes Ziel rannten sie beschwingt lachend über die saftigen Wiesen der Umgegend. Bei jedem Schritt spürten sie das Gras weich unter ihren bloßen Füßen, die Sonne kitzelte ihren Nacken und der Wind zerzauste ihr Haar. Sie genossen ihr jugendliches Recht auf Übermut und ließen den Rest des Tages verstreichen. Sie achteten nicht auf die Zeit und die Wolken am Horizont waren weit weg, zu wundervoll waren die Augenblicke.
Thelin fragte sich kurz, ob er nicht zu alt war, um wie ein unreifer Knabe über die Felder zu laufen und sich ganz solch albernem Zeitvertreib hinzugeben. Aber diese Gedanken hielten sich nicht lange in seinem Kopf. Noch war die Welt der Erwachsenen, die erfüllt war von lastender Verantwortung und schwerer körperlicher Arbeit, für ihn in weiter Ferne. Er konnte nicht wissen, wie schnell sie ihn vereinnahmen würde. Die Tage seiner Jugend waren beinahe gezählt. Und als ob ein unbewusster Teil von ihm es ahnte, tollte er durch hohes Gras, rannte und lachte bis er nicht mehr konnte und keuchend inne halten musste.
Atemlos grinsend fanden sich die beiden Jungen am Rande eines Waldes wieder. Von ihnen unbemerkt hatte sich die flimmernde Kugel der Sonne hinter dichten Wolken versteckt, die dichter und dichter zusammenrückten und rasend schnell die Dämmerung brachten.
„Ups“, machte Fendo plötzlich und schaute mit einer Grimasse zum Himmel, „Ich habe einen Regentropfen abbekommen! Es wird doch wohl nicht…“
Er sprach nicht zu Ende, denn die Wolken ließen ihre schwere Last frei und ehe sie es sich versahen, prasselte heftiger Regen auf die beiden Jungen herab. Schnell flüchteten sie unter das schützende Dach des nahen Waldes. Dicht aneinander reihten sich die Tannen, so dass kaum ein Tropfen Regen den Waldboden benetzte.
„Das sieht nach einem Unwetter aus!“, sagte Thelin unbehaglich und deutete mit einem Kopfnicken zu Himmel, der sich rasch verdunkelte. Schon grollte der erste Donner über die Felder und der Horizont wurde kurz darauf von einem grellen Blitz erhellt.
„Oh, oh!“, rief Fendo bestürzt aus. „Wir sollten schnellstens sehen, dass wir heim kommen! Das könnte ungemütlich werden!“
„Dann lass uns laufen. Aber es ist wohl besser, wenn wir im Schutz der Bäume bleiben, sonst werden wir ja ganz durchnässt!“
Ein starker, kalter Wind kam auf und trieb den Regen unter die ausladenden Äste der Tannen. Thelin und Fendo wichen zurück, tiefer in den Wald, wo schon das Dunkel der Nacht vorherrschte.
Sie kamen trotz der eng stehenden Bäume und dem dunklen Zwielicht schnell voran, doch das Unwetter holte sie ein. Der Donner krachte nun genau über ihnen und ließ Thelin zusammen zucken. Er bekam es mit der Angst zu tun und lief schneller. Er wollte nur noch heim in den schützenden Schoß des Waisenhauses. Sein Mund stieß stumme Flüche hervor, verfluchte die eigene Dummheit, den Übermut und den unverständlichen Mangel an Vernunft. Ein Blick zum Himmel hätte ihnen von dem nahenden Gewitter künden können, aber sie hatten nicht darauf geachtet und waren stattdessen wie Kinder über die Wiesen getollt. Es hatte sich wundervoll angefühlt, aber jetzt zahlten sie einen hohen Preis für ihren unschuldigen Hunger nach Freudentaumel.
Fendo blieb unvermittelt stehen. „Ist es nicht gefährlich, mitten in einem Gewitter durch einen Wald zu laufen? Was, wenn der Blitz in einen der Bäume einschlägt?“
„Unsinn!“, rief Thelin ihm zu, nicht zuletzt, um sich selbst zu beruhigen. „Keine Angst, uns passiert schon nichts!“
Die Worte waren ihm kaum über die Lippen gekommen, da spaltete der Blitz einen Baum, der kaum zwanzig Schritte von ihnen entfernt stand. Der Stamm explodierte förmlich, Funken und Holzsplitter stoben davon. Ein heißer Luftzug wehte Thelin ins Gesicht und trieb Tränen in seine Augen. Wenn Fendo nicht stehen geblieben wäre, wären sie in gefährlicher Nähe an der getroffenen Tanne vorbei gelaufen. Er erschauderte. Sie hatten großes Glück gehabt, er wollte sich nicht ausmalen, was die Kraft des Blitzes ihnen hätte antun können.
Die Tanne war bis zur Wurzel gespalten und stand in hellen Flammen, die bereits nach den umstehenden Bäumen leckten. Trotz des starken Regens zweifelte Thelin nicht daran, dass bald der ganze
Wald brennen würde.
„Wir müssen weiter, aber vielleicht sollten wir lieber ins Freie gehen. Nicht, dass uns doch noch ein Blitz erwischt!“, rief er über das Heulen des Windes und das Prasseln des Feuers hinweg. Fendo nickte stumm und sie wandten ihre Schritte dem Waldrand zu, immer in sicherer Entfernung zu dem sich schnell ausbreitenden Brand.
Das Unwetter hatte sich nunmehr zu einem heftigen Sturm ausgeweitet. Der Wind hatte Orkanstärke erreicht und peitschte den Regen in dicken Fäden waagerecht in Thelins Gesicht. Die kalte Nässe schmerzte auf der Haut und er hob schützend eine Hand vor die Augen.
„Hinaus aufs Feld können wir nicht, der Wind ist zu stark!“, Thelin musste jetzt schreien, damit Fendo ihn verstehen konnte. Der Sturm zerrte an ihnen und drückte sie zurück unter die Bäume, wo tausende Regentropfen zischend in dem Feuer verdampften.
„Immer weiter, am Waldrand entlang!“, rief Fendo und rannte schon los. Thelin folgte ihm so schnell er konnte.
Sie kämpften sich durch den Sturm, nur wenig geschützt von den überhängenden Ästen am Rande des Waldes, die wild im strömenden Regen tanzten und wie Peitschen nach ihnen ausschlugen. Bald waren sie durchnässt und froren im schneidenden Wind.
Thelin hatte nur eine undeutliche Vorstellung von der Richtung, in der das Waisenhaus liegen musste. Er kannte die Gegend so gut wie kaum ein anderer. Zeit seines Lebens hatte er sie erkundet und jedes Fleckchen Erde ausgekundschaftet. Aber der Sturm verwirrte seine Sinne und er verlor die Orientierung. Sie rannten blindlings vorwärts durch die ab und an von grellen Blitzen erleuchtete Sturmnacht. Das Feuer war schnell hinter ihnen geblieben; wie rasend es auch um sich griff, die Beine der Jungen waren flinker.
Der Orkan ließ die mächtigen Tannen wie dünne Sträucher schwanken, die Stämme knackten unheilvoll, so als wollten sie in jedem Augenblick einknicken. Aber sie hatten schon so vielen Unwettern getrotzt, schlimmeren als diesem.
Wieder schlug der Blitz in den Wald und die Wucht der Explosion riss Thelin und Fendo von den Beinen. Nur wenige Schritte von ihnen entfernt wurde die Erde am Fuße einer besonders großen Tanne aufgerissen und spritzte nach allen Seiten davon. Der Baum schwankte heftig, seine Wurzeln waren zerfetzt worden.
Thelin landete im durchweichten Gras und der Regen, den eben noch die tief hängenden Äste zu einem großen Teil abgefangen hatten, prasselte hart auf ihn nieder. Der Sturm heulte und zerrte mit unbändiger Kraft an ihm. Eine unerbittliche Kälte schlich sich in seine Glieder.
Er sah sich nach Fendo um, der sich angestrengt aufrichtete und mit ganzer Kraft gegen den Sturm stemmte. Er schrie etwas, doch Thelin konnte ihn nicht verstehen. Ein markerschütterndes Geräusch ließ ihn herumfahren, es klang in seinen Ohren wie das heisere Schreien eines verletzten Tieres, bedrohlich übertönte es den reißenden Lärm des Sturms.
Die Tanne, die Wurzeln vom Blitz zerstört, wankte kreischend hin und her. Thelins Nackenhaare richteten sich auf. Wie gebannt blieb er stehen und sah zu, wie sich der Stamm des Baumes wieder vor und zurück neigte und dabei bedrohlich knackte und stöhnte. Dann hatten die Wurzeln nicht mehr die Kraft, den großen Baum zu halten und er fiel.
Thelin schrie auf, doch die Lähmung wich nicht von ihm. Er stand nur da, sah die Tanne stürzen und blieb wie angewurzelt stehen. Die Angst goss seine Beine in Blei.
Der Baum würde ihn und Fendo unter sich begraben, sie hatten keine Möglichkeit mehr auszuweichen. Thelin schrie noch immer, aber der Sturm trug die Laute ungehört davon. Ein dunkelgrüner Riese stürzte durch den grauen Vorhang des dichten Regens auf ihn zu und wollte ihn zermalmen. Todesangst ließ sein Herz rasen und weitete seine Augen, doch er sprang nicht zur Seite oder duckte sich gegen den Aufprall. In seinem Ohr dröhnte sein eigener heiserer Schrei, dann war nur noch Stille in seinem Kopf. Sie ergriff von ihm Besitz und auf seltsame Weise beruhigte ihn dies, die Furcht verschwand. An ihre Stelle trat die Gewissheit, dass er heute nicht sterben würde. Es konnte ihm nichts geschehen.
Thelin schloss die Augen und atmete tief ein, die Stille in ihm löschte alle anderen Empfindungen außer seiner grenzenlosen Zuversicht aus.
Der Sturm wütete weiter, ließ Thelins Körper schwanken wie ein Schilfrohr im Wind. Die nassen Haare klebten in seinem Gesicht und hinterließen ein wirres Muster, das ein ruhiges Lächeln überdeckte. Es verlieh ihm das Aussehen eines Mannes, der in tiefer Meditation versunken ist und sich an einem sicheren Ort weiß, fern eines tosenden Orkans, der Bäume einknickte wie Zunderholz.
Thelin hörte den Baum fallen. Seine Äste brachen krachend und bohrten sich tief in den schlammigen Untergrund. Ein kalter Hauch streifte Thelins Wangen. Er öffnete die Augen. Durch den Regen sah er zu der Tanne, die nur wenige Schritte von ihm entfernt lag und deren dunkles Grün sich noch immer in der Wucht des Aufpralls wiegte. Ihn wunderte es nicht, dass sie ihn nicht unter sich begraben hatte, wie es hätte geschehen müssen. Sie war geradewegs auf ihn herab gestürzt, kurz davor, ihn zu zermalmen. Es hätte keine Rettung vor der Macht der Natur geben dürfen.
Und doch war ihm nichts geschehen, man hatte ihn verschont. Thelin nahm es hin, noch immer herrschte Stille in seinem Kopf, beruhigend und berauschend zugleich. Selbst der Sturmwind hatte seinen Schrecken verloren, Thelin nahm kaum mehr die durchdringende Nässe auf seiner Haut wahr. Es war nur noch Ruhe.
Und als hätte der Sturm erkannt, dass er hier nichts mehr ausrichten konnte, ebbte er ab und war letztlich nicht mehr als ein starker Wind, der kalt über die Ebene blies.
Thelin sah zu Fendo, der ihn bibbernd vor Kälte musterte.
„Da haben wir aber Glück gehabt!“, sagte er mit zittriger Stimme. In seinen Augen stand geschrieben, dass er nicht so recht wusste, ob es nur Glück gewesen war, das sie vor einem Unglück bewahrt hatte. Eine andere Erklärung aber konnte er nicht finden, also sagte er nichts weiter dazu. Was geschehen war, war rätselhaft, aber Fendo war niemand, der sich lange über solche Dinge den Kopf zerbrach. Der Schatten des Zweifels würde noch einige Momente an ihm haften bleiben und dann für immer abfallen.
Über dem Wald stand nun dichter Rauch und das Knistern des lohenden Feuers drang an ihre Ohren.
„Wir sollten hier verschwinden!“, meinte Fendo und sah unbehaglich zum rauchschwangeren Himmel.
Thelin nickte nur und ging voran. Es war ihm auf einmal ein Leichtes, den Weg zu finden, wie von selbst war sein Ortssinn zurückgekehrt. Wortlos wandte er seine langen Schritte in Richtung des Waisenhauses und freute sich auf die Wärme, die ihn dort umgeben würde. Die Todesangst war vergessen.

4.
Die ehrenwerten Frauen reagierten gnädig auf Thelin und Fendos unerledigte Strafarbeit, denn sie hatten sich große Sorgen um die beiden Jungen gemacht, als sie während des Sturms feststellten, dass zwei der Waisenkinder unentschuldigt fehlten. Das Ausmisten des Stalles wurde noch ein wenig ausgedehnt, ansonsten aber ernteten sie nicht mehr als einige ernste Blicke, dann war ihnen verziehen.
Drei Tage später waren Thelin und Fendo noch immer mit den Ausbesserungen am Steg beschäftigt. Sie wären schneller vorangekommen, wenn nicht die meiste Zeit mit Tagträumen verbracht worden wäre. Fendo war so sehr Feuer und Flamme, dass der Großteil seiner Arbeit liegen blieb. Es kam häufig vor, dass er verträumt in den Himmel starrte, während er eigentlich ein Brett durchsägen sollte. Einmal schwebte seine Hand mit dem Hammer lange Zeit regungslos in der Luft und sank dann langsam in seinen Nacken, um dort zu verweilen, bis Thelin den Freund aus seiner Träumerei erweckte. Dabei erschreckte sich Fendo derart, dass er beinahe rücklings in den Bach gefallen wäre.
Der Schrecken des Sturms war nur noch ein leises Echo in Thelins Erinnerung. Etwas Seltsames war mit ihm geschehen, dessen war er sich bewusst. Die Ruhe, die er empfunden hatte, war unnatürlich gewesen. Er hätte aufgeregt sein müssen, erfüllt von panischer Angst.
Aber stattdessen war Zuversicht in ihm gewesen: Er hatte gewusst,
dass der Baum ihn verfehlen würde. Es war unbegreiflich.
Er war nun schon zum zweiten Male auf unerklärliche Art und Weise einem drohenden Unglück entronnen. Hatte er nur Glück gehabt? Rätselhafte Dinge geschahen mit ihm in den letzten Tagen, Dinge, für die er keine Erklärung hatte. Aber er war jung und unbekümmert, er ließ es nicht zu, dass er lange Zeit darüber nachgrübelte. Dafür war die Begeisterung in ihm zu groß. Bald würde er in die weite Welt aufbrechen und das größte Abenteuer seines Lebens stand ihm bevor.
Aber er konnte nicht verhehlen, dass er auch Furcht davor hatte, den sicheren Schoß des Waisenhauses zu verlassen. Der Sturm hatte ihm deutlich gezeigt, wie groß die Gefahren dieser Welt waren und es würde nicht immer so glimpflich ausgehen können. Sein Blick schweifte zum Horizont, wo die verkohlten Überreste ehemals mächtiger Tannen ihn daran erinnerten, wie knapp er dem Tod entronnen war. Der Waldbrand war in der Nacht noch von einem starken Regen gelöscht worden, trotzdem war eine sehr große Fläche Opfer der Flammen geworden. Übrig geblieben von einem lebendigen, im Frühling erblühten Wald war nur noch ein großer rußgeschwärzter Fleck im Grün der Landschaft, ein Sinnbild der Vergänglichkeit. Zu kurzen Stummeln verbrannte Baumriesen wiesen Mahnmalen gleich zum Himmel. Thelin hatte die Warnung verstanden, das Leben steckte voller Gefahren, voller Risiken. Aber dennoch war er fest entschlossen. Morgen würde er mit seinem Freund Fendo in die weite Welt hinausziehen und große Abenteuer erleben. Gefahren hin oder her, im Waisenhaus wollte er nicht länger bleiben. Seitdem sein Entschluss feststand, kam er sich vor wie in einem Gefängnis. Er wollte endlich Herr seiner selbst sein, er wollte endlich frei sein.
Der Tag war wundervoll, die beiden Jungen schmiedeten begeistert Pläne und sprachen immer wieder über die Vorbereitungen, die sie in den letzten Tagen getroffen hatten. Nacht für Nacht waren sie heimlich durch das Waisenhaus geschlichen, auf der Suche nach Vorräten und wichtigen Gegenständen, die sie auf ihrer großen Reise benötigen würden. Im Schuppen neben der Mühle hatten sie unter dem Karren ihre gesammelten Schätze verstaut, darunter waren Feuerstein und Zunder, wetterfeste Kleidung, Messer und natürlich haltbarer Proviant in allen möglichen Varianten. Thelin fand, das es viel zu viel war, die ehrenwerten Frauen mussten es doch bemerken, wenn so viele Dinge verschwinden würden. Aber Fendo hatte nur abgewinkt, seine Erfahrungen in diesen Dingen waren reichhaltiger als Thelin angenommen hatte. Scheinbar hatte er in den letzten Jahren eine Vielzahl von kleinen Diebstählen unternommen, die allesamt unentdeckt geblieben waren. Darüber hinaus erwies Fendo sich als überaus praktisch veranlagt. Bei all seiner Begeisterung vergaß er nicht, an die kleinen Dinge des Alltags zu denken. Es war offensichtlich, dass er schon lange mit dem Gedanken ans Abhauen gespielt hatte.
Ihr Plan war denkbar einfach. Morgen wollten sie ihre Bündel schnüren und unter dem Haufen Zeug auf ihrem Karren verstecken. So wie an jedem Morgen in den letzten Tagen würden sie dann zur Arbeit am Steg aufbrechen, die eigentlich schon so gut wie beendet war und anstatt zu arbeiten, würden sie sich freudig lachend aus dem Staub machen. Auf diese Weise gewannen sie einen ganzen Tag Vorsprung, falls überhaupt jemand nach ihnen suchen würde.
Thelin war ein wenig unwohl dabei, das er Frau Gelda und die ehrenwerten Frauen, von denen die meisten stets gut zu ihm gewesen waren, so schmählich hinterging. Aber sie würde ihn niemals gehen lassen, da war er sich sicher. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als es heimlich zu tun. Fendo verschwendete keinen Gedanken an ein schlechtes Gewissen, dafür fieberte er dem Tag des Aufbruchs zu sehr entgegen.
Schließlich dämmerte fast der Abend, als sie sich mit ihrem Karren auf dem Rückweg zum Waisenhaus machten. Ein letzter Blick zurück zeigte ihnen ihr Werk in seiner ganzen Pracht. Wenn der Steg auch noch nicht ganz fertig war, so stand er nun doch schon fest genug, um der Belastung mehrer Personen standzuhalten. Aber es musste noch immer den Anschein einer Baustelle geben, denn es war immer möglich, dass Frau Lean vorbei schaute und die Arbeit kontrollierte.
Noch bevor der letzte rote Streifen der Sonne hinter den Hügeln verschwand, erreichten sie das Waisenhaus. Sie stellten den Karren in den alten Schuppen, der an der Außenwand der Mühle klebte, und tauschten verschwörerische Blicke, als sie noch einmal nach ihren gesammelten Utensilien sahen.
Gut gelaunt und feixend machten sie sich auf dem Weg zum Haupthaus. Gerade waren sie in eine lebhafte Diskussion darüber versunken, was es wohl zum Abendessen gab und hatten kaum die Mitte des Hofes überquert, als Frau Gelda aus der großen Tür trat und ihnen entgegenkam. Sie war nicht allein, neben ihr ging ein dicker, kräftiger Mann, dessen Glatze im Abendlicht glänzte. Seine Kleidung war einfach und sauber, die Stiefel gerade erst geputzt. Der Staub des Hofes legte sich darüber wie eine zweite Haut. Der Mann sah aus, wie jemand, der einen guten Eindruck machen will.
Fendo und Thelin kannten ihn nicht, er war noch nie zuvor im Waisenhaus gewesen.
Frau Gelda blieb stehen und lächelte unsicher.
„Na, Jungs? Genug gearbeitet für heute?“, begann sie und wischte den Ansatz einer Antwort beiseite. „Ja, wo fange ich denn an? Also, dies hier ist Meister Eldrin, von Beruf fahrender Apotheker und Heiler. Er hat uns heute mit seinem Besuch beehrt.“
Sie bedachte den Mann mit einem Lächeln, der es geflissentlich erwiderte und seine Augen gespannt auf Fendo richtete. Thelin spürte eine unangenehme Vorahnung und damit ging ein anderes Gefühl einher. Er mochte den Mann nicht, obwohl er noch kein Wort mit ihm gewechselt hatte, war er ihm auf Anhieb unsympathisch.
„Hallo, Jungs!“, sagte Meister Eldrin mit tiefer sonorer Stimme, hakte die Daumen in seinen Gürtel und wippte auf seinen Fußballen.
„Guten Abend, Meister Eldrin!“, gaben Thelin und Fendo wie aus einem Mund höflich zurück und deuteten eine Verbeugung an.
Frau Gelda betrachtete ihre Schützlinge mit stolzem Gesichtsausdruck, als sie weiter sprach. Ihre Augen wanderten dabei zwischen dem Heiler und Fendo hin und her.
Erst jetzt fiel Thelin der bunte Wagen auf, der neben dem Stall stand, auf dem mit farbigen Lettern geschrieben stand:
„Meister Eldrins fahrende Apotheke und Heilstube!“ Darunter standen noch viele andere Worte in kleineren Buchstaben, die Thelin nicht entziffern konnte. Vor den Wagen war ein großes Zugpferd gespannt, das sich gerade an einem Eimer Futter gütlich tat und mit den Ohren wackelte.
Thelin betrachtete Meister Eldrin mit wachsenden Zweifeln. Er konnte die Gründe nicht benennen, warum ihm der Mann von Anfang an unausstehlich vorkam. Noch bevor er Namen und Stand des Heilers erfahren hatte, war er von dessen Erscheinung wenig angetan gewesen. Aber eines glaubte Thelin zu wissen: Eldrin gab vor etwas zu sein, was er nicht war, nämlich ein ehrenwerter Mann.
Frau Gelda hatte weiter mit Fendo und dem Mann gesprochen. Thelin hatte nicht zugehört, da ihm andere Gedanken durch den Kopf gegangen waren. Jetzt wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Gespräch zu.
„… jedenfalls benötigt Mister Eldrin dringend einen Lehrling. Dabei sucht er nicht nach einem jungen Knaben, sondern einem, der schon ein wenig älter ist und schon fest mit anpacken kann, wenn es nötig ist. Ich habe dabei an dich gedacht, Fendo!“
Erschrocken sah Thelin zu seinem Freund, der mit großen Augen Frau Gelda anstarrte und kein Wort herausbrachte. Der unsympathische, so genannte Heiler und Apotheker wollte Fendo als seinen Lehrling! Deshalb hatte er ihn die ganze Zeit so aufmerksam angeschaut. Aber das durfte doch nicht sein, morgen wollten sie beide gemeinsam in die Welt ziehen. Fendo musste doch jetzt „Nein!“ sagen. Aber sein Freund wandte sich langsam dem dicken Heiler zu und begann stotternd zu sprechen:
„Sie.. sie wollen mich als Lehrling?“
„Na ja, ich kenne dich ja noch gar nicht!“, ertönte die sonore Stimme, die wie Thelin glaubte schon so manchen hinters Licht geführt hatte. „Aber bis jetzt sehe ich keinen Grund, warum ich das nicht tun sollte. Bist doch ein ganz aufgeweckter Junge!“
Das Lachen war kurz, klang jedoch herzlich und aufrichtig. Eldrin wippte noch stärker auf seinen Fußballen und ein einnehmendes, beinahe jungenhaftes Grinsen spielte um seinen Mund.
Fendo starrte den Mann mit unverhohlener Verwunderung an. „Niemand… will,… wollte mich,… bisher!“, stammelte er und eine Träne sammelte sich in seinem Auge.
„Na na, junger Mann!“, sagte Frau Gelda bestimmt, um ihre Rührung zu übertünchen. „Noch sind wir nicht soweit. Lasst uns erst einmal hinein gehen, dann könnt ihr euch miteinander unterhalten und besser kennenlernen. Dann sehen wir weiter!“
Frau Gelda, Meister Eldrin und der verdatterte Fendo gingen zum Haupthaus und traten ein. Kurze Zeit ließen sie den traurigen Thelin im Hof stehen, der nicht recht wusste, wie ihm geschehen war. Eben noch hatten er und Fendo über ihre gemeinsamen Fluchtpläne gescherzt und jetzt schien das alles vergessen. Jetzt war er ganz allein, wenn sein Freund ihn hier zurückließ.
Frau Geldas Gesicht erschien in der Tür. „Thelin, kommst du?“
„Ja, komme schon!“, antwortete Thelin missmutig und die hereinbrechende Nacht war so dunkel wie sein Gemüt.

5.
Später am Abend, nachdem er schlecht gelaunt gegessen und jedem einen bösen Blick zugeworfen hatte, der sich zu ihm an den Tisch setzen oder ihn gar ansprechen wollte, saß Thelin am Fenster in seiner Kammer und sah trübselig hinaus in die sternenklare Nacht. Es hätte ein herrlicher und beruhigender Anblick sein können, doch er konnte ihn nicht genießen. Er wartete schon lange Zeit auf Fendo und sein Ärger wuchs mit jedem Augenblick, der still an ihm vorüberzog.
Endlich kam sein Freund ins Zimmer, wortlos, mit gespanntem Blick sah Thelin ihn an.
Fendo ging schweigend zu seinem Bett und setzte sich. Auf seinem Gesicht lag ein glückliches Lächeln.
„Er will wirklich, dass ich mit ihm gehe!“, sagte er selig und die Verwunderung darüber ließ ihn nicht los.
„Und?“, fragte Thelin ungeduldig. „Gehst du mit ihm mit?“
Verwirrt sah Fendo zurück. „Natürlich! Was dachtest du denn?“
„Ich? Ich habe gar nichts gedacht!“, rief Thelin aus, den Blick stur hinaus auf den Sternenhimmel gerichtet, der ihm jetzt hässlich und unansehnlich vorkam.
„Was ist los mit dir?“, Fendo schien ehrlich verwundert.
„Was los ist? Du fragst mich, was los ist?“, Thelin konnte den Anblick des von Sternen übersäten Himmels nicht mehr ertragen und sah Fendo zornig an. „Was ist mit morgen, frage ich dich! Was ist mit unserem großen Fluchtplan, unseren Abenteuern? Wir wollten doch die Welt sehen! Hast du das vergessen?“
„Nein, Thelin, das habe ich nicht, natürlich nicht! Aber sagte ich dir nicht, dass ich nur von hier abhaue, wenn nicht jemand kommt und mich mitnimmt? Ich könnte endlich ein Zuhause haben, ein richtiges Zuhause!“
Fendo suchte in der zornigen Miene seines Freundes nach Verständnis, doch da war keines. Thelin war aufgebracht, fühlte sich verletzt und hintergangen.
„Toll, Fendo, wirklich toll! Und was soll ich jetzt machen? Soll ich etwa alleine gehen?“
„Ja, warum denn nicht? Die Welt da draußen ist die gleiche!“
„Warum denn nicht?“, äffte Thelin nach. „Alleine macht es keinen Spaß, es ist nicht das Selbe! Ach, vergiss es. Geh du mit deinem Wunderheiler und lass mich einfach in Ruhe. Ich wünsche dir ein schönes weiteres Leben!“
Thelin drehte sich auf dem Absatz um und lief aus ihrer Kammer. Er rannte zur großen Tür hinaus, über den Hof, bis er den Schuppen erreichte. Die klapprige Tür öffnete er mit einem kräftigen Fußtritt und sie schlug polternd gegen die Wand. Er setzte sich in die hinterste und dunkelste Ecke und sah traurig und wütend zugleich auf ihren Karren, auf dem all ihre Utensilien für ihr für morgen geplantes Abenteuer bereit lagen. Aber der Traum war geplatzt, Fendo zog nun ohne ihn davon.
Thelins Stimmung war eigenartig. Sie schwankte zwischen Wut und Eifersucht, aber auch Erleichterung, was ihn selbst überraschte.
Wütend war er, weil sein Freund ihn im Stich ließ und zugleich fraß ihn Neid förmlich auf. Zuhause hatte Fendo gesagt, endlich hätte er eines gefunden, eine Erfahrung die Thelin wohl niemals machen würde.
Doch da war auch Erleichterung, die aus seiner Angst entsprang, eine Reise ins Ungewisse anzutreten. Er wusste mit einem Mal nicht mehr, ob er schon bereit dazu war.
Erst nachdem er lange Zeit vor sich hin gebrummt hatte und all seinen Ärger heruntergeschluckt hatte, konnte er sich auch für Fendo freuen. Sein Freund hatte das Glück verdient, das ihm heute so unverhofft beschert worden war, wenn er auch manches Mal eine Plage gewesen war. Es fiel ihm sicherlich nicht leicht, seinen Freund zurück zu lassen.
Aber nun beschäftigte Thelin sein seltsames Gefühl der Abneigung, welches er von Anfang an für den Heiler empfunden hatte. Er befürchtete, dass dieser Mann kein schönes Zuhause für Fendo zu bieten hatte, so wie sein Freund es sich erhoffte. Aber sein Widerwille konnte auch von seinem Neid herrühren. Fendo würde ebenso denken, daher würde er ihm nichts davon erzählen. Der junge Mann musste es selbst herausfinden.
Thelin schlich sich zurück in die Kammer, in der sein Freund tief und fest schlief, denn die Nacht war schon weit voran geschritten. Der Schlaf kam erst nach einem Haufen trübseliger Gedanken, als die Sonne die ersten Strahlen über den Horizont schickte.

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Tag der Veröffentlichung: 27.08.2009

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