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2. Thelin


1.
17 Jahre später.
Sonnenstrahlen überfluteten einen sanft ansteigenden Hügel im Südwesten Theliats und ließen das saftige Grün des Sommers erleuchten. Das kniehohe Gras wallte in sachten Wogen die Anhöhe hinauf und brach sich an den Stämmen alter Eichen, deren Laub in der Brise leise von einem wunderschönen Tag erzählte. Im Schatten der Bäume saß ein junger Mann von mittlerer Statur und genoss den Ausblick auf die sich vor ihm ausbreitende Ferne. Ein verträumter Ausdruck umspielte seine grauen Augen, während ihm widerspenstige dunkle Locken ins Gesicht fielen. Seine unbekleideten Füße spielten mit dem Gras und zupften einige Halme. Ein paar davon fanden sich in seinen Händen wieder und er warf sie übermütig in die Luft. Der Wind fächerte sie auseinander, trieb sie davon. Wieder wanderte der Blick des jungen Mannes über das weite Land und er lächelte leise und sehnsüchtig.
Er machte sich auf den Weg den Hügel hinab, ein Windstoß bauschte sein weites Hemd und seine dreiviertellange Hose, wehte die Locken aus seinem Gesicht. Thelin, so der Name des jungen Mannes, ließ die Hände über die Spitzen des hohen Grases gleiten und seine Gedanken schweifen.
Er war elternlos und lebte in einem Waisenhaus unweit des in Gold getauchten Hügels. Es wurde von einigen Frauen geleitet, die der König von Theliat vor über dreißig Jahren beauftragt hatte, sich um die vielen Kinder zu kümmern, die in einem kurzen, aber verheerenden Erbfolgekrieg ohne Eltern zurückgeblieben waren. Von den Kindern von damals war nun keines mehr übrig, doch gab es in der Welt Nasu immer noch ausreichend Waisenkinder. So war es niemand in den Sinn gekommen, dass die Einrichtung wieder geschlossen werden müsste. Heute waren die Frauen allesamt über sechzig, doch noch immer rüstig genug für die Erziehung einer Horde tobender Kinder. Thelin lächelte, als ihm das Bild von Frau Mawein vor Augen trat, die mit einer Waschbürste bewaffnet dafür sorgte, dass sich ein Dutzend Jungen ordentlich wuschen. Ihm wurde diese Fürsorge nicht mehr zuteil - er war alt genug, um für sich selbst zu sorgen.
Das Lächeln erstarb, als der unangenehme Gedanke seinen Horizont streifte. Zu alt. Das war das Problem. Er war nun 17 Jahre alt, die Großjährigkeit nur noch ein paar Monate entfernt und irgendwann musste er das Waisenhaus verlassen. Andere junge Männer in seinem Alter gingen längst in die Lehre und schufen eine Grundlage für ihren späteren Lebensunterhalt. Thelin hätte mehrere Möglichkeiten für eine anständige Lehre gehabt, zum Beispiel bei Meister Gerlon, dem Bäcker im nahen Dorf Altweiler, oder auch bei dem wandernden Schäfer Krost, der alle Vierteljahr beim Waisenhaus vorbeikam und seine Wolle verkaufte. Thelin war in großer Versuchung gewesen. Besonders das Wanderleben eines Schäfers hätte ihm durchaus zugesagt, er hatte sich auch stets mit dem alten Mann gut verstanden. Doch dazu war es nicht gekommen. Nur zu gut erinnerte er sich an die Gespräche mit Frau Gelda, der Leiterin des Waisenhauses, die ihm all die Jahre vorher gesagt hatte:
„Mein Junge, du bist zu jung, um mit dem alten Krost über die Lande zu ziehen!“
Und dann in dem Jahr, in dem sich Thelin endlich bereit und alt genug fühlte, da hatte sie ihn bei Seite genommen, als der alte Schäfer wieder einmal bei ihnen war:
„Thelin, lass dir gar nicht erst einfallen zu fragen! Du gehst nicht mit Krost. Er wird einen anderen Jungen mitnehmen, vielleicht Ebel. Ja, der ist genau im richtigen Alter, du bist jetzt zu alt dafür.“
Und damit hatte sie ihn stehen lassen. Er hatte ihr hinterher geschaut, zuerst vollkommen verdutzt, dann immer zorniger. Sie hatte ihn hinters Licht geführt, ihn jahrelang belogen. Und in seiner Wut traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Er sollte gar nicht weggehen. Sie wollten nicht, dass er das Waisenhaus verließ. Ein besonderer Grund dafür wollte ihm zwar nicht einfallen, aber wenn er zurück blickte, fiel ihm auf, dass alle seine Versuche, das Waisenhaus zu verlassen, durch fadenscheinige Begründungen unterbunden worden waren. Damals hatte er dies Frau Gelda gerade auf den Kopf zu gesagt, wütend und verletzt zugleich, doch diese hatte ihn nur gleichmütig angesehen und gesagt, das wäre völliger Unsinn. Aber das war es nicht, Thelin wusste es genau. Nun wartete er auf den Tag, an dem man ihm sagte, sagen musste, dass er das Waisenhaus zu verlassen hatte. Irgendwann musste der Zeitpunkt doch kommen.
Noch etwas beschäftigte ihn. Außer Krost kam noch jemand zu Besuch ins Waisenhaus. Eine unglaublich alte Frau mit Namen Mulgran erschien in unregelmäßigen Abständen und verbrachte einige Zeit dort. Ihre Aufmerksamkeit galt im Besonderen Thelin, mit dem sie gerne über die Hügel wanderte, durch die Wälder streifte oder einfach nur im hohen Gras der Felder hockte und redete. Thelin mochte die alte Dame, die so etwas Ähnliches wie Familie für ihn war. Er liebte ihre derb lustige Art, ihren unerschütterlichen Humor, die grell bunte Kleidung und all die Dinge, die sie ihm bei ihren Besuchen mitbrachte. Doch seit dem Tag, an dem ihm verwehrt worden war, bei Schäfer Krost in die Lehre zu gehen, hegte er einen Verdacht. Er glaubte, dass es Mulgran war, die nicht erlaubte, dass er das Heim verließ. Thelin konnte sich selbst nicht erklären, wie er auf diese Idee gekommen war, aber er hatte sich fest vorgenommen, der Sache nachzugehen. Bis dahin würde er geduldig warten, bis der Tag kam, an dem man ihm erklärte, warum er mittlerweile bei weitem der Älteste im Waisenhaus war.
Thelin lief durch ein kleines Birkenwäldchen, trat hinaus auf den Weg und sah das Waisenhaus jenseits eines goldenen Weizenfeldes vor ihm liegen. Die Ansicht wurde von dem großen weißen Haupthaus mit seinen beiden Türmen und dem Kuppeldach beherrscht. Daneben drehten sich träge die Mühlenflügel, das Knirschen des Mühlsteins drang bis zu ihm herüber. Gegenüber der Mühle befand sich ein großer Stall, bis unters Dach mit allerlei Viehzeug angefüllt. Hinter dem Haupthaus, vor Thelins Blicken verborgen, befanden sich einige Gemüsebeete und lange Reihen von Apfelbäumen erstreckten sich bis zum Horizont.
Er ging den Feldweg entlang, der sich am Acker entlang schlängelte und schließlich in einen befestigten Weg mündete, der nach links zum Dorf führte und nach rechts zum Heim. Jenseits des Weges lag eine große Wiese, die nach einigen hundert Schritten an einem dichten Nadelwald endete.
Thelin zögerte, der Tag war noch lange nicht zu Ende und im Waisenhaus wartete nichts als Arbeit. Aber natürlich nicht, wenn er jetzt noch etwas fort blieb. Kurz schwankte er zwischen Heimkehr und Unternehmungslust, als vom Dorf her Stimmen ertönten. Neugierig ging er ihnen entgegen und bereute seine Entscheidung im selben Moment. Die Stimmen waren ihm bekannt.
„Ha! Der hat gesessen!“
„Na warte, das kriegst du zurück!“
Gerade kamen drei junge Männer um die Kehre des Weges gelaufen, übermütig bewarfen sie einander mit Pflaumen. Sie blieben abrupt stehen, als sie Thelin entdeckten, der mit zerknirschter Miene mitten auf dem Weg stand und seine Neugier verfluchte. Die drei hießen Kip, Ardo und Reva, waren etwa im gleichen Alter wie Thelin und seine ärgsten Rivalen. Bereits von Kindesbeinen an, als er zum ersten Mal in Altweiler gewesen war, waren die ersten Streitigkeiten ausgebrochen. Vor allem mit Kip, dem Sohn des Schmiedes, dem Thelin vor nun fast zehn Jahren bei einer Rauferei eine Narbe am Kinn zugefügt hatte. Die Erinnerung daran brachte Kip stets wieder zur Raserei. Er hasste Thelin aus tiefstem Herzen und Begegnungen zwischen beiden endeten zumeist in wüsten Schlägereien. Lange waren sie einander aus dem Weg gegangen und die letzte Auseinandersetzung lag über ein Jahr zurück.
Kip stand ihm nun wenige Schritte entfernt gegenüber und setzte ein höhnisches Grinsen auf.
„Na, Waisenbastard! Lange nicht mehr gesehen. Hast du dich in deinem Loch verkrochen?“ Dabei warf er eine Pflaume in die Luft und fing sie wieder auf.
„Wohl kaum. Ich hab nur auf dich gewartet, bis du dich endlich noch mal hier hoch traust. Hat aber lange gedauert!“, antwortete Thelin leichthin.
Kip nahm eine bedrohliche Haltung ein und seine beiden Freunde taten es ihm gleich. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Thelins Magengegend aus, als ihm auffiel, wie sehr sein alter Rivale sich verändert hatte. Seine Oberarme waren dicke Muskelpakete und im letzten Jahr war er noch einmal ein Stück gewachsen, sodass er ihn nun um fast einen Kopf überragte. Etwas anderes fiel jedoch besonders auf. Auf seinem Gesicht blühte ein großes Veilchen. Als Thelin das sah, konnte er sich nicht mehr zurück halten.
„Gefiel der Kuh euer Liebesspiel nicht? Oder war das nur der Abschiedskuss?“ Er wusste, dass es unvernünftig war, den angeschlagenen Stier zu reizen, doch er konnte nicht anders. Kip war ihm mehr zuwider als alles andere.
Der Sohn des Schmieds lief rot an und schrie zu ihm herüber:
„Du elender Bastard, ich mach dich fertig! Ich schlag dich windelweich! Jetzt wirst du büßen, für alles! Für alles!“
Noch während diese Tirade auf ihn nieder ging, drehte Thelin sich herum und rannte über die Wiese in Richtung des nahen Waldes.
„Bleib stehen, du Feigling, wir kriegen dich ja doch!“
Thelin lachte laut auf und erwiderte:
„Versuch es doch!“
Er war sich seiner Sache sicher, auf jeden Fall war er schneller als seine drei Verfolger. Reva wäre ihm früher vielleicht ziemlich nah gekommen, doch wenn er überhaupt etwas gut konnte, dann war es schnell laufen.
Vielleicht war es diese an Überheblichkeit grenzende Sicherheit, vielleicht sein Übermut, dem über den Wegesrand springenden Kip hämische Worte zuzurufen, vielleicht auch nur Pech. Er trat auf einmal in ein Loch, knickte mit dem Fuß um und purzelte durch das niedrige Gras. Ein Triumphschrei ertönte hinter ihm und noch bevor er sich aufrappeln konnte, war Kip über ihm. Thelin wurde hart auf die Beine gezogen, als Ardo und Reva keuchend neben ihm zum Stehen kamen. Der Sohn des Schmieds packte ihn am Kragen und zerrte ihn auf Augenhöhe.
„Oh, ist der Waisenjunge hingefallen?“, sagte Kip mit schlecht gespieltem Mitleid. „Das tut mir aber leid. Hast du dir weh getan? Kannst ja nach deiner Mama rufen. Hups! Hab ich vergessen, du hast ja gar keine!“
Kip stieß Thelin angewidert zurück, der unbeholfen zu Boden fiel. Bei seinem Sturz musste er sich den Fuß verstaucht haben und er konnte bereits spüren, wie er anschwoll. Ein pochender Schmerz breitete sich in dem Knöchel aus. Kip entging dies nicht.
„Ach, hast dir wohl wirklich weh getan. Lass mal sehen…“
Mit bösem Grinsen rückte er näher und trat fest gegen den verletzten Knöchel. Thelin schrie vor Schmerzen auf, ihm wurde schwarz vor Augen.
„Sehr schön, so kannst du wenigstens nicht weglaufen.“, sagte Kip mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck. Wieder packte er Thelin, hob ihn vom Boden auf und stieß ihn in Ardos und Revas Arme, die ihn sofort fest umklammerten.
Es dauerte lange, bis der Schmerz in Thelins Fuß so weit nachließ, dass er wieder klar denken konnte. Gerade wollte er sagen, dass sie mit dem Unsinn aufhören sollten, weil es nur Ärger geben würde. Dann aber sah er ein kleines Messer in Kips Faust und es verschlug ihm die Sprache. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Hass seines Rivalen so groß war, dass er mit einer Waffe auf ihn losging.
Auf Kips Gesicht fand sich nun keine Spur seines anfänglichen Hohns mehr, abschätzend betrachtete er Thelin. Er erwartete eine Reaktion. Das Messer drehte sich langsam in seiner Hand und die rötliche
Abendsonne spiegelte sich matt auf der Klinge.
„He, Kip…“, begann Thelin und sah verzweifelt auf die abgewetzte Waffe. „Ich hab doch schon genug eingesteckt für heute, findest du nicht?“
Demonstrativ hob er den angeschlagenen Fuß, doch der Sohn des Schmieds warf nicht mehr als einen kurzen geringschätzigen Blick darauf.
„Diese Gelegenheit lass ich mir nicht entgehen!“, knurrte Kip.
„Was hast du vor?“, fragte Thelin und konnte den Blick nicht von dem Messer lassen, das zwischen Kips Händen hin und her wanderte.
„Och, ich weiß noch nicht. Mit so einem Messer kann man viel machen. Schneiden, Stechen - weißt schon.“
Thelin sah Kip in die Augen, die glänzend zu ihm herüberschauten. Dem Sohn des Schmieds bereitete die Situation sichtlich Vergnügen und er wollte jeden Moment davon auskosten. Wie oft hatte er unter Thelin gelitten. Ihre erste Begegnung hatte zu einer Rauferei geführt, die damit geendet hatte, dass Kip in den Mühlbach gestoßen wurde und sich die hässliche Narbe am Kinn zugezogen hatte. Auch war er einmal von dem Waisenjungen mit Kuhmist überschüttet worden und so zum Gespött des ganzen Dorfes geworden. Diese Liste ließe sich noch endlos weiterführen, doch heute war Zeit zurück zu zahlen.
„Mach das nicht. Lass mich einfach gehen.“, sagte Thelin leise.
„Ich weiß noch nicht, was ich mit dir mache.“, sagte Kip mit leichtem Zögern. „Ich habe mir gedacht, ich jage dir mal etwas Angst ein. Damit du dich nicht mehr so groß tust. Mein Vater würde wohl sagen, ich werde dich Demut lehren.“
Schlagartig wurde Thelin klar, woher das Veilchen auf Kips Gesicht stammte. Der Vater hatte dem Sohn eine schmerzhafte Lektion erteilt und die Wut darüber kochte noch immer in dem jungen Mann. Thelin kam ihm gerade recht, um sich abzureagieren. Und das konnte bedeuten, dass er das Messer wirklich benutzte.
Thelin sah den seltsamen Ausdruck in Kips Augen, kalte Wut lag darin, Rachsucht und Schmerz über erlittene Demütigungen. Er bekam Angst, diesen Augen traute er alles zu. Halbherzig versuchte er sich loszureißen, doch es gelang ihm nicht. Ardo und Reva packten fest zu und lachten bösartig. Für einige Augenblicke noch tanzte das Messer durch Kips Hände, dann umfasste er es mit der rechten Faust.
„Jetzt geht es dir an den Kragen!", zischte der Sohn des Schmieds.
Fiebrig strich er mit der freien Hand über sein Kinn, auf dem sich bereits ein starker Bartwuchs abzeichnete und hielt plötzlich inne. Ein Finger fuhr leicht über die Konturen der Narbe und ein böses Lächeln trat auf sein Gesicht. Thelin verstand sofort.
„Das wagst du nicht.“, stöhnte Thelin fast.
„Wirst schon sehen. Gleiches für Gleiches! Ist nur gerecht, Waisenbastard, nur gerecht!“
Langsam erhob sich der Arm, unerbittlich näherte sich die schartige Klinge ihrem Ziel. Thelin hob verzweifelt den Kopf zurück, wand sich in Ardos und Revas Griff, doch sie ließen nicht locker. Auch sie starrten gebannt auf das Messer, das im Abendlicht bedrohlich funkelte. Thelin konnte nicht glauben was hier geschah. Er zappelte wie wild und schüttelte den Kopf, damit Kip nicht zustechen konnte.
„Hör auf zu zappeln!“
Doch Thelin dachte gar nicht daran. Er gebärdete sich wie wahnsinnig, achtete nicht auf den Schmerz in seinem Knöchel, dachte nur an das Messer. Er hörte erst auf, als Kip die Klinge unwillig herunter nahm.
„Halt still, oder ich zerschneide dir das ganze Gesicht. Ist mir doch egal ob du eine oder zwanzig Narben in deiner Fratze hast.“ Er lachte heiser auf und seine Kumpane taten es ihm beflissentlich gleich. Thelin starrte Kip ungläubig an. Würde er so weit gehen?
Kips linker Arm schnellt vor, seine Hand packte Thelins Haare, der sich unter dem harten Griff wand, sich aber doch der überlegenen Kraft beugen musste. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf das näher kommende Messer, Entsetzen stand darin. Das kalte Metall berührte seine Haut, Thelin hörte Kips schweren Atem und das nervöse Lachen Revas. Er wartete auf den Schmerz, sein Körper verkrampfte sich, doch nichts geschah.
„Los, mach jetzt!“, stieß Ardo heiser hervor.
„Ja…“, murmelte Kip wie in Trance, er zögerte. Nicht aber weil er Skrupel bekam. Er genoss das starke Gefühl der Macht in diesem Augenblick so sehr, dass er es hinauszögerte. Thelin hielt seine Augen jetzt fest geschlossen, heißer Atem streifte sein Ohr, als Kips heisere erregte Stimme zu ihm sprach.
„Na, Waisenbastard, wie fühlt sich das an?“
Fester drückte er das Messer an Thelins Kinn, wo sich bereits eine weiße Druckstelle abzeichnete, beinah riss die Haut.
Die Demütigung ließ die Angst verfliegen und stattdessen wurde Thelin von heißem Zorn erfüllt. Unglaublicher Hass brach sich Bahn, nie zuvor hatte er so empfunden. Sein Körper begann zu zittern, als würde seine Wut in ihm etwas zum schwingen bringen. Verwirrt von seinen eigenen Sinnen nahm er kaum mehr wahr, was um ihn herum vor sich ging. Er fühlte sich als würde er wachsen, als würden seine Muskeln anschwellen und unbändige Kraft freigesetzt. Ein schmerzhaftes Reißen zerrte an ihm, er glaubte innerlich zu bersten. Vor seinen Augen war nun nichts als gleißendes Licht, das irgendwie aus ihm selbst zu kommen schien. Laut pochte das Blut in seinen Ohren, mit einem Schlag setzte sein Verstand aus. Für einen unbestimmbaren Zeitraum schwebte er in einer dumpfen Leere, abgeschottet von seinen Sinnen, seinem Denken, jeglichem Empfinden. Es war, als hinge er in einer Blase aus Nichts.
Und dann, so plötzlich wie es begonnen hatte, hörte es auf, er stürzte zurück ins Leben. Seine Sinne schrien auf, als die verschiedensten Wahrnehmungen auf sie niederprasselten. Mühsam gelang es Thelin, wieder Herr seiner selbst zu werden. Am Ende blieben nur ein erdiger Geschmack in seinen Mund und ein hämmernder Schmerz in seinem Kopf.
Er kniete am Boden, sich matt auf einer Hand abstützend, während die andere seinen Kopf hielt, der tonnenschwer auf seinen Schultern lastete. Bruchstückhaft kehrte die Erinnerung zurück. An die drei jungen Männer, an Kips verrückte Rache und natürlich an das Messer. Ängstlich befühlte er sein Kinn. Da war kein Schnitt, dennoch spürte er einige Tropfen warmen Blutes auf seinen Fingern. Sein Blick irrte umher und fand das schartige Messer, das nur wenige Schritte vor ihm lag. Ein einzelner Blutstropfen war von der Klinge ins Gras geronnen und hatte einen Halm rostrot verfärbt. Er wollte nach der Waffe greifen, ließ es aber dann doch bleiben. Unter keinen Umständen wollte er dieses Ding berühren.
Jetzt erst drangen entfernte Schreie an seine Ohren und er wollte den Kopf in ihre Richtung drehen. Sofort peitschte glühender Schmerz durch seine Schläfen und ein trüber Schleier legte sich über seine Augen. Er stöhnte leise auf. Nur langsam klärte sich sein Blick wieder und er konnte zwei Gestalten sehen, die mit wehenden Armen über den Weg in Richtung Dorf liefen. Sie rannten, als hätten sie das Böse selbst erblickt.
Schwankend richtete Thelin sich auf, wobei er erleichtert feststellte, dass die Schmerzen in seinem Kopf etwas nachließen. Zumindest konnte er jetzt wieder klar denken. Er untersuchte seinen Körper, konnte aber keine Verletzungen entdecken.
Dann sah er Kip. Der Sohn des Schmieds saß nur einige Schritte entfernt im Gras, das Gesicht eine Maske des Entsetzens. Er wirkte wie gelähmt, starr vor Angst. Seine Lippen formten Worte, doch es war nur sinnloses Stottern. Thelin fühlte sich zu schwach, um Zorn zu empfinden. Stattdessen war nur Leere und unsagbare Müdigkeit in ihm. Er warf dem Rivalen einen mitleidlosen Blick zu und widerstand der Versuchung, Kip einen letzten Tritt zu verpassen. Seine Schritte wandten sich in Richtung Waisenhaus, das im schwächer werdenden Sonnenlicht in dunklem Orange vor ihm lag und wundervollen, erholsamen Schlaf verhieß. Er hatte kaum ein Viertel des Wegs zurückgelegt, da drehte er sich noch einmal halb zu Kip um, der noch immer an der gleichen Stelle saß und ihm nachsah. Gleichgültig machte Thelin sich auf, den Rest des Weges zurück zu legen. Dies sollte das letzte Mal gewesen sein, dass die beiden Rivalen einander begegneten.
Während Thelin zum Heim zurückging, versuchte er seine Gedanken zu ordnen. Doch er verstand nicht, was eben auf der Wiese geschehen war. Unvermittelt blieb er stehen. Da war noch etwas, das ihm erst jetzt auffiel. Langsam schaute er an sich hinab, auf seinen Knöchel, der eben noch dick angeschwollen war. Jetzt aber war von einer Verletzung nichts mehr zu sehen.

2.
Thelin erwachte aus einem tiefen, traumlosen Schlaf, weil jemand wild an seiner Schulter zerrte. Wie von fern vernahm er seinen Namen.
„Thelin, du Schlafmütze, komm endlich aus den Federn. Frau Lean wird schon unruhig, wenn du nicht bald aufstehst, bekommst du wieder Ärger.“
Langsam, ganz langsam begann Thelins Verstand wieder zu arbeiten und der Schleier des Schlafs hob sich. Er wollte sich zu der Stimme herum drehen, lauthals nörgeln, doch er kam nicht dazu. In seinen Muskeln und Gelenken schienen lange spitze Nadeln zu stecken, die sich tief hinein bohrten und er glaubte sein Kopf müsse platzen. Er stöhnte laut.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte die Stimme, deren Lautstärke brennenden Schmerz in seinem Kopf auflodern ließ.
„Leise…“, versuchte Thelin zu sagen, aber seine Kehle war staubtrocken, er hatte schrecklichen Durst.
„Oh!“, machte die Stimme und ein schadenfrohes Lachen ertönte. „Du hast einen Kater! Hast du wieder heimlich ein paar Schluck von Frau Geldas Branntwein genascht?“ Es arbeitete schwer in Thelins Kopf und es vergingen einige Augenblicke, bis er sich erinnerte. Einmal hatte er zusammen mit seinem jüngeren Freund Fendo eine Flasche von dem Apfelschnaps entwendet, den die Leiterin des Heims in einem der Vorratsräume aufbewahrte. Dann hatten sie es sich unter einem Baum gemütlich gemacht und das schreckliche Getränk hinuntergewürgt. Erwachsen und männlich waren sie sich vorgekommen, erst recht als der Alkohol zu wirken begann. Lange hatte das Hochgefühl nicht angehalten, denn bald schon hatten sie nebeneinander am Bach gelegen und sich den Rest des Tages übergeben. Schlimmer noch war der nächste Morgen gewesen. Die Kopfschmerzen von damals waren jedoch nichts gegen die von heute.
„Das ist es nicht.“, stammelte er.
Thelin öffnete die Augen und es war als würden die Sonnenstrahlen wie brennende Schwerter in seinen Kopf fahren. Er schlug die Hände vors Gesicht und wartete bis der Schmerz nachließ. Die Stimme drang wieder an sein Ohr.
„…ganz schön erwischt, was? Soll ich Frau Lean sagen, dass du krank bist?“
„Nein, bloß nicht! Das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen.“, sagte er leise und öffnete die Augen erneut. Zwar musste er noch blinzeln, wegen des grellen Lichts, doch jetzt waren die Schmerzen erträglich. Ächzend richtete er sich auf und sah zu der Person, zu der die Stimme gehörte.
Es war Fendo, Thelins bester und einziger Freund im Heim. Sie teilten sich schon seit vielen Jahren ein Zimmer. Beide hatten nicht viele Freunde. Thelin weil er mit Abstand der Älteste im Heim war, Fendo, weil er ein schwieriger Junge war, der den anderen Kindern alle nur erdenklichen Streiche spielte und stets nur Unsinn im Kopf hatte. Zwar war er nur ein kleiner, schmächtiger Junge mit struppigem Haar, doch die meisten Waisenkinder fürchteten sich vor ihm, da eine lange, weiße Narbe sein Gesicht entstellte und ihm einen düsteren Ausdruck verlieh. Niemand wusste, woher sie stammte, wer sie Fendo zugefügt hatte, nicht einmal er selbst. Thelins Freund war niemals gut behandelt worden, viele schlechte Erfahrungen mit den Menschen hatten schon in jüngster Kindheit seinen Weg gepflastert. Daher war Fendo misstrauisch, hatte einen Schutzwall um sich errichtet, den bis heute nur Thelin hatte durchdringen können. Das bedeutet aber nicht, dass er von einigen kleinen Gemeinheiten verschont blieb, die dem Jungen ständig einfielen.
„Was ist denn jetzt los mit dir? Wenn du keinen Kater hast, was ist es dann? Du siehst aus, als wäre ein Drache über dich drüber gestiefelt!“, stellte Fendo leicht besorgt fest, doch konnte er sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen.
„Ich weiß es nicht.“, antwortete Thelin wahrheitsgemäß. „Bin wahrscheinlich nur krank.“
„Na, was jetzt. Willst du nun liegen bleiben oder kommst du mit? Ich hab so das blöde Gefühl, heute wartet eine Menge Arbeit auf uns!“
Thelin stöhnte auf. „Beim Beben, das ertrag ich heute nicht!“
„Los, auf, du Memme!“, sagte Fendo aufmunternd und verschränkte die Arme vor der Brust. „Vielleicht kann ich dir ja heute helfen! Dann muss ich mir nicht die dummen Vorträge im Unterricht anhören.“
Thelin fuhr sich mit der Hand durch die wirren Haare, versuchte ein tapferes Lächeln, welches ihm aber gründlich misslang.
„Was machst du eigentlich hier? Müsstest du nicht schon längst im Unterricht sein? Wie spät ist es eigentlich?“
„Der Unterricht hat schon längst begonnen, doch als du nicht aufgetaucht bist, hat die Alte mich geschickt, um zu sehen, wo du bleibst.“
Vor einiger Zeit hatte Thelin mit der Leiterin des Heims eine Übereinkunft getroffen. Als der Tag gekommen war, als man ihm im Unterricht nichts Neues mehr beibringen konnte, wurde er davon frei gestellt. Nach der ersten Freude machte er ein langes Gesicht, Freistellung vom Unterricht bedeutete nämlich nicht Freizeit, sondern Arbeit. Während die anderen Kinder die Schulbank drückten, musste Thelin sämtliche Arbeiten verrichten, die im und um das Waisenhaus anfielen. Also musste er jeden Morgen bei Frau Lean antreten, die ihm seine Tätigkeit zuwies.
„Sie hat gemeint, wenn du deinen faulen Hintern nicht bald zu ihr schaffst, wirst du fürchterlichen Ärger kriegen. Du weißt, was das bedeutet!“, fuhr Fendo fort und es schien, als würde sein Lächeln noch eine Spur breiter. Thelin wusste sehr gut, was es bedeutete. Fürchterlichen Ärger, Schmerzen im Rücken und Blasen an den Fingern. Darauf konnte er heute durchaus verzichten.
„Ist ja gut, sag ihr, ich komm gleich. Hast du vorher vielleicht mal einen Schluck Wasser für mich? Ich hab das Gefühl, ich verdurste gleich!“
Er hatte während des Gespräches mit seinem Freund nach einem Krug neben seinem Bett gegriffen, doch dieser war völlig leer. Erwartungsvoll blickte er zu seinem Zimmergenossen.
„Nein!“, antwortete Fendo überdeutlich und hob anklagend eine Braue. „Das soll ja wohl ein Scherz sein! Falls du dich nicht mehr erinnerst, werde ich dir gerne auf die Sprünge helfen. Du hast meinen Krug heute Nacht bereits ausgetrunken! Ich bin wach geworden, als er dir aus der Hand gefallen ist!“
Er deutete auf einen Haufen roter Tonscherben neben seinem Bett.
„Dabei hast du mich auch noch angestarrt! Sah richtig gruselig aus. Und dann hast du dich einfach wieder hingelegt. Denk jetzt bloß nicht, ich würde deinen Mist jetzt auch noch wegräumen! Das kannst du schön selbst machen!“
„Ja … klar. Tut mir leid.“, stammelte Thelin, der sich daran wirklich nicht erinnern konnte.
„Ist ja nicht so wild. Ich muss jetzt auf jeden Fall wieder gehen, sonst kriege ich auch noch Ärger. Ich sag ihr, du wärst auf dem Weg. Bis nachher.“
Die letzten Worte sprach er bereits im Türrahmen, dann verschwand sein dunkler Schopf hinter dem hellen Holz der Tür. Kurze Zeit hallten seine schnellen Schritte noch durch den Korridor, dann war Thelin allein.
Er saß auf dem Bett und hielt den Kopf in beiden Händen. Ein stetes Rauschen brandete durch seine Ohren und noch immer schmerzte sein Körper. Allmählich ging es ihm besser, trotzdem fiel ihm das Aufstehen schwer, jeder Muskel seines Körpers rebellierte dagegen.
Der Durst trieb ihn voran. Er strebte der Küche entgegen, wo große Krüge mit köstlichem frischen Apfelsaft auf ihn warteten. Er war sich bewusst, dass er großen Ärger heraufbeschwor, wenn er nicht sofort zu Frau Lean ging und sich zur Arbeit meldete, aber der Durst war stärker. Schließlich trat er durch eine Tür, hinter der geschäftiges Treiben zu vernehmen war. Es war nicht ungewöhnlich, dass Thelin in der Küche auftauchte. Deshalb nahm auch niemand besondere Notiz von ihm, nur sein schwerfälliger Gang zog einige befremdliche Blicke auf sich, die er aber ignorierte. Am anderen Ende der Küche befanden sich große Fässer, die randvoll mit Apfelsaft gefüllt waren. Eilig ging er auf sie zu, beiläufig griff er sich einen Krug. Der süße Duft von Äpfeln drang ihm in die Nase, als er mit großen Schlücken trank. Es war ein wunderbares Gefühl, als das köstliche Getränk seine Kehle hinunter rann. Nach drei randvoll gefüllten Krügen war sein Durst gestillt und der Hunger verschaffte sich mit einem tiefen Magenknurren Gehör.
Thelin sah sich verstohlen um. Einige Frauen rührten in großen Kochtöpfen, schnitten Gemüse oder schälten Kartoffeln. Noch immer schenkte ihm niemand besondere Beachtung und so wandte er seine Schritte unauffällig den Vorratsräumen zu. Schnell stahl er sich hinein und sog die herrlichen Gerüche nach frischem Backwaren, saftigem Schinken und allerlei Gewürzen gierig in sich auf. Er nahm einen Laib Brot und säbelte einige Scheiben von einem Schinken ab, der an einem Haken von der Decke baumelte und besonders verführerisch duftete. Mit seiner Beute unter dem Hemd verließ er die Vorratskammer so flink wie er sie betreten hatte und lief Frau Lesdorin, der Leiterin der Küche geradewegs in die Arme.
Sie war eine stämmige Frau, deren Schürze mit ihr verwachsen war - sie trug sie jederzeit. Auf ihrem Kopf verdeckte eine weiße Haube die grauen Haare und in ihrer Hand hielt sie einen großen Suppenlöffel. Gerade zeigte sie damit auf Thelins Unschuldsmiene.
„Was tust du dann da, junger Mann?“, fragte sie mit verkniffenen Augen.
„Ich? Gar nichts, ehrenwerte Frau Lesdorin!“, antwortete Thelin und versuchte Brot und Schinken unter seinem Hemd versteckt zu halten.
„Thelin, du willst mir nicht erzählen, dass du gar nichts in meinem Vorratsraum suchst?“
„Nun, ähm, ja,…“, stammelte Thelin und bemühte sich weiterhin um einen unschuldigen Blick.
Frau Lesdorin trat auf ihn zu und lüftete mit ihrem Suppenlöffel sein zerknittertes Hemd.
„Und was ist das?“
„Oh, Frau Lesdorin“, begann Thelin wehleidig, „ich habe so schlecht geschlafen, mir war gar nicht gut. Dann endlich bin ich eingeschlafen und habe prompt das Frühstück verpasst. Ich hatte so einen Durst und noch viel schlimmeren Hunger. Es macht doch nichts, wenn ich mir ein kleines Brot und ein bisschen Schinken nehme!“
Die Leiterin der Küche begann zu lachen und stemmte die Arme in die Hüften. Der Suppenlöffel hing nun lasch herunter und pendelte an ihrer Seite hin und her.
„Hättest mich doch nur zu fragen brauchen. Die alte Lesdorin ist doch kein Drachen und lässt die lieben Kleinen verhungern!“ Ihre heitere Miene verdunkelte sich etwas. „Hm, du siehst schon ein wenig krank aus, ehrlich gesagt. Deine Augen, weißt du, die schauen irgendwie seltsam drein.“
Sie befühlte seine Stirn und die ihre legte sich in Falten. Doch anscheinend war nichts Beunruhigendes festzustellen.
„Fieber hast du jedenfalls nicht!“
„Nein, nein, Frau Lesdorin. Ich fühle mich mehr so, als hätte ich den schlimmsten Muskelkater meines Lebens, dabei habe ich gestern gar nicht so viel gearbeitet. Hätte Fendo mich nicht zweimal geweckt, wäre ich noch immer am schlafen.“
„Muskelkater, hm?“, brummte Frau Lesdorin. „Na, wenn es sonst nichts ist. Schlaf dich halt mal aus, dann ist es morgen vergessen!“
Sie strich Thelin beiläufig über den Arm und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
„He, Karima! Es heißt zwar: ‚Das Salz in der Suppe’, aber soviel sollte es nun doch nicht sein. Beim Donnergrollen, wer soll denn das essen!“, rief Frau Lesdorin einer Küchenmagd zu und ging mit dem Suppenlöffel wedelnd auf sie zu.
Thelin wollte ihr eine kurze Verabschiedung hinterher rufen, unterließ es aber. Der Leiterin der Küche waren solche Floskeln gleichgültig, ihre Arbeit war ihr wichtiger. Seine Anwesenheit hatte sie längst vergessen.
Ein Schmunzeln stand noch für einige Augenblicke auf Thelins Gesicht, Frau Lesdorins eisernes Küchenregiment gab ihm immer wieder aufs Neue Grund zur Erheiterung. Sie schimpfte ständig mit den Mägden, in Wahrheit hatte sie jedoch ein gutes Herz und kümmerte sich rührend um die Waisenkinder. Besonders auch um Thelin, was vor allem daran lag, dass er schon so lange Zeit hier war. Schnell aber erlosch sein Lächeln, denn die Schmerzen in seinen Armen und Beinen meldeten sich mit Macht zurück. Leidend zog er mit eckigen Bewegungen durch die Korridore des Waisenhauses und zischte gepeinigt bei jedem Schritt.
Er hatte ehrlich vorgehabt, Frau Lean im großen Schulsaal aufzusuchen, aber er konnte in seiner Verfassung unmöglich körperliche Arbeit verrichten. Gestern war er über das Dach der Mühle geklettert und hatte von Wind und Wetter zerstörte Schindeln ausgetauscht. Das hatte ihm sogar Spaß gemacht, heute aber war er fest davon überzeugt, nach zwei unsicheren Schritten vom Dach herunterzufallen. Also folgte er Frau Lesdorins Ratschlag. Nachdem er Brot und Schinken verspeist hatte, wollte er nur noch schlafen. Es war eine himmlische Aussicht.
Schritt um Schritt schlurfte er weiter mit leidender Miene in Richtung seiner Kammer und seines wundervollen Bettes und bog gerade um eine Ecke, als er beinahe mit Frau Lean zusammenstieß. Er wusste gleich, dass er nun gewiss nicht mehr zum Schlafen kommen würde.
Die große, dürre Frau, die ihr dunkles Haar zu einem Dutt zusammengesteckt hatte, musterte ihn herablassend. Sie trug das übliche graue Gewand der ehrenwerten Frauen, das um ihre hagere Gestalt schlotterte wie ein Kartoffelsack.
„Warum hast du dich nicht bei mir gemeldet?“, fragte sie spitz.
„Ich – ich habe verschlafen, ehrenwerte Frau Lean.“, stammelte Thelin und schluckte schnell einen Bissen Brot und Schinken herunter.
„Das ist eine schlechte Entschuldigung. Gut, dafür gibt es eine Strafarbeit. Und du wirst auch gleich damit anfangen. Stall ausmisten! Bloß keine Müdigkeit vorschützen, du fauler Bengel! Und wage es nicht, zum Mittagessen zurückzukehren, wenn du nicht fertig bist!“
Die kleinen Augen der dünnen Frau glänzten boshaft, dann drehte sie sich auf dem Absatz herum und rauschte mit schwankendem Dutt davon.
Thelin ließ niedergeschlagen die Schultern hängen und betrachtete lustlos die Überreste seiner Mahlzeit. Der Appetit war ihm vergangen. Stall ausmisten bedeutete schwere, schweißtreibende Arbeit knietief im Dung der Schweine und Kühe. Es war Frau Leans liebste Strafarbeit und sie legte sie ihm sie mit schöner Regelmäßigkeit auf. Es gab nichts, dass er mehr hasste und gerade heute dachte er voller Grauen an die körperliche Anstrengung und den schrecklichen Geruch. Er befürchtete, sich übergeben zu müssen.
Mit schweren Gliedmaßen und so langsam es nur möglich war, verließ Thelin das Waisenhaus und verrichtete seine Strafarbeit unter größten Mühen. Die Mengen an Mist, die die Tiere im Stall produzierten, erstaunten ihn jedes Mal. An diesem besonderen Tag jedoch war es mehr als jemals zuvor. Seine letzte Strafarbeit musste lange zurück liegen. Tatsächlich überkam ihn gleich mehrfach der Brechreiz und Brot und Schinken landeten fast unverdaut bei den Schweinen. Wieder und wieder verwünschte er die Strenge von Frau Lean. Sooft war es vorgekommen, dass ihm Strafarbeiten auferlegt worden waren und all die Male waren sie mehr oder weniger berechtigt gewesen. Aber heute hatte er nichts dafür gekonnt, jeder konnte doch mal verschlafen.
Vor lauter Arbeit und Magenknurren dachte er nicht über den gestrigen Tag nach. Er machte sich keine Gedanken über Kip und seine Kumpanen, über seinen plötzlich verheilten Fuß und die seltsamen Vorkommnisse, als sein alter Rivale ihm das Gesicht zerschneiden wollte. Tatsächlich hatte Thelin es schon fast vergessen.
Endlich wurden Durst und Hunger zu groß, Mittag war längst vorüber, und er ging zurück ins Haus, dreckig und stinkend wie er war. Sollte Frau Lean ihn doch erwischen, es war ihm gleichgültig. Er konnte die Arbeit nicht machen, wenn er verhungerte und verdurstete.
Sein Weg führte ihn durch die Eingangshalle vorbei an Frau Geldas Kammer. Sie war die Leiterin des Waisenhauses und Thelin verharrte im Schritt. Er sollte sich bei ihr über die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit beschweren, vielleicht kam er dann um den Rest der Strafarbeit herum. Sein Vergehen rechtfertigte doch in keinem Maße die Strafe.
Bevor er aber anklopfen konnte, öffnete sich die Tür und Frau Gelda trat heraus, bepackt mit einem Stapel Pergamente. Ihr Kopf war ganz dahinter verschwunden und es war nur ihr schlanker Körper zu sehen, der in das graue Gewand der ehrenwerten Frauen gehüllt war.
„Thelin, was machst du hier? Und warum riechst du so streng?“, fragte sie hinter dem Wirrwarr aus gerollten und zerknitterten Unterlagen. Es war Thelin schleierhaft, wie sie ihn hatte erkennen können. Er jedenfalls konnte ihr Gesicht nicht sehen.
„Frau Gelda?“, er wollte doch sicher gehen.
Sie nickte und ließ beinahe den größten Teil der Pergamente fallen.
„Ich bin durstig und wollte mir etwas zu trinken holen. Hunger habe ich auch, aber das Mittagessen muss ich irgendwie versäumt haben. Und ich stinke so, weil ich den Stall ausmisten musste!“
„Was hast du angestellt?“
Thelin verdrehte die Augen. „Heute Morgen habe ich wohl leider mein Gespräch mit der ehrenwerten Frau Lean verpasst.“
Die Pergamente vor Frau Geldas Gesicht rutschten etwas nach unten und ihre spitze Nase und die dunklen Augen untern den buschigen grauen Augenbrauen kamen zum Vorschein.
„Du hast es verpasst? Das heißt wohl, du hast verschlafen!“, sie erhob die Stimme ein wenig zum Ende des Satzes.
Thelin antwortete nicht, er zuckte nur ergeben mit den Achseln. Für einfallsreiche Ausreden war er einfach zu erschöpft.
„Also ja? Und deshalb hat Frau Lean dich bestraft? Weil du verschlafen hast?“
„Ja, ehrenwerte Frau Gelda!“, stieß Thelin klagend hervor und jammerte laut über die ungerechte Behandlung.
„Oje, das hört sich aber schlimm an“, sagte die Leiterin des Waisenhauses spöttisch. „Jetzt stell dich mal nicht so an. Sag mir lieber, aus welchem Grund du verschlafen hast.“
Thelin dämmerte, dass sie wohl einen bestimmten Verdacht hegte, der im Zusammenhang mit einigen, vor wenigen Monaten entwendeten Flaschen Apfelschnaps stand. Sofort wies er sie darauf hin, dass es damit nichts zu tun hatte.
„Ach wirklich?“, Frau Gelda schien nicht überzeugt. „Ich erinnere mich sehr gut an dein Jammern von damals. Verschlafen hattest du doch auch, wenn ich mich recht erinnere. Die Strafe war zu damaligen Zeitpunkt mehr als berechtigt. Warum sollte sie es heute nicht sein?“
Thelin biss sich auf die Lippen und dachte angestrengt nach, was ihm am heutigen Tag schwer fiel. Frau Gelda glaubte, dass er wieder einmal zusammen mit seinem Freund Fendo hinter der Mühle heimlich Schnaps getrunken hatte. Das entsprach nicht den Tatsachen, aber wie sollte er die ehrenwerte Frau überzeugen? Ihm blieb nur die Wahrheit. Er erzählte von Kips bösen Absichten und wie er auf so seltsame Weise davon gekommen war. Noch während er sprach, bat Frau Gelda ihn in ihre Kammer und ihre spöttische Miene wich einem ernsthaften Gesichtsausdruck. Achtlos legte sie die Pergamente auf ihren Schreibtisch, wobei mehr als die Hälfte von ihnen zu Boden fielen und sich kreuz und quer verstreuten.
Frau Gelda wies Thelin einen Stuhl und setzte sich selbst auf die Kante des Tisches. Die Hände hatte sie im Schoß gefaltet blickte sie ernst auf ihren Schützling herab, der sich, während er sprach, wieder wie der kleine Junge vorkam, der sooft in dieser Kammer gesessen hatte. Denn seine Geschichte kam ihm lächerlich und kindisch vor und je mehr Worte er verlor, desto unwichtiger erschien ihm das alles. Aber Frau Gelda wollte es dennoch hören, sie unterbrach ihn nicht einmal und ermunterte ihn immer wieder, weiter zu sprechen, wenn er stockte.
Schließlich hatte er geendet und wartete auf ihre Reaktion. Doch sie sagte lange Zeit nichts, saß nur da auf der Kante des Schreibtisches und starrte zur Decke. Dann wandte sie ihren Blick Thelin zu, der ungeduldig auf seinem Stuhl hin und her rutschte.
„Eine seltsame Geschichte, wahrlich! Und du hast keine Erklärung für deinen … Aussetzer?“, fragte sie leise.
„Nein, ehrenwerte Frau Gelda, so etwas ist mir noch nie passiert.“, antwortete Thelin.
Einen kurzen Moment war es, als wollte sie etwas sagen, als hätte sie sehr wohl eine mögliche Erklärung, doch sie schwieg und saß nur schweigend da.
Nach einer Weile seufzte sie. „Ich werde Frau Lean Bescheid geben, dass du für heute von deiner Strafarbeit befreit bist. Ich denke, es ist besser, du ruhst dich aus. Morgen sehen wir weiter.“
„Ja, Frau Gelda, sehr gerne!“, sagte Thelin verblüfft, aber erleichtert. Auf weiteres Ausmisten des Stalles verzichtete er mit Vergnügen.
„Gut, dann geh in deine Kammer und leg dich hin. Du siehst aus, als könntest du ein wenig Schlaf gut gebrauchen.“
„Ja, Frau Gelda, das hat die ehrenwerte Frau Lesdorin auch gemeint!“
„Und die muss es ja schließlich wissen, oder?“, sagte Frau Gelda und lächelte wieder ein wenig.
Thelin verließ nach einem fröhlichen Abschiedsgruß den Raum und sah nicht, wie Frau Geldas Blick ihm sorgenvoll folgte und noch lange auf dem abgewetzten Holz der Tür haften blieb.
Er schlurfte in sein Zimmer und ließ sich voller Erleichterung auf das Bett fallen. Der Schlaf kam über ihn wie ein schwarzes Tuch.

3.
Er erwachte mitten in der Nacht. Dunkelheit lag über der Kammer und nur der fahle Umriss des abnehmenden Mondes lugte zum Fenster hinein. Wenige Schritte entfernt lag Fendo leise schnarchend in seinem Bett.
Thelin fühlte kalten Schweiß auf seinem Gesicht und sein Herz pochte laut und schnell. Ein Traum hatte ihn aus dem Schlaf hochschrecken lassen, doch die Erinnerung daran, war nur noch ein blasser Schemen, den er kaum mehr fassen konnte.
Er hatte sich selbst gesehen, aufrecht stehend inmitten eines flammenden Infernos, überall war Feuer gewesen. Doch er war nicht allein gewesen, ihm gegenüber stand ein hoch gewachsener Mann, gehüllt in dunkle, wallende Kleidung. Sein Gesicht war nur ein Schatten, verborgen unter einer Kapuze. Eine finstere, unheimliche Aura ging von ihm aus und Thelin hatte fürchterliche Angst gehabt. Er konnte sich an sonst nichts erinnern außer an seine Furcht vor der undurchdringlichen Dunkelheit des grässlichen Mannes.
Thelin fiel es schwer, wieder Schlaf zu finden, zu aufgewühlt war sein Inneres. Doch nachdem er sich einige Male von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, schlief er dann wieder ein. Und dieses Mal blieb er von Alpträumen verschont.

4.
Tausende von Meilen entfernt dachte ein dunkler Mann über das nach, was er am gestrigen Tage verspürt hatte. Er war ein mächtiger Zauberer, doch er hielt seine Kräfte vor der Welt verborgen. Niemand wusste von seiner Existenz außer einigen wenigen Auserwählten.
Sein ganzes langes Leben hatte er auf diesen einen bestimmten Moment gelauert und nun war er gekommen.
Dumpfe Enttäuschung machte sich in ihm breit. Nach all den Jahren und Jahrhunderten war er unachtsam geworden. Er war nicht in der Lage gewesen, herauszufinden, wo die Quelle der Erschütterung der Magie gewesen war. Fehler zu machen lag nicht in seiner Natur, aber er konnte das Rad der Zeit nicht zurück drehen.
Sicher wusste er nur, dass der Zirkel der Zauberer der Erschütterung keinerlei Wert beimessen würde, wenn sie sie überhaupt bemerkten. Nur ihre Arroganz war größer als ihre Dummheit. Sie würden einen bitteren Preis dafür zahlen.
Die Finsternis der Nacht war ein willkommener Begleiter des Mannes, der sein Gesicht zum Sternenhimmel erhob. Das blasse Licht des Mondes schien auf sein dünnes Gesicht, aber es erreichte nicht seine Augen, dunkel blieben sie in den Höhlen verborgen.
Bald würde seine Zeit kommen, sein Schatten legte sich bereits über die Welt Nasu.
Der Name des Mannes war Perthulum Mias.

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Tag der Veröffentlichung: 11.08.2009

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