„Wovor hast du Angst, Mäuschen?“, flüsterte Darko.
„Das Heulen… es klingt so verloren, so traurig“, wisperte Danielle. Sie lauschte den Klagelauten, die ihr durch Mark und Bein gingen. Sie konnte es sich nicht erklären, doch plötzlich spürte sie heisse Tränen auf ihren Wangen. Die Tränen rannen ihr über die Wangen und sickerten in Darkos Hemd.
„Du weinst doch nicht etwa? Das sind nur Wölfe, die den Mond anheulen. Sie stellen keine Gefahr dar für dich und die Kinder, Danielle. Sie tun nur, was Wölfe tun.“
Danielles Gefühle überrumpelten sie. Sie konnte sie nicht mehr länger unter Kontrolle halten und begann, leise zu schluchzen. „Ich weiss“, stammelte sie, doch ihre Worte klangen alles andere als überzeugt.
„Sch“, murmelte Darko. „Ganz ruhig, Kleines. Ganz ruhig.“
Er streichelte ihr sanft über den Rücken und murmelte beruhigende Worte in ihr Ohr. Danielle hielt ihn zitternd umklammert. Erst als das Heulen allmählich schwächer wurde, beruhigte sie sich wieder. Schliesslich verstummten die Wölfe gänzlich. Darko hielt Danielle fest, bis ihr letzter Schluchzer verklungen war. Langsam hob sie den Kopf, blickte aus tränennassen Augen zu ihm auf. „Es… es tut mir so leid“, stammelte sie. „Ich… ich weiss nicht, was über mich gekommen ist.“
„Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen“, sagte er rau.
Stumm musterten sie sich, bis Danielle sich schliesslich vorsichtig, aber bestimmt aus Darkos Umarmung löste. Langsam gab er sie frei.
Danielle trat einen Schritt zurück und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. „Wie albern von mir“, murmelte sie beschämt.
„Tränen sind nie albern.“ Darko sah Danielle bedeutungsvoll an. „Sie fliessen nie ohne Grund.“
Danielle blinzelte, einerseits um ihre Tränen zu vertreiben, anderseits aus Verlegenheit.
„Tränen“, fuhr Darko dunkel fort, „sind auch ein Mittel der Kommunikation.“
Als er einen Schritt auf sie zutrat und sie durchdringend musterte, wich Danielle instinktiv zurück. Darko trat unbeirrt auf sie zu. Sie wich zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stiess. Erschrocken keuchte sie auf.
Darko legte seine Hände neben ihre Schultern an die Wand. Danielle konnte seine Körperwärme spüren, als er so dicht vor ihr stand, dass er sie beinahe berührte. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können.
„Weisst du, welchen Wunsch weibliche Tränen bei einem Mann auslösen?“
Danielles Augen weiteten sich, blickten Darko fragend und ungläubig zugleich an.
„Den Wunsch, einer Frau Trost und Geborgenheit zu schenken.“
Danielle blinzelte.
„Doch nicht nur das“, fuhr Darko mit kehliger Stimme fort. „Die Tränen einer Frau betonen ihre Weiblichkeit, ihre Verletzlichkeit. Sie führen einem Mann seine Stärke nur allzu deutlich vor Augen. Weibliche Tränen lassen ihn sich kräftig und viril fühlen und wecken ihn ihm den Wunsch, seine Stärke zu teilen. Er möchte seine Angebetete seine Kraft spüren lassen, möchte ihr einen Teil von sich geben.“
Danielle keuchte leise auf. Ihre Brust hob und senkte sich schwer, als sie flüsternd einwandte: „Ich weiss nicht, ob das für alle Männer gilt.“
Darko umfing ihren Hals mit der Hand. „Es gilt für mich, Danielle. Es gilt für mich.“
Danielle stand am Kochherd, die Stirn in sorgenvolle Falten gelegt, während sie aus dem Fenster ins Schneegestöber blickte. Den Kartoffeleintopf, der auf dem Herd köchelte, hatte sie völlig vergessen. Ihre Gedanken kreisten unentwegt um ihre Vorräte. Danielle ging stets von neuem durch, welche Esswaren sich noch in der Vorratskammer befanden, erstellte in Gedanken eine Liste mit den verbliebenen Vorräten und wiederholte diese unablässig Punkt für Punkt, als würde sie durch Repetition an Länge gewinnen. Das Problem aber war, dass Danielles mentale Liste sehr kurz war. Viel zu kurz, um sie und ihre beiden Töchter durch die Wintermonate zu bringen.
Danielle starrte den fallenden Schnee feindselig an. Die Schneeflocken liessen sich von ihrer Missgunst jedoch nicht beeindrucken. Sie tanzten munter weiter, wie in den vergangenen Novemberwochen.
Danielle stützte sich mit den Händen auf der Anrichte ab, lehnte sich leicht nach vorn, als würde sie von einer schweren Last gebeugt, und schloss resigniert die Augen.
Wie hatte sie nur so dumm sein können! Wie hatte sie bloss so unüberlegt handeln können, so naiv, so blauäugig. Als sie anfangs November wie jeden Monat nach Domens gefahren war, um sich für die kommenden vier Wochen mit Vorräten einzudecken, hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie zu einer Gefangenen des Feuerbergs werden würde, zu einer Gefangenen eines kalten, weissen Meeres. Aber genau so war es gekommen.
Am dritten November hatte der Schnee eingesetzt. Anfangs hatten sie und die Kinder sich noch darüber gefreut, hatten die tanzenden Flocken begeistert beobachtet, hatten draussen am Hang im Schnee gespielt, Schneeballschlachten gemacht und Schneemänner gebaut. Doch dann, als der weisse Vorhang undurchdringbar und zu ihrem täglichen Begleiter geworden war, hatte ihre Freude am Schnee schon bald nachgelassen. Die Kinder hatten sich nach schönem Wetter gesehnt, nach Sonnenstrahlen, die sie draussen beim Spielen wärmten. Danielle hatte inständig gehofft, dass der Schnee schmelzen und den Felsenpfad freigeben würde, jenen schmalen Pfad, eingekeilt zwischen hohen, steilen Felsen, der ihre einzige Verbindung zur Aussenwelt bildete. Danielle erkannte jedoch schnell, dass ihre Hoffnungen vergeblich waren. Warum auch sollte der Schnee schmelzen, jetzt, wo der Winter erst richtig Einzug gehalten hatte?
Danielle erinnerte sich wieder daran, wie erregt ihre Mutter und ihre Schwester gewesen waren, als sie ihnen von ihren Plänen erzählt hatte: Danielle? Das ist doch nicht dein Ernst? Du willst doch nicht den Winter auf dem Feuerberg verbringen? Du willst doch nicht im Niemandsland überwintern? Weisst du eigentlich, auf welcher Höhe diese Alpen liegen? Danielle, du bist doch verrückt!
Aber Danielle hatte sich nicht beirren lassen. Sie hatte ihre Entscheidung schon Wochen vor dem Gespräch mit ihrer Familie gefällt. Als sie im August dann auf den Feuerberg gezogen war, war für sie bereits festgestanden, dass sie auch die Wintermonate in den Bergen verbringen würde. Natürlich war ihr bewusst gewesen, dass der Winter hart sein würde, doch davon hatte sie sich nicht abschrecken lassen. Sie hatte fest damit gerechnet, dass sie auch im Winter Monat für Monat nach Domens fahren können würde, um sich mit den nötigen Vorräten einzudecken. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass der Felsenpfad unter einer zwei Meter hohen Schneedecke versinken könnte und sie damit zu einer Gefangenen des Feuerbergs machen könnte.
Danielle stöhnte innerlich auf, als sie in die Gegenwart zurückkehrte. Wie sollte es nun weitergehen? Schnee, nichts als Schnee, soweit das Auge reichte. Im Sommer, als sie mit Emma und Louise hierhergezogen war, hatte sich die Natur noch in einem ganz anderen Kleid gezeigt. Der steile Berghang, an dem ihr Haus lag, war in einem saftigen Grün erstrahlt, hatte mit fröhlichen Büschen und starken Bäumen geprahlt. Die Sonne hatte den Feuerberg in warmes Licht getaucht und der Wald, der rechts von Danielles Haus lag, hatte einen angenehm kühlen Rückzugsort von der gleissenden Sonne versprochen. Die Berge, die an der Seite des Feuerbergs in den Himmel schossen, hatten eine würdevolle Ruhe und eine behagliche Stille ausgestrahlt.
Inzwischen aber hatte die Natur das grüne Kleid des Lebens abgestreift. Der Feuerberg war samt seiner Büsche und Bäume vom Schnee verschluckt worden, der die Wildnis nun mit kalter Hand regierte. Das neue Landschaftsbild erschien Danielle fremd und bedrohlich. Die wärmende Sonne war verschwunden, der Wald schien sich ihrem Haus drohend entgegenzuneigen und die Berge machten den Eindruck, als wollten sie das Haus mitsamt seinen Bewohnern verschlingen.
Danielle fühlte sich in die Enge getrieben wie ein gejagtes Reh. Die Natur hatte sich um sie geschlossen und hielt sie in eiserner Faust umklammert. Ein Entkommen gab es nicht.
Danielle seufzte verzweifelt.
Hätte sie auf ihre Mutter und ihre Schwester hören sollen? Die beiden waren ja nicht die Einzigen gewesen, die sie gewarnt hatten. Danielles Gedanken wanderten Widerwillen zu ihrem unsympathischen Nachbarn, der ihr unmissverständlich klar gemacht hatte, was sie seiner Meinung nach tun sollte.
Eigentlich war sie ja hierhergezogen, um Ruhe und Einsamkeit zu geniessen. Nun gut, hier oben gab es beides in Hülle und Fülle, dennoch war sie nicht ganz so einsam, wie sie es sich vorgestellt hatte. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, an einem so verlassenen Ort wie dem Feuerberg Nachbarn zu haben. Sie war stets davon ausgegangen, dass alle Bewohner des Feuerbergs diesen Anfang des 20. Jahrhunderts verlassen hatten, damals, als das berüchtigte grosse Feuer das ganze Bergdorf verschlungen hatte. Jetzt, über ein Jahrhundert später, hatte sie sich in die Fussstapfen ihrer Vorfahren gemacht und war auf den Feuerberg zurückgekehrt, war in eines der wenigen Häuser gezogen, die damals vom Feuer verschont geblieben waren.
Sie hatte schnell erkannt, dass sie nicht die Einzige war, die sich in die wilde Natur zurückgezogen hatte: Neben ihrem Haus gab es hier noch vier weitere Steinhäuser, die sich vor hundert Jahren im Kampf gegen die Flammen hatten behaupten können. Die vier Bauten legten sich wie ein vierzackiger Stern um ihr eigenes Haus. Danielle hatte fest damit gerechnet, dass sie allesamt leer stehen würden, genau wie vor vielen Jahren, als sie hier oben einst die Sommerferien verbracht hatte. Was für eine Überraschung, als sie erfahren hatte, dass drei der vier Häuser bewohnt waren. Im Haus zu ihrer linken, das unweit des Felsenpfades lag, wohnten die Zwillinge Jimmy und Ricky, zwei ungepflegte, übelriechende Männer Mitte Dreissig. Die Zwillinge konnten ihr Aussehen nicht mit ihrem Charakter wettmachen. Sie waren selbstsüchtig, schmierig und egozentrisch. Nach Danielles Einzug auf dem Feuerberg hatten sie sich ihr gegenüber zwar betont freundlich gegeben, doch Danielle hatte sofort gespürt, dass diese Freundlichkeit nur fingiert war. Die Zwillinge waren nur deshalb mit einem schmierig freundlichen Lächeln um ihr Haus gestrichen, weil sie die einzige Frau in dieser Handvoll Häuser im Niemandsland war.
Die zackenförmige Häuseransammlung lag 1550 Meter über Meer, zwei Stunden vom nächstgelegenen Dorf entfernt, einer Zweihundert-Seelen-Siedlung namens Domens. Domens war für die Bewohner des Feuerbergs ein Synonym für die Zivilisation schlechthin, so ähnlich wie etwa New York für die Städter.
Als einzige Frau auf dem Feuerberg hatte Danielle die Aufmerksamkeit der Zwillinge zwangsläufig auf sich gelenkt. Ricky und Jimmy waren um ihr Haus gestrichen wie Hyänen, hatten ihr beinahe täglich Hilfe bei Garten- oder Hausarbeiten angeboten und ihr zahlreiche Geschenke gemacht, darunter hausgemachtes Brot, Kekse oder Kuchen. Die Backkünste der Zwillinge waren jedoch so beschränkt, dass Danielle und ihre Töchter sich nicht dazu gezwungen hatten, die verbrannten und geschmacklosen Esswaren hinunterzuwürgen.
Danielle bekam nun plötzlich ein schlechtes Gewissen. Vielleicht war der unendliche Schneefall eine Bestrafung dafür, dass sie den Esswaren der Zwillinge keine Wertschätzung entgegengebracht hatte. Vielleicht sollte sie deshalb Hunger leiden müssen.
In ein bis zwei Wochen würden ihre sämtliche Vorräte zu Ende sein. Falls die Zwillinge ihr in vierzehn Tagen noch immer Gebäck schenken würden, würden sie und die Kinder sich darauf stürzen wie auf frische Croissants. Nur blöd, dass der Geschenkfluss der Zwillinge bereits jetzt, wo sie Nahrungsmittel so dringend nötig gehabt hätte, versiegt war. Jimmy und Ricky mussten wohl eingesehen haben, dass sie ihre, Danielles, Gunst weder mit Keksen noch anderen Backwaren auf sich lenken konnten. Als die ersten Schneeflocken gefallen waren, hatten sich die Zwillinge plötzlich in ihrem Haus verkrochen wie Dachse im Bau. Seither hatte Danielle nicht mehr viel von ihnen gehört.
Wie also sollte es jetzt weitergehen? Wenn sie bloss weiterhin kummervoll auf weisse Bergspitzen starrte, würde sie Mitte Dezember dem Hungertod erliegen. Danielle vergrub das Gesicht in den Händen und stöhnte gequält auf.
Wenn es so weiter schneien würde wie bisher, worauf sie Gift nehmen konnte, wäre sie unweigerlich auf die Hilfe ihrer Nachbarn angewiesen. Ihre Vorräte neigten sich dem Ende zu und es gab keinen Weg, sich neue zu beschaffen. Dass sie sich Hilfe erbitten musste, stand also fest. Die grosse Frage aber war: Bei wem? An wen sollte sie sich wenden?
Sie hatte drei Nachbarn: Die schmierigen Zwillinge zu ihrer linken, den misstrauischen Einsiedler am Hang über ihr, der noch kein Wort mit ihr gewechselt hatte und den arroganten Mistkerl zu ihrer rechten, der sie am liebsten eigenhändig zurück ins Tal befördert hätte, kaum dass sie auf dem Feuerberg Fuss gefasst hatte.
Danielle hatte also die Qual der Wahl. Nur schon der blosse Gedanke daran, sich an die Zwillinge zu wenden, verursachte ihr Übelkeit. Sie sah die beiden mit ihrem fettigen, verfilzten Haar und der schmutzig grauen Haut vor sich und konnte sich einfach nicht vorstellen, auch nur einen Schritt in die Richtung ihrer verkommenen Hütte zu machen.
Der alte Einsiedler, der am Hang über ihr wohnte, schied ebenfalls aus. Er hatte ihre Grussworte nie erwidert, nie auch nur ein einziges „Hallo“ an sie gerichtet. Wann immer sie ihm über den Weg gelaufen war, hatte er sie nur misstrauisch angestarrt, unverhohlene Ablehnung in den Augen. Nicht gerade optimale Voraussetzungen für den Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Damit blieb nur noch einer übrig, nämlich der arrogante Mistkerl zu ihrer rechten, dessen Haus sich zwischen den ersten Bäumen des Waldes versteckte. Nur schon der Gedanke an diesen Mann liess Danielle vor Wut erzittern. Sie ballte eine Hand zur Faust und starrte feindselig aus dem Fenster, als würde Darko Coda davorstehen und in ihre Küche spähen. Danielles Wangen überzogen sich noch jetzt mit Zornesröte, wenn sie an das erste und einzige Gespräch zurückdachte, das sie bei ihrer Ankunft in den Bergen mit Darko Coda geführt hatte. Danielle kehrte in Gedanken an jenen Augusttag zurück, an dem sie Darko zum ersten Mal gesehen hatte…
Danielle stand am Kochherd, wo sie das Abendessen für die Mädchen zubereitete. Sie trug ein leises Lächeln auf den Lippen, beschwingt darüber, den Schritt in die Berge gewagt zu haben. Nach ihrer Scheidung von Roger plante sie, die nächsten Monate hier oben zu verbringen, bis sie wusste, wie sie ihre Zukunft gestalten wollte.
Der August war auch in den Alpen angenehm mild. Danielle trug dem Wetter entsprechend ein azurblaues Sommerkleid. Sie stand barfuss am Kochherd, wo sie den Risotto überwachte, der friedlich vor sich hin köchelte.
Danielle zuckte zusammen, als die Haustür mit einem lauten Quietschen aufgestossen wurde. Ihre Töchter kehrten gerade rechtzeitig vom Spielen zurück, um den Tisch zu decken. Danielle wollte ihnen schon zurufen, doch bitte in die Küche zu kommen, als sie plötzlich erstarrte. Der Korridor erzitterte unter schweren, erregten Schritten, die zweifelsohne weder von Emma noch Louise stammen konnten. Danielle spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Sie wirbelte genau in dem Moment herum, als ein Fremder in die Küche stapfte. Danielle riss die Augen weit auf und schnappte hörbar nach Luft. Der Anblick des grossen, muskulösen Unbekannten jagte ihr einen furchtvollen Schauder über den Rücken. Wer war er? Waren die Zwillinge und sie etwa nicht die einzigen Bewohner des Feuerberges? War es möglich, dass der Unbekannte mit der grimmigen Miene und dem einschüchternden Körperbau auch hier oben hauste?
Atemlos starrte sie den Mann an, der unaufgefordert in ihre Küche geplatzt war. Er musste den Schrecken in ihren Augen erkannt haben, doch wenn sie damit gerechnet hatte, eine Erklärung oder gar ein Wort der Entschuldigung aus seinem Mund zu hören, so hatte sie sich gründlich getäuscht. Später sollte sie erkennen, dass ein Mann wie Darko Coda sich nie für sein Handeln entschuldigte. In diesem Moment aber, wo sie noch nicht einmal seinen Namen, geschweige denn seinen Charakter kannte, starrte sie ihn einfach nur ängstlich an.
Er erwiderte ihren Blick ohne mit der Wimper zu zucken und näherte sich ihr in grossen, entschiedenen Schritten. Danielle wollte instinktiv zurückweichen, prallte dabei jedoch nur gegen den Herd. Sie wich vom Herd zur Anrichte und umklammerte diese haltsuchend, als fürchte sie, der Boden könne jeden Moment unter ihr nachgeben. Diese Befürchtung war nicht ganz unbegründet, wenn man bedachte, wie der Küchenboden unter der muskulösen Körpermasse des erregten Fremden erzitterte.
Plötzlich stand er so dicht vor ihr, dass sich ihre Körper beinahe berührten. Danielle sog ängstlich die Luft ein. Sie wusste, dass sie etwas sagen sollte, ihn wütend anfahren sollte, was er sich eigentlich dabei dachte, hier wie ein Elefant im Porzellanladen rein zu trampeln und ihm befehlen sollte, sich zum Teufel zu scheren. Doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Kein Wort kam über ihre Lippen. Alles, was sie tun konnte, als er die Arme in die Hüften stemmte und sie gefährlich wütend anfunkelte, war, den Kopf in den Nacken zu legen und seinen eisblauen Blick zu erwidern.
Danielle konnte die Hitze, die sein Körper ausstrahlte, deutlich spüren. Ebenso spürte sie das erregte Vibrieren, das von seinem Körper ausging. Was war bloss los mit dem Mann? Wer war er und was wollte er von ihr? Wohnte er auch hier oben und war nun hergekommen, um sich über ihre Töchter zu beschweren? Hatten ihre ahnungslosen Kinder vielleicht einen Schneemann auf seinem Grundstück gebaut?
„Ich hoffe nur, ihr verschwindet hier so schnell wieder, wie ihr gekommen seid.“
„Wa… Was?“
Danielle starrte den Mann vor ihr baff an, im festen Glauben, sich verhört zu haben. Das bedrohliche Funkeln seiner eisblauen Augen belehrte sie jedoch eines Besseren. Danielle schluckte schwer.
Der Fremde überragte sie um mindestens zwei Köpfe. Seine breite, kräftige Statur schüchterte Danielle wider Willen ein. Sie verspürte den Drang, auf der Stelle aus der Küche zu fliehen. Doch dazu hätte sie den Eindringling von sich schieben müssen. Eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass er bei ihrem Befreiungsversuch keinen Zentimeter von der Stelle weichen würde.
Danielle musterte ihn ängstlich und unsicher, sah ihn zum ersten Mal richtig an. Seine Haut war braungebrannt, er hatte kurzes schwarzes Haar und seine eisblauen Augen… Nun, die waren ihr bereits aufgefallen. Unnötig zu erwähnen, dass sein Blick alles andere als warm und freundschaftlich war. So, wie er sie anblickte, hätte man meinen können, sie hätte sich mit dem Einzug auf dem Feuerberg eines Kapitalverbrechens schuldig gemacht.
„Wann reist ihr wieder ab?“
Danielle rann ein Schauer über den Rücken beim Klang seiner kalten Stimme.
„Ab…abreisen? Wovon spre… wovon sprechen Sie eigentlich?“
Ihre braunen Augen weiteten sich. Furchtvoll und verständnislos blickte sie zu dem Unbekannten auf. Der Fremde brach den Blickkontakt plötzlich ab, liess seine Augen stattdessen über ihren Körper schweifen. Er musterte das azurblaue Kleid mit den weissen Punkten, dessen Saum fröhlich ihre Knie umspielte, wann immer sie sich bewegte. Die Augen des Fremden legten sich auf den tiefen, V-förmigen Ausschnitt, der sich zwischen dem Tal ihrer Brüste hindurch schlängelte. Da sein eindringliches Starren sie nervös machte, hoben und senkten sich ihre Brüste unruhig unter dem weichen Stoff.
Der Fremde starrte auf ihre Brüste, als würden die weichen Halbkugeln seinen Blick magisch anziehen. Plötzlich stiess er einen derben Fluch aus, bei dem Danielle erschrocken zusammenzuckte.
Er hob den Kopf und blickte ihr wieder in die Augen, warf ihr einen solch abschätzigen Blick zu, dass sich ihr Herz kummervoll zusammenzog.
Wenn sie ihm nicht gefiel, war das noch lange kein Grund dafür, sie so respektlos zu behandeln!
In diesem Moment wusste Danielle nicht, was schlimmer war: Die vorgetäuschte Höflichkeit der Zwillinge oder die unverhohlene Ablehnung des Unbekannten, der sie mit einer solchen Abscheu musterte, dass ihr unheimlich zumute wurde. Das Erscheinungsbild des Fremden war dem der Zwillinge jedoch eindeutig vorzuziehen. Frisch gewaschene Jeans schmiegten sich eng an seine langen Beine und ein dunkelblaues Hemd spannte sich über seine breite Brust, betonte das Blau seiner Augen noch.
Danielle atmete tief ein, um ihre angespannten Nerven zu beruhigen. Dabei stieg ihr der Geruch des Fremden in die Nase, sie sog ihn geradezu in sich auf. Er roch nach einem herben Duschgel, nach Holz und frischem Schweiss. Diese männliche Duftmischung stieg Danielle in die Nase und benebelte sekundenlang ihre Sinne. Danielle erklärte sich ihre Sinnesverwirrung damit, dass sie schon lange keinem Mann mehr so nahe gestanden hatte wie dem Fremden, der ihr seine Nähe gegen ihren Willen aufdrängte. Ihr Verstand hatte sich nur deshalb sekundenlang ausgeklinkt, weil sie seit einem Jahr keinem Mann mehr so nahe gekommen war wie diesem unverschämten Ruhestörer.
„Ich habe dir eine simple Frage gestellt, verdammt! Wie wär’s mit einer einfachen Antwort?“, grollte der Fremde.
Danielles Mund klappte auf. Sie war sich weder diesen Ton, noch diese herrische Haltung gewohnt. Roger hatte sich zwar immer für den einzig wahren Mann auf Erden gehalten, doch hatte er diese Attitüde hinter so viel Charme und süssen Worten zu verstecken gewusst, dass ihm alle Mitmenschen seine Egozentrik vergeben hatten. Zumindest alle Frauen, sie selbst eingeschlossen. Acht lange Jahre hatte sie Roger angehimmelt wie ein kopfloses Huhn. Doch damit war nun endgültig Schluss.
Der Fremde, so viel stand fest, dachte nicht im Traum daran, jemanden mit Charme und süssen Worten zu bezirzen.
„Was ist? Hat’s dir die Sprache verschlagen, oder was?“
Danielle schluckte. Sie versuchte, tief durchzuatmen. Nachdem sie während der vergangenen acht Jahre in den obersten Kreisen der Gesellschaft verkehrt war, kam es ihr so vor, als hätte man sie nun in den Kerker der gesellschaftlichen Rangordnung verbannt. Eine Ausdrucksweise wie der Eindringling sie pflegte, wäre in Diplomatenkreisen undenkbar.
„Hören Sie“, knurrte sie mit mühsam unterdrücktem Zorn. „Ich weiss nicht, woher sie die Frechheit nehmen, in einem solchen Ton mit mir zu sprechen. Ich weiss nicht, woher Sie sich das Recht nehmen, sich mir in meiner eigenen Küche aufzudrängen. Ich kann mir Ihre Respektlosigkeit und Ihren fehlenden Anstand nicht erklären. Wenn Sie aber – und davon gehe ich aus – aus der Gegend sind und auch auf dem Feuerberg wohnen, bin ich bereit, ihr Verhalten wider besseres Wissens zu ignorieren und zu Gunsten eines friedlichen Zusammenlebens noch einmal ein Auge zuzudrücken. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir versuchen sollten, einander mit nachbarschaftlicher Freundlichkeit und dem gebührenden Respekt gegenüberzutreten.“
Er starrte sie an, als hätte sie ihn gefragt, ob sie ihn huckepack nehmen sollte.
„Verdammt nochmal, Mädchen“, knurrte er, worauf Danielle der Kinnladen hinunterklappte.
Hatte er sie gerade Mädchen genannt? Gut, sie war noch keine dreissig, aber Mädchen? Spätestens seit sie Roger mit süssen zwanzig geheiratet hatte, hatte sie niemand mehr Mädchen genannt. Genau genommen hatte sie seit ihrem zwölften Geburtstag niemand mehr Mädchen gerufen.
„Ich pfeife auf Nachbarschaft, kapiert? Falls du hier oben auf der Suche nach Zweisamkeit bist, dann wende dich einfach an die Zwillinge. Ich wette, die beiden würden nur schon beim Gedanken an ein nettes Plauderstündchen mit dir ganz hart werden vor Freude.“
Danielle gab einen unterdrückten Aufschrei von sich. Kreideweiss vor Entrüstung stürzte sie sich auf den Fremden. Sie packte seine Schultern im festen Entschluss, ihn auf der Stelle aus ihrer Küche, aus ihrem Haus und aus ihrem Garten zu befördern. Doch ihre Bemühungen waren vergeblich: Wie sie zuvor befürchtet hatte, liess sich sein harter Körper keinen Millimeter von der Stelle bewegen.
Der Unbekannte nahm ihren Wutausbruch ungerührt hin, umfasste ihre Handgelenke ohne jede Hast und wischte ihre Hände von seinem Körper wie zwei lästige Fliegen. Scheinbar ohne jede Anstrengung verschränkte er ihre Arme auf dem Rücken und hielt ihre Handgelenke mit einer Hand sicher umklammert.
Nun war ihm ihr Oberkörper schutzlos ausgeliefert. Danielle keuchte erschrocken auf, als der Fremde seine Beine spreizte und ihre Schenkel zwischen den seinen gefangen nahm. Er beugte sich leicht über sie, so dass ihre Oberkörper sich berührten.
Danielle versuchte zurückzuweichen, bog den Rücken durch und lehnte sich zurück, im vergeblichen Versuch, den Körperkontakt zu vermeiden. Er lehnte sich nur weiter vor, lehnte sich mit ihr über die Anrichte, wobei sein freier Arm ihren Rücken umschlang und sie fest an sich presste.
Es gab kein Entkommen. Danielles Augen wurden gross vor Schreck, als sie seinen harten, muskulösen Oberkörper an ihren weichen Brüsten spürte. Sie blinzelte benommen, als sie seine Kraft und die mühsam beherrschte Energie fühlte, die sich in seinem Körper versteckten und nur darauf warteten, freigesetzt zu werden.
„Ni… Nicht, bitte“, flüsterte Danielle, als sie halb über der Anrichte lag, er über ihr.
Er schenkte ihr ein wütendes Funkeln, richtete sich dann aber überraschenderweise gerade auf und zog sie mit sich. Nun schwebte sie zwar nicht mehr über der Anrichte, wurde jedoch in einer festen Umklammerung eng an seine Brust gepresst.
„Lassen Sie mich los.“ Ihre Stimme hätte fest und befehlend klingen sollen, doch sie brachte nur ein krächzendes Flüstern zustande.
„Sonst was?“
Danielles Lider flatterten nervös, als sie realisierte, dass sie ganz auf sich allein gestellt war. Hier oben gab es keine Polizei, die zu ihrer Rettung eilen würde, keine Passanten, die ihre Schreie hören würden. Danielles Handflächen wurden feucht, ihr Herz klopfte wie wild.
Wo waren bloss die Kinder? Wenn doch nur die Kinder hier wären! Wo immer sie auch steckten, sie hatten wohl keine Ahnung, in welch bedrohlicher Situation sich ihre Mutter gerade befand.
Als der Fremde seinen Mund an ihr Ohr senkte, zuckte Danielle erschrocken zusammen.
„Ich könnte alles mit dir machen. Alles, was ich will. Verstehst du?“
Danielle stiess einen spitzen Schrei aus. Dieser Mann verhielt sich nicht nur despektierlich und aufdringlich, er war auch noch gefährlich!
Danielle warf sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen den Eindringling, trat nach ihm und versuchte, ihn in den Arm zu beissen.
Er taumelte zwar, fing ihr Gewicht jedoch mühelos ab. Ihren Beinen und ihrem Mund wich er geschickt aus. Er verstärkte den Griff um sie, seine Arme umschlossen sie nun ungnädig wie Zangen. Seine eiskalte Umarmung drückte ihr beinahe die Luft ab. Danielle keuchte schwer.
„Ich kann nicht atmen! Bitte, ich kriege keine Luft!“
Er löste seinen Griff unmerklich, gerade so weit, dass Danielle ungehindert atmen konnte.
Sie schnappte keuchend Luft. Ihr Busen hob und senkte sich schwer am Oberkörper des Fremden, was seine Aufmerksamkeit sekundenlang auf ihre Brust lenkte. Er starrte auf ihren Ausschnitt, ein undefinierbares Funkeln in den Augen.
„Ich will, dass Sie gehen! Verlassen Sie mein Haus“, flüsterte Danielle und schalt sich sogleich für ihre gebrechliche Stimme.
Er rührte sich nicht. „Verlassen Sie meine Küche, mein Haus. Jetzt sofort!“, forderte Danielle mit erstickter Stimme. So sehr sie es auch versuchte, sie konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen traten.
„Du willst, dass ich gehe?“
Sie nickte heftig.
„Ich will, dass du gehst“, sprach er kalt.
„Aber… ich versteh nicht.“ Danielle schüttelte verzweifelt den Kopf. „Was habe ich Ihnen getan? Ich habe Ihnen nichts zuleide getan. Das hier ist mein Haus! Es befindet sich schon seit Generationen in meiner Familie. Ich besitze jedes Recht, hier zu sein! Ich kann mir einfach keinen Reim auf Ihre Ablehnung machen.“
Er verzog verächtlich einen Mundwinkel. „Brauchst du wirklich eine verdammte Erklärung?“
Ja, die brauchte sie. Sie verstand ihn nicht, verstand kein Wort von dem, was er sagte, von dem, was er verlangte. Er wollte sie loswerden? Wieso? Was konnte ihn bloss an ihrer Gegenwart stören? Fragend und durcheinander blickte sie zu ihm auf.
Er seufzte tief und schwer, als müsse er einem Kind das Einmaleins erklären.
„Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, Mädchen. Hier oben wohnt niemand. Niemand ausser einer Handvoll Männer.“
„Das weiss ich.“
„Also?“
„Also, was?“ Verständnislos blickte sie zu ihm auf.
„Wie deutlich muss ich noch werden?“, rief er verärgert aus. „Das Leben hier oben ist nichts für eine Frau. Schon gar nicht für eine Frau mit Kindern. Erst recht nicht für eine Frau mit zwei Töchtern. Sag mir einfach, dass du hier nur zwei Wochen Ferien machst und ich löse mich in Luft auf.“
Abwartend starrte er sie an, die Augenbrauen herausfordernd gehoben.
Machte er sich vielleicht Sorgen um sie? Dann hatte er eine sehr merkwürdige Art, sich auszudrücken.
„Wir werden uns hier häuslich niederlassen“, erklärte Danielle entschieden.
Als sie seinen perplexen Gesichtsausdruck sah, ergänzte sie spitz: „Damit meine ich, dass wir hier wohnen werden.“
Sein Gesicht wurde so dunkel, als würde es von einer schweren Gewitterwolke überzogen.
„Aber ich weiss Ihre… Sorge um mich… um uns...zu schätzen“, fügte Danielle rasch hinzu. Wenn schon nicht mit Körperkraft, so konnte sie ihn vielleicht mit widerwilliger Dankbarkeit dazu bringen, ihr Haus endlich zu verlassen. Doch statt dass sie ihn besänftigt hätte, brachte sie ihn nur noch mehr auf. Sein Körper spannte sich an wie eine Bogensehne. Danielle konnte spüren, wie seine Brust an der ihren vibrierte.
„Du verarschst mich doch, oder?“
Danielle blinzelte benommen angesichts seiner rüden Wortwahl. Eine solche Redeweise war sie sich einfach nicht gewohnt. Vielleicht meinte er es ja gar nicht unhöflich, versuchte sie das Verhalten des Fremden zu entschuldigen. Vielleicht lag es einfach in seiner ungebildeten Natur, sich so auszudrücken.
„Nein, bestimmt nicht“, sagte sie hastig. „Wir werden hier oben bleiben.“
Nach ihrer achtjährigen Ehe mit Roger, einem Reinfall sondergleichen, wollte sie endlich einmal etwas richtig machen. Hier oben in den Bergen Wurzeln schlagen, Zeit für sich zu haben, Zeit zum Nachdenken, das schien ihr genau das Richtige.
„Das Leben hier oben ist nichts für eine Frau. Hast du dir das nie überlegt?“
Langsam aber sicher wurde Danielle wütend. Was dachte sich dieser Mann eigentlich dabei, hier in ihre Küche zu platzen, sich ihrer zu bemächtigen und ihr seine Ansichten aufzudrängen?
„Das ist Ihre Meinung!“, rief Danielle wütend aus, erfreut darüber, dass ihre Stimme wieder an Festigkeit gewonnen hatte. „Die muss ich nicht teilen! Und jetzt fordere ich Sie zum letzten Mal auf,…“
„Nein, du musst meine Meinung nicht teilen. Aber sie werden dich teilen.“
Jetzt redete er auch schon wirr. Wieso war sie nicht gleich auf den Gedanken gekommen, dass bei ihm etwas nicht stimmte?
Sie versuchte es auf eine andere Art. „Hören Sie, es war sehr nett von Ihnen, bei mir vorbeizu…“
„Worauf glaubst du wohl, sind die Zwillinge seit Tagen aus? Sie wollen dich in ihr Bett kriegen, und zwar alle beide. Du solltest besser von hier verschwinden, solange du noch kannst. Dies hier ist nicht die Schweizer Botschaft in China, Mädchen. Das hier ist die ungezähmte Wildnis mit ihren rauen Bergen. Die Männer hier sind genauso ungnädig wie die Natur. Was sie wollen, das nehmen sie sich.“
Danielle erzitterte in den Armen des Unbekannten. Es war jedoch nicht seine Warnung, die ihr Angst einflösste, sondern die Tatsache, dass dieser Rohling, der sie in einer erzwungenen Umarmung hielt, über ihre Vergangenheit im Bilde war.
Blass starrte sie zu ihm auf. „Wer sind Sie?“, hauchte sie entsetzt. „Woher wissen Sie…“
Sie brach ab. Er wusste bestimmt nur zu gut, was sie ihn fragen wollte.
„Coda.“
Verständnislos blickte sie ihn an.
„Mein Name ist Darko Coda. Ja, ich weiss von dir. Ich mache es zu meiner Aufgabe, die Leute um mich herum zu kennen.“
„Sie haben mich… ausspioniert“, flüsterte Danielle perplex.
Er lachte rau auf. „Ausspioniert? In jedem Klatschheft finden sich mindestens zwei Seiten über dich und deine glanzvolle Ehe an der Seite von Roger Krebs, gegenwärtiger Vertreter der Schweizer Botschaft in China. Über den Grund eurer glanzlosen Scheidung kursieren die wildesten Gerüchte.“
Darkos eisblaue Augen gruben sich tief in Danielles. „Du bist doch bestimmt bestens darüber informiert? Manche sagen, Krebs sei impotent. Andere vermuten, du hättest es ihm nicht besorgen können.“
Ein entsetztes Stöhnen löste sich aus Danielles Kehle.
„Wieder andere vermuten, du hättest einen 20-jährigen Lover gehabt.“
Das stand in den Klatschheften? Diesen Schwachsinn konnte jedermann lesen?
Danielle spürte, wie ihre Beine unter ihr nachzugeben drohten. Darko bemerkte es ebenfalls und umschlang sie fest. Diesmal liess sie sich willenlos gegen seine breite Brust fallen. Ehe sie wusste, was sie tat, vergrub Danielle ihr Gesicht in Darkos Hemd. Einerseits um ihre Schamesröte vor ihm zu verbergen, andererseits im hilflosen Versuch, sich für die ganze Welt unsichtbar zu machen.
Sie war auf den Feuerberg gezogen, um im Niemandsland ihrer gescheiterten Ehe zu entfliehen. Aber kaum zwei Tage in den Bergen, wurde sie bereits wieder mit ihrer Vergangenheit konfrontiert.
„Ich frage mich, ob da was Wahres dran ist“, hörte sie Darko murmeln.
Danielle hörte seine Worte kaum. Sie war gefangen in den unliebsamen Erinnerungen einer gescheiterten Ehe. Den Kopf noch immer an Darkos Brust vergraben, holte sie tief Luft, um sich zu beruhigen. Dabei stieg ihr einmal mehr Darkos Geruch in die Nase, ein herb-salziger Duft, der Darkos augenscheinliche Virilität noch untermalte. Wieder benebelte sein Duft ihre Sinne, schaltete ihren Verstand sekundenlang aus und löste in ihr den unerklärlichen Wunsch aus, sich in seinen Armen gehen zu lassen, sich zu lockern, sich weich und warm an seine festen Muskeln zu schmiegen.
Ihr Verstand gewann glücklicherweise Oberhand, ehe sie etwas tun konnte, das sie später bereuen würde. Es hätte noch gefehlt, dass sie sich nach Roger dem erstbesten Mann um den Hals warf, erst recht, wenn er ein solch dreister, unverfrorener, arroganter Mistkerl war wie Darko Coda!
Langsam hob Danielle den Kopf. Der Blick aus Darkos Augen verwirrte sie. Täuschte sie sich oder spiegelte sich in seinen Pupillen ihre eigene Sehnsucht nach Nähe wider, eine Sehnsucht, die sie gerade noch rechtzeitig unterdrückt hatte?
Doch ehe sie sich weitere Gedanken bezüglich der geheimen Sehnsüchte ihres Nachbars machen konnte, wurden seine Augen bereits wieder hart und unnachgiebig. Bestimmt hatte sie zu viel in seinen Blick hineininterpretiert.
Danielles Ärger gewann wieder Oberhand.
„Wie können Sie es wagen! Wie können Sie es wagen, mein Leben auszuspionieren! Lassen Sie mich los und machen Sie, dass Sie fortkommen!“
Darko grinste nur, nicht im Mindesten eingeschüchtert. „Jetzt kommt Leben in die Kleine, was?“
„Ich sagte, Sie sollen auf der Stelle…“
„Ich höre dich, klar und deutlich, Mädchen, keine Sorge.“
„Und nennen Sie mich nicht Mädchen! Ich verbiete Ihnen diesen Ausdruck!“
Er schüttelte nur den Kopf. Amüsement glitzerte in seinen Augen. „Ach, komm schon. Wie alt bist du, hm? Süsse achtundzwanzig“, beantwortete er seine Frage gleich selbst.
Er musste es ja wissen! Elende Klatschblätter! Wütend biss Danielle die Zähne zusammen.
„Das erklärt auch deine Leichtsinnigkeit. Du bist noch grün hinter den Ohren, Mäuschen“, sagte er.
Er besass die Frechheit, seine Worte mit einem meckernden Auflachen zu unterstreichen! Danielle knirschte mit den Zähnen.
„Was fällt Ihnen eigentlich ein? Lassen Sie mich los, auf der Stelle! Wenn Sie mich jetzt nicht sofort loslassen…“
Er beugte den Kopf zu ihr hinunter, schob seine Nasenspitze dicht an die ihre. Danielle unterbrach sich und musterte ihn aus grossen, unsicheren Augen.
„Deine Drohungen hört hier niemand, Mäuschen. Hier hört dich überhaupt niemand. Deshalb verlange ich, dass du diesen Ort sofort wieder verlässt. Nimm deine Kinder und verzieh dich, hörst du?“
Danielles Körper spannte sich an, wurde so hart und steif, dass er beinahe schmerzte.
„Sie sind die unverschämteste, dreisteste und frechste Person, die mir je…“
„Genug. Ich weiss, wer ich bin, Mäuschen. Ein unerfahrenes Ding wie du braucht mir gar nichts zu sagen.“
Danielle öffnete entrüstet den Mund, doch bevor sie dazu kam, einen Protestschwall auszustossen, ergriff Darko wieder das Wort.
„Ich glaube, ich war nicht deutlich genug. Das Leben hier oben ist nichts für dich, nichts für eine alleinstehende Frau. Die Berge sind gnadenlos, auch wenn es im Sommer nicht so scheint. Der Winter hier oben ist eisig, kalt und ohne jedes Mitleid. Du hast keine Chance, den Winter zu überstehen, Mäuschen, das verspreche ich dir. Und auch wenn du es mit viel Glück schaffen solltest, was du nicht tun wirst, vergiss nicht all die einsamen Wölfe, die vor deiner Tür lauern, um dein Haus streifen und nur auf den richtigen Moment warten, um in dein Heim zu dringen. Und mit Wölfen meine ich keine Tiere, Mäuschen, sondern Männer.“
Darko riss den Mund auf und fletschte die Zähne.
Danielle stiess einen Angstschrei aus. Sie erschrak dermassen, dass sie kein Wort über die Lippen brachte.
„In dieser rauen Wildnis kannst du ohne den Schutz eines Mannes nicht überleben. Wir befinden uns hier nicht auf politischem Parkett. Niemand hier versteckt sein wahres Ich hinter verführerischen Worten und einem trügerischen Lächeln.“
Oh, ja, wenigstens in diesem Punkt stimmte sie ihm vollkommen zu!
„Deshalb sage ich zum letzten Mal: Pack deine Sachen, nimm deine Kinder und verschwinde von hier, verdammt nochmal!“
Wenn er glaubte, sie herumkommandieren zu können, wie einen Fusssoldaten, so hatte sich der gute Darko Coda aber schwer getäuscht!
Sie hatte nicht auf Darko gehört.
Danielle blinzelte, als sie langsam aus ihrer Erinnerung auftauchte und in die Gegenwart zurückkehrte. Sie stand noch immer in der Küche, den Blick auf die tanzenden Schneeflocken gerichtet.
Erst jetzt merkte sie, dass sie die Kante der Anrichte umklammerte, dass sich ihre Finger verzweifelt um die Anrichte schlossen und diese so fest umschlungen hielten, dass ihre Knöchel weiss hervortraten.
Sie hatte Darko damals deutlich gemacht, dass sie nicht im Traum daran dachte, seinen „Wunsch“ zu befolgen. Nach einem weiteren, heftigen Wortwechsel war er wutentbrannt aus ihrem Haus gestürmt.
So viel zu ihrer ersten und einzigen Begegnung mit Darko Coda. Sie hatte ihn in Gedanken als Chauvinist und Sexist abgestempelt. Es war ihr nur recht gewesen, dass sie ihm seit ihrer unfreiwilligen Begegnung im August nie mehr über den Weg gelaufen war. Ihr einziges Gespräch mit Darko, falls man es so nennen wollte, lag bald vier Monate zurück. Seither hatte sie ihn ab und zu von ihrem Haus aus beobachtet, hatte in der Ferne seine Silhouette ausgemacht und hatte ihren Beobachtungen entnommen, dass er im Haus zu ihrer rechten nahe dem Waldrand wohnte.
Ihre Wege hatten sich glücklicherweise nie mehr gekreuzt. Darko war nie mehr in ihr Haus eingedrungen, hatte sie nie mehr belästigt. Immer wenn sie einen Spaziergang gemacht hatte, hatte sie einen grossen Bogen um sein Haus gemacht. Die Strategie, Darko aus dem Weg zu gehen, hatte sich bewährt. In all den Wochen, die sie inzwischen auf dem Feuerberg verbracht hatte, hatte sie nichts mehr mit Darko zu tun gehabt.
Danielle hatte die Begegnung mit Darko verdrängt, hatte sie vergessen wollen. Dies war ihr auch ganz gut gelungen, jedenfalls im Spätsommer und im Herbst. Doch jetzt, wo sich ihre Lebensmittel zu Ende neigten und sie keinen Weg sah, wie sie ihre Vorräte aufstocken konnte, wanderten ihre Gedanken unwillkürlich zu Darko Coda zurück.
Der Winter hier oben ist eisig, kalt und ohne jedes Mitleid, hörte sie ihn wieder sagen. Danielle presste fest die Lippen aufeinander.
Du hast keine Chance, den Winter hier oben zu überstehen, Mäuschen, das verspreche ich dir. Danielle ballte die Hände zu Fäusten.
In dieser rauen Wildnis kannst du ohne den Schutz eines Mannes nicht überleben.
Entgegen ihrer Gewohnheit löste sich ein Fluch von Danielles Lippen. Es konnte doch nicht sein, dass Darko Coda Recht behalten sollte! Das durfte einfach nicht sein! Sie würde es schon schaffen! Irgendwie würde sie diesen Winter bestimmt hinter sich bringen. Sie würde die Vorräte einfach noch stärker rationieren als bisher, sie würde aus jedem einzelnen Gemüse, aus jedem Korn und jedem Häufchen Mehl so viel herausholen, wie sie nur konnte. Sie würde Suppe kochen, viel Suppe. Mit wenig Gemüse und viel Wasser liessen sich so die grössten Speisen hervorzaubern, Speisen, die erst noch rasch zur Sättigung führten.
Suppe hiess das Zauberwort, die Lösung all ihrer Probleme. Von wegen, sie würde hier oben nicht überleben können! Sie würde es Darko Coda schon zeigen, diesem Sexist, diesem elenden Chauvinist! Er glaubte doch nicht im Ernst, sie würde sich in den Bergen nicht zu helfen wissen, sie würde hier oben nicht zurechtkommen, bloss weil sie eine Frau war? Ihn würde sie eines Besseren belehren, oh ja!
Sie würde ihm deutlich vor Augen führen, wie falsch er lag. Sie würde ihm zeigen, wie haltlos seine Befürchtungen gewesen waren, wie unbegründet seine Annahmen, und wenn sie sich dafür den ganzen Winter über von Wasser und Gemüsehäppchen ernähren musste!
Der November neigte sich dem Ende zu und mit ihm Danielles Vorräte. Danielle konnte so sparsam kochen, wie sie wollte. Etwas mussten die Mädchen ja doch essen und es schien, als würden die beiden ausgerechnet in diesem Winter einen beträchtlichen Wachstumsschub durchmachen. Sie zeigten einen ungeheuren Appetit, fragten Danielle stets nach mehr und reagierten enttäuscht, wenn ihnen eine zweite Portion verwehrt wurde. Es schmerzte Danielle, Emma und Louise gezwungenermassen auf Diät zu setzen, doch sie konnte die Situation nun mal nicht ändern. Ihre Töchter reagierten unterschiedlich auf die Lebensmittelrationierung: Die zwölfjährige Emma beklagte sich nicht, nahm die kleinen Portionen schweigend hin, studierte Danielle aber nachdenklich aus ihren grossen Augen. Die siebenjährige Louise hingegen nahm kein Blatt vor den Mund. Sie bezeichnete ihre Mutter als „unfair und gemein“, fand das Leben in den Bergen von einem Tag auf den anderen „schrecklich, öde und todlangweilig“ und wollte endlich wieder zurück nach China fahren. Als Danielle Louise erklärt hatte, dass sie ganz bestimmt nicht zurück zu Papa fahren würden, war Louise in Tränen ausgebrochen und betont laut auf ihr Zimmer gepoltert. Es hatte eine gute halbe Stunde gedauert, Louise einigermassen zu beruhigen und zu trösten.
Und wer tröstete sie? Danielle trat ins Wohnzimmer, liess sich mit einem schweren Seufzer auf die Couch sinken. Wie sollte es bloss weitergehen? Sie konnte noch so sparsam kochen, niemand konnte sich nur von Wasser und Gemüsehäppchen ernähren. In einem trotzigen Aufbäumen hatte sie den Versuch unternommen, die Herausforderung zu meistern, hatte angenommen, sie könne sich und die Kinder schon irgendwie durch den Winter bringen. Wie aber hatte sie sich das vorgestellt? Es fiel täglich Schnee, die Temperaturen sanken nachts unter Null. Wenn sie annahm, der Felsenpfad, ihre Verbindung zur Aussenwelt, würde demnächst
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: © by Desiree Cavegn
Bildmaterialien: © by Sven Lovis
Lektorat: Anna Kirschbaum: Korrektorat gemäss Schweizer Rechtschreibung
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2013
ISBN: 978-3-7309-0755-9
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Eugenio
2. überarbeitete und korrigierte Fassung, November 2013
Die Handlungen und Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.