Cleopatra. Die bunten Buchstaben tanzten aufreizend vor Ellis Augen. Sie grinsten Elli an, verwegen und spöttisch zugleich.
Elli starrte auf den Schriftzug, als würde er sie magisch anziehen. Beinahe konnte sie die Buchstaben sprechen hören: „Komm! Komm her, wenn du dich traust!“
Elli blinzelte benommen. Es kam ihr vor, als würde der Schriftzug sie verhöhnen. Seine grellen Farben und sein aggressives Funkeln irritierten sie und steigerten ihre Nervosität nur noch.
Elli schluckte. Ihr Atem ging schwer, ihr Puls raste. Ihr Instinkt befahl ihr, auf der Stelle kehrt zu machen. Sofort die Flucht zu ergreifen. Cleopatra war kein Ort für sie. Cleopatra war nicht der richtige Ort für jemanden, der sich in der Freizeit zum Literaturclub traf, herrenlose Hunde umsonst spazieren führte und alten Damen beim Einkaufen half. Cleopatra war…
Elli schloss die Augen, zwang sich, tief durchzuatmen. Cleopatra war ihre Rettung. So einfach war das. Sie brauchte Geld, Cleopatra konnte es ihr geben. Elli biss sich auf die Unterlippe, so stark, dass es schmerzte. Sie musste da rein.
Es empfing sie gähnende Leere. Tische und Stühle waren ebenso verlassen wie die grosse Tanzfläche, die sie säumten. Der Saal war kaum beleuchtet. Im schummrigen Dämmerlicht bahnte sich Elli vorsichtig einen Weg zwischen den Sitzgelegenheiten hindurch.
Wieso war niemand hier? Hatte sie sich etwa in der Zeit geirrt? Zwischen sieben und acht Uhr hatte man ihr gesagt. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Viertel nach sieben. Vielleicht erwartete man sie erst um acht?
Komm zwischen sieben und acht Uhr vorbei, Schätzchen. Frag nach Eddy mit Ypsilon. Und kein Stress, ja?
Das waren Eddy mit Ypsilons Worte gewesen, als sie heute Morgen mit ihm telefoniert hatte. Bis auf den letzten Satz war alles klar. Wie sie „kein Stress“ verstehen sollte, war Elli hingegen schleierhaft. Hiess „kein Stress“ vielleicht, dass Eddy möglicherweise erst nach acht Uhr auftauchte? Oder waren die Worte einfach als beruhigende Versicherung gedacht?
„Du hast dich wohl in der Tür geirrt, Süsse?“
Elli zuckte zusammen beim Klang der rauen Stimme. Angestrengt starrte sie ins Dämmerlicht.
Er sass ganz hinten im Saal. Sie konnte nur seine Silhouette erkennen. Vorsichtig, als würde er beissen, näherte sie sich dem Mann, der sie angesprochen hatte. Als sie sich tiefer in den Saal begab, konnte sie eine Bar erkennen. Der Unbekannte sass am Tresen auf einem Barhocker, der beinahe grösser war als Elli selbst.
War das etwa Eddy mit Ypsilon? Elli musterte den Unbekannten, als könnte ihr sein Äusseres Aufschluss über seine Identität geben, obwohl sie Eddy doch noch nie gesehen hatte.
Er hatte die Ellbogen auf die Theke gestützt, wodurch sein nackter Oberkörper besonders gut zur Geltung kam. Straff, breit und muskulös. Elli schluckte. Schnell senkte sie den Blick. Nun sah sie geradewegs auf seine Beine. Seine langen Beine steckten in einer enganliegenden Jeans. Ein Bein hatte er angewinkelt, den Fuss auf die Fussstütze des Barhockers gestellt, das andere baumelte lässig in der Luft. Seine Beine waren gespreizt, gaben den Blick frei auf den Bund seiner Jeans und die beeindruckende Ausbuchtung zwischen seinen Beinen.
Ellis Wangen röteten sich. Schnell hob sie den Blick.
Konnte der Typ sich nicht anständig hinsetzen? Wenn das tatsächlich Eddy war, sollte ihm mal jemand erklären, welche Haltung man bei einem Vorstellungsgespräch einnahm!
Nervös befeuchtete Elli ihre Lippen. „Sind Sie Eddy?“
Ihre Frage wurde mit einem legeren Schulterzucken kommentiert. „Kommt drauf an, wer mich sprechen will.“
„Ich bin Elli. Elli Mirten. Ich bin hier wegen dem Job.“
Blaue Augen musterten sie von oben bis unten. Sie begannen ihre Prüfung bei dem zu einem Knoten zusammengebundenen Haar, wanderten tiefer über die bis auf den letzten Knopf geschlossene blaue Bluse, weiter über die schwarze Leinenhose bis hin zu ihren flachen, bequemen schwarzen Schuhen. Danach hob Eddy seinen Blick wieder. Einen Moment lang starrte er sie an, wie eine Muschel in der Wüste. Dann brach er in schallendes Gelächter aus, das tief in seiner Kehle kratzte.
„Welcher Job könnte das sein, Süsse? Wir brauchen hier keine Stenografin!“
Abermals lachte er schallend.
Elli spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss. Spätestens jetzt begrüsste sie das Dämmerlicht. Eddys Lachen irritierte sie. Sie hätte am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht. Nur der Gedanke an ihre Schwester brachte sie dazu, an diesem schrecklichen Ort zu bleiben, vor Eddy auszuharren, der sich genüsslich auf seinem Hocker räkelte und sich eine Lachträne aus den Augen wischte.
Sie hatte ihn sich anders vorgestellt. Die raue Stimme stimmte zwar mit jener überein, die sie am Telefon gehört hatte, doch ansonsten konnte sie in Eddy nicht den Mann sehen, mit dem sie am Telefon gesprochen hatte. Am Telefon hatte er irgendwie warm geklungen, locker und entspannt, als hätte er ihre Nervosität gespürt und sie beruhigen wollen. Locker und entspannt traf zwar auch auf ihr Gegenüber zu, doch diese Haltung, gepaart mit unübertrefflicher Selbstgefälligkeit, hatte eine alles andere als beruhigende Wirkung auf sie.
Eddy war spöttisch und herablassend und schien nicht zu merken, wie nervös er sie machte, mit seinen weit gespreizten Beinen und dem nacktem Oberkörper.
Wie schön es doch gewesen wäre, keine Geldsorgen zu haben, dachte Elli wehmütig. Ein finanzielles Polster bewahrte einem vor Typen von Eddys Schlag.
„Na, was ist? Willst du mir nicht verraten, für welche Stelle du dich bewirbst?“, fragte Eddy, wobei er das Wort „Stelle“ genüsslich dehnte.
„Sie… Sie erinnern sich nicht mehr? Wir haben heute Morgen zusammen telefoniert.“
„Elli Mirten, ich weiss. Aber bei uns bewerben sich mehr Leute als bei der UNO. Ich kann unmöglich auswendig wissen, wer sich welchen Posten wünscht.“
Elli runzelte die Stirn. Sie wunderte sich, dass das Cleopatra bei einem Geschäftsführer wie Eddy so gut rentierte. Dass das Cleopatra gut lief war kein Geheimnis. Es zählte zu den meistbesuchten Nachtclubs der Stadt, wenn es nicht sogar das begehrteste Nachtlokal schlechthin war. Es war schliesslich das einzige Lokal, das Kellnerinnen oben ohne anstellte. Eddys Gespür für Profit beruhte auf seinen guten Kenntnissen bezüglich der Wünsche seiner Kundschaft.
Als Elli noch immer zögerte, hakte Eddy nach: „Süsse, wir suchen hier redegewandtes Personal. Frauen, die jedes Wort auf die Goldwaage legen, sind nicht gefragt, wenn du weisst, was ich meine. Es würde helfen, wenn du deine Arbeitswünsche zu präzisieren wüsstest.“
Der letzte Satz war natürlich bewusst gestelzt gewählt, was sie sehr aufregte. Doch sie konnte sich nicht länger ihrer Abneigung und Feindseligkeit hingeben. Es ging jetzt darum, sofort klarzustellen, weshalb sie hergekommen war, ehe sie der Mut verlassen und sie sich auf der Strasse wiederfinden würde.
„Ich… Ich möchte als Kellnerin arbeiten“, platzte Elli heraus, ehe sie es sich anders überlegen konnte.
Kaum hatte sie ihren „Arbeitswunsch“ ausgesprochen, als sie auch schon tief errötete. Sie erglühte geradezu vor Scham und Nervosität. Im Cleopatra gab es wohlverstanden nur eine Art von Kellnerinnen: Diejenige nämlich, die mit ihrer freizügigen Kleidung - oder viel eher ohne genügende Körperbedeckung - die Kundschaft anlockte. Wenn Elli nur schon an ihren zukünftigen Job dachte, verlor sie beinahe den Boden unter den Füssen. Es fehlte nicht viel und sie würde ohnmächtig werden bei dem Gedanken daran, Kunden, männliche Kunden notabene, barbusig zu bedienen.
Nur der Gedanke an Janka hatte sie ins Cleopatra gebracht. Und auch jetzt hielt nur der Gedanke an Janka sie hier, jetzt, wo Eddys Mundwinkel verräterisch zuckten und seine Augen amüsiert funkelten.
Wenigstens lachte er sie diesmal nicht aus. Es war auch schon so schwer genug für sie.
„Komm her!“
„Was?“, rief Elli aus.
Er grinste nur und klopfte mit der Hand gegen seinen Barhocker. „Komm her! Komm näher!“
Näher? Noch näher?
Schon die zwei Meter Abstand, die Elli zu ihrem Gegenüber wahrte, kamen ihr äusserst beengend vor. Sie nahm Eddys Körper instinktiv als Bedrohung wahr, da er eine nur mühsam gezähmte Kraft ausstrahlte und vor unterdrückter Energie strotzte, die jederzeit freigesetzt zu werden drohte. Elli blickte auf seine muskulösen Oberarme. Seine Ellbogen ruhten scheinbar entspannt auf der Theke, doch Elli hatte das Gefühl, das jede Faser seines Körpers angespannt war, dass er bereit war, jeden Moment aufzuspringen und sich auf sie zu stürzen.
Sie zwang sich, tief Luft zu holen. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für alberne Phantasien. Sie musste zusehen, dass sie diesen Job kriegte, und dann nichts wie raus hier.
„Komm her“, hörte sie Eddys Stimme erneut.
Diesmal kam sie seiner Aufforderung nach. Langsam trat sie näher, vorsichtig wie ein Reh, das nicht wusste, ob man ihm eine Falle stellen oder es einfach nur füttern wollte.
„Näher!“, befahl Eddy unerbittlich, als Elli den Abstand zwischen ihnen auf einen Meter reduziert hatte.
Vorsichtig setzte Elli einen Fuss vor den andern. Schliesslich stand sie so dicht vor ihm, dass er sie hätte berühren können, wenn er die Hand nach ihr ausgestreckt hätte.
Er musterte sie prüfend. Seine Augen schienen sie zu durchleuchten wie Röntgenstrahlen. Ellis Haut erglühte, wo immer seine blauen Augen sich hinlegten. Schliesslich blieben sie auf den Rundungen ihrer Brüste haften. Elli schluckte.
„Wie alt bist du?“
Elli fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. „Sechsundzwanzig.“
Eddy nahm den Blick von ihren Brüsten und hob den Kopf. Einer seiner Mundwinkel zuckte spöttisch. „Das macht dich hier zu einer richtigen Oma.“
Elli funkelte ihn wütend an. Er konnte sich seine Kommentare sparen. Alles was sie interessierte war, ob er ihr den Job geben würde oder nicht.
„Schon Erfahrung auf diesem Gebiet? Schon mal in einem Nachtclub gearbeitet?“
„Natürlich nicht!", rief Elli empört aus. Dann besann sie sich wieder darauf, wo sie war und was sie bezweckte.
„Ich meine, nein. Leider nicht“, korrigierte sie sich hastig.
Eddy grinste nur. An seinem wissendem Blick erkannte Elli, dass ihn ihr Bedauern nicht überzeugt hatte.
„Nicht, dass ich das erwartet hätte“, brummte er.
Elli zuckte zusammen, als er plötzlich, geschmeidig wie ein Panther, vom Hocker sprang.
Im nächsten Moment schlossen sich seine Arme um sie. Er drückte sie an seine Brust, hielt sie in seinen Armen gefangen, die sich wie ein stählernes Käfiggitter um sie schlossen.
Elli, zu überrascht um reagieren zu können, schnappte erschrocken nach Luft. Erst als sich ihre Brüste gegen seinen harten Brustkorb schmiegten und sie spürte, wie er ihre Beine zwischen den seinen gefangen hielt, kam wieder Leben in sie. Sie presste ihre Hände an seine Brust, versuchte krampfhaft, ihn von sich zu stossen. Sie hätte genauso gut gegen einen Felsen ankämpfen können, denn er rührte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Elli verspannte sich, als sie erkannte, wie vergeblich ihre Befreiungsversuche waren. Sie wurde steif wie ein Brett. Ihr Puls beschleunigte sich und das Blut rauschte ihr in den Ohren.
„Was tun Sie da? Lassen Sie mich los!“
Doch er machte nicht die geringsten Anstalten, ihrer Aufforderung nachzukommen. Elli legte den Kopf in den Nacken, um zu ihm aufsehen zu können, wobei ihm ihre flatternden Lider ihre Nervosität verrieten. „Sofort! Lassen Sie mich sofort los!“
Die Panik in ihrer Stimme konnte ihm nicht entgangen sein.
Er senkte den Kopf und brachte seine Lippen an ihr Ohr: „Ganz ruhig, Süsse. Ich tu dir nichts.“
Doch daraufhin verspannte sich Elli nur noch mehr. Erneut versuchte sie, ihn von sich zu stossen, jedoch ohne Erfolg. Sie kam einfach nicht gegen ihn an. Wenn ihre unruhigen Bewegungen etwas bewirkten, dann nur, dass der Körperkontakt zwischen ihnen noch verstärkt wurde was Elli schliesslich dazu brachte, mit einem resignierten Aufstöhnen zu kapitulieren. Statt weiter gegen Eddy anzukämpfen, hielt sie sich nun stocksteif in seinen Armen.
Erst jetzt nahm sie seinen Geruch wahr: Er roch nach einem herben Duschgel, das sich mit dem salzigen Geruch seiner Haut vermischte. Sein Geruch war überall, schien sie zu umfangen wie eine zweite Umarmung. Plötzlich fühlte sich Elli seltsam benommen. Sie blinzelte in dem vergeblichen Versuch, gegen ihre plötzliche Mattigkeit anzukämpfen. Unwillkürlich wurde ihr bewusst, wie lange es her war, seit ein Mann sie im Arm gehalten hatte.
Viel zu lange.
Für einen Moment, nur für den Bruchteil einer Sekunde, malte sie sich aus, wie es sein würde, sich einfach in diese kräftigen Arme fallen zu lassen, die Augen zu schliessen und den überwältigenden männlichen Duft tief einzuatmen.
Raue Worte holten sie in die Realität zurück.
„Abends geht es hier meist heiss zu und her. Wir haben hier oft mehr Besucher, als wir eigentlich reinlassen dürften. Die meisten kommen kurz vor zwölf, bevor die Tänzerinnen ihre Show starten. Die Stimmung ist aufgeheizt und angeregt, es fallen, milde gesagt, anzügliche Bemerkungen. Dein Job würde es unabdinglich machen, dass du dich durch eine dichte Menschenmenge kämpfst, wo Körperkontakt die Regel ist, nicht die Ausnahme.“
Eddy verstärkte den Griff um sie, drückte sie so dicht an sich, dass ihre Körper sich in ihrer ganzen Länge berührten. Elli schnappte erschrocken nach Luft.
„Nicht! Lassen Sie mich!“
„Ganz ruhig, Süsse. Ich möchte nur sicherstellen, dass du weisst, worauf du dich einlässt. Nicht alle unsere Kunden sind so nüchtern und kontrolliert wie ich.
Mit anderen Worten, du findest hier nach zwölf Uhr Keinen, dem der Alkohol nicht aus allen Poren strömt.“
Elli stöhnte gequält auf. War das wirklich nötig? Musste er alles noch schlimmer machen? Wusste er nicht, dass sie jetzt schon weiche Knie bekam vor Panik, wenn sie auch nur daran dachte, wie sie an ihrem ersten Arbeitstag das Cleopatra betreten würde? Ganz zu schweigen von all dem, was dann folgen würde. Von all den Dingen, über die Eddy sie nun so freundlich informierte.
„Oft ist es besser, die Sache eine Nacht zu überdenken. Viele Mädchen machen sich falsche Vorstellungen von dem Job“, fuhr er fort.
„Nehmen Sie sich deshalb die Freiheit, Bewerberinnen so… umfassend über ihre zukünftigen Arbeitsbedingungen aufzuklären?“, zischte Elli wütend.
„Ich nehme mir das Wohlergehen meiner Angestellten sehr zu Herzen“, erwiderte Eddy unbekümmert.
„Das weiss ich sehr zu schätzen“, knurrte Elli. „Aber ich verlange, dass Sie mich auf der Stelle loslassen. Sie haben sich klar genug ausgedrückt.“
Diesmal gab er sie frei. So abrupt, dass Elli vor Überraschung rückwärts taumelte. Für den Bruchteil einer Sekunde beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl. War es möglich, dass sie sich plötzlich seltsam nackt, seltsam schutzlos vorkam? Doch das Gefühl war so schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war.
„Geben Sie mir nun den Job?“
Elli war zum Schluss gekommen, dass Direktheit die beste Art im Umgang mit Eddy war. Sie wollte nur eines wissen: Ob er ihr die Stelle geben würde, die sie genauso sehr brauchte, wie sie sie verabscheute. Letzteres würde sie Eddy natürlich niemals gestehen.
Je länger sie hier auf seine Entscheidung warten musste, desto nervöser wurde sie. Sie vertraute sich selbst nicht mehr. Wenn sie noch viel länger in diesem Dämmerlicht stehen müsste, wo sie sich nur allzu leicht ausmalen konnte, was sie bei der Arbeit im Cleopatra erwartete, würde sie ihre Selbstbeherrschung aufgeben und Hals über Kopf aus dem Lokal stürmen, ohne Eddy eine Zusage abgerungen zu haben.
Eddy hatte es sich inzwischen wieder auf seinem Hocker bequem gemacht, wo er dieselbe legere Pose einnahm wie zuvor. „Du scheinst ja ganz versessen auf diesen Job.“
„Ich brauche ihn.“
„Konnte ich dich kein bisschen abschrecken?“
Elli holte nervös Atem. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Nein.“
Beide wussten, dass das eine Lüge war.
„Nun, denn“, sagte Eddy gedehnt, „warum machen wir nicht einen Probedurchgang?“
Elli stöhnte innerlich auf. „Können Sie mir nicht einfach eine Zusage geben?“, bat sie flehend.
Eddy musterte sie kopfschüttelnd.
„Hast du jemals eine Zusage erhalten, bevor das Bewerbungsgespräch vorbei war, Süsse? Du bist noch nicht mal zehn Minuten hier. Ich will sichergehen, dass du den Job durchziehst. Wenn ich nach dem ersten Abend gleich eine Neue suchen muss, lohnt sich der Aufwand für mich nicht, verstehst du?“
Er sah sie herausfordernd an.
Elli seufzte resigniert.
„Gut. Der Übung halber machen wir’s schön einfach. Bring mir ein Glas Wasser."
Elli zögerte. Sie betrachtete Eddy abwägend, in der Hoffnung, er könnte es sich noch anders überlegen und würde sie auch ohne Probedurchgang einstellen.
„Ich bin durstig, Süsse“, blaffte er, den Blick auf ihre Brüste geheftet. Langsam hob Eddy den Kopf, sah ihr in die Augen und liess keinen Zweifel daran, dass er nicht nur nach Wasser durstete. Hastig floh Elli hinter die Theke. Plötzlich begrüsste sie den Probedurchgang.
Hinter sich hörte sie Eddys kehliges Lachen. Der dunkle, volle Klang löste ein eigenartiges Prickeln auf ihrer Haut aus, doch darüber wollte sie lieber nicht weiter nachdenken.
Sie riss eine Schranktür auf Kopfhöhe auf, zog das erstbeste Glas heraus und füllte es eilig mit Wasser. Das dauerte kaum eine Minute, doch sie konnte Eddys Blick deutlich auf sich spüren, was sie nervös machte. Hastig drehte sie sich zu ihm um, knallte das Glas vor ihn auf den Tresen.
„Wenn das keine grossartige Bedienung ist“, spöttelte Eddy. Er hob das Glas hoch, prostete ihr zu und setzte es an die Lippen. Elli beobachtete, wie sich sein Adamsapfel bewegte, als er das Glas in einem Zug leerte.
Geräuschvoll stellte er das Glas auf die Theke zurück, schob es ihr zu. „Jetzt nochmal. Lächeln ist übrigens obligatorisch.“
Das konnte nicht sein ernst sein!
Elli stemmte ärgerlich die Hände in die Hüfte. „Ich soll das Ganze nochmals machen, nur damit Sie mich lächeln sehen?“
Eddy grinste. „Das ist noch nicht ganz alles, Süsse. Der zweite Durchgang gilt ernst. Oben ohne.“
Elli erstarrte. Ihre Arme sackten schlaff an ihren Seiten ab. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.
„Das kommt nicht in Frage!“, rief sie entrüstet aus.
„Ach, ja?“ Eddy hob eine Augenbraue. „Ich bestehe aber darauf.“
Elli schüttelte vehement den Kopf. „Das können Sie vergessen!“
„Süsse, wenn du‘s vor mir nicht kannst, wie willst du‘s dann vor vollem Haus können, hm?“
Eddy hob das Glas und klopfte damit auffordernd auf den Tresen.
Elli ignorierte ihn, stapfte wütend hinter der Bar hervor.
„Das ist mein Problem!“
„Nicht ganz. Du scheinst zu vergessen, dass du für mich arbeiten willst. Ich muss wissen, ob meine zukünftigen Angestellten halten, was sie versprechen.“
Elli presste ihre Lippen zu zwei schmalen Strichen zusammen. „Ich werde mein Versprechen halten. Kann ich jetzt gehen?“
Als ihr bewusst wurde, was sie gerade gesagt hatte, warf sie ihm einen ängstlichen Blick zu. „Ich meine, geben Sie mir nun den Job?“
„So hartnäckig wie du bist, bleibt mir nicht viel anderes übrig“, brummte Eddy.
Elli atmete erleichtert auf.
„Aber erst, nachdem du mich oben ohne bedient hast.“
Elli entfuhr ein gequältes Stöhnen. Sie schloss die Augen, holte tief Luft.
Sie hatte zwei Möglichkeiten: Jetzt sofort aus dem Cleopatra zu stürmen, wie sie es schon nach ihrem ersten Schritt ins Lokal hatte tun wollen, oder aber auszuharren und den letzten Test hinter sich zu bringen, in der Hoffnung, dass sie dann die Stelle endlich bekommen würde.
Wenn sie den Job kriegen würde… Die Arbeit war gut bezahlt. Erstaunlich gut sogar. Sie würde es schaffen, Jankas Schulgeld rechtzeitig zusammen zu kriegen, wie sie es ihrer Schwester versprochen hatte. Und Jankas Schuldgeld rechtzeitig zu überweisen war lebenswichtig. Für Janka jedenfalls. Ihre Schwester hatte angedroht, sich das Leben zu nehmen, wenn… Elli wollte lieber nicht an ihr letztes Telefonat mit Janka zurückdenken. Wenn sie das Cleopatra verliess, musste sie dies im Wissen tun, dass ihre Schwester in Sicherheit war.
Zitternd hob Elli die Hände. Ihre Finger öffneten ungeschickt den obersten Knopf ihrer Bluse. Dann den zweiten, den dritten. Ihre Haut, die in V-Form freigelegt wurde, schimmerte blassweiss im gedämpften Licht. Beim vierten Knopf zögerte Elli. Sie hob den Blick. Ein Fehler, wie sie sofort erkannte. Eddy starrte erwartungsvoll auf ihre noch bedeckten Brüste, ein merkwürdiges Glitzern in den Augen.
Elli holte tief Luft. Ihr Busen hob und senkte sich schwer. Sie legte eine Hand an ihre glühende Stirn. Sie fühlte sich wie in einem Backofen, obwohl es in der Bar angenehm kühl war.
„Ich… ich kann das nicht“, flüsterte sie heiser.
Langsam wanderte Eddys Blick von ihren Brüsten zu ihrem Gesicht. „Warum nicht?“
„Ich… ich kann einfach nicht“, stammelte Elli hilflos.
„Angst, sie gefallen mir nicht?“
Elli riss die Augen weit auf. Entsetzt starrte sie Eddy an. Sie öffnete den Mund, doch sie kam nicht mehr dazu, Eddy ihre Meinung zu sagen.
Plötzlich wurde der Saal in helles Licht getaucht, was Elli und Eddy gleichermassen aufschreckte
„Hallo, Leute!“, posaunte eine tiefe Stimme. „Was hockt ihr denn hier so im Dunkeln rum? Licht ist dazu gemacht worden, dass man es anknipst. Ganz besonders, wenn’s dunkel ist.“
Langsam drehte Elli den Kopf. Der Unbekannte trat näher. Er war klein, wohlgenährt und bewegte sich in einem gemütlichen Watschelgang. „Bist du Elli Mirten?“, fragte er, als er auf die Theke zusteuerte. Elli nickte benommen.
„Sehr schön, sehr schön. Wie ich sehe, hast du schon Bekanntschaft mit Kyrill geschlossen.“
Elli starrte den kleinen Mann mit dem Entengang verwirrt an. Kyrill? Von welchem Kyrill sprach er? Noch ehe sie fragen konnte, fuhr der untersetzte Mann fort: „Mein Name ist Eddy. Eddy mit Ypsilon.“
Ellis Züge verzogen sich schmerzhaft, als qualvolle Erkennung über ihr Gesicht glitt. Ein gepresstes Stöhnen entrang sich ihrer Kehle. Ungläubig starrte sie den Mann an, der sich ihr gerade mit Eddy vorgestellt hatte.
„Ich habe in der Primarschule den Ypsilon-Club gegründet. Kyrill hier gehörte natürlich auch mit dazu. Hab mir sogar überlegt, meinen Schuppen hier „Ypsilon-Club“ zu nennen. Wär aber nicht gut gewesen fürs Geschäft. Cleopatra ist natürlich der Name der Wahl. Damit assoziiert man Lieblichkeit, Schönheit und Genuss. Das alles biete ich meiner Kundschaft.“
Eddy grinste verschmitzt. „Na, ja, meine Mädchen jedenfalls. Den Namen des Schuppens verdanke ich meinem alten Bekannten hier.“
Eddy deutete mit einem Kopfnicken auf den Mann, den Elli für den Besitzer des Cleopatras gehalten hatte.
„Aber was ist mit dir, Schätzchen? Bereit, für ein kleines Interview?“
Elli war wie versteinert. Während des ganzen Monologes hatte sie sich nicht gerührt. Während Eddys Monolog.
Der kleine Dicke, das war Eddy. Das war ihr zukünftiger Arbeitgeber. Ihr Blick löste sich von Eddy, wanderte zu besagtem Kyrill, der sich noch immer auf seinem Barhocker fläzte und noch nicht einmal den Anstand besass, zumindest ein Anzeichen von Schuld erkennen zu lassen. Stattdessen musterte er sie mit einem zufriedenen, selbstgefälligen Grinsen, das Elli ihm ab liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte.
Wenn sie richtig verstanden hatte, so war Kyrill in keiner Weise am Cleopatra beteiligt. Er war nichts weiter als ein alter Schulfreund von Eddy, der sich im Cleopatra die Zeit vertrieben und sich für den Besitzer des Lokals ausgegeben hatte.
Elli spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Tausend Gedanken rasten ihr gleichzeitig durch den Kopf. Es war, als könnte sie sich nicht für einen Gedanken entscheiden, als könne sie sich nicht dafür entscheiden, welchen Gedanken sie weiterverfolgen wollte.
Elli presste ihre Hand an die Schläfe. Sie unterdrückte ein tiefes Stöhnen. Man hatte sie zum Narren gehalten! Kyrill, der vermeintliche Eddy, hatte sich blendend auf ihre Kosten amüsiert! Er hatte sie aufs tiefste blamiert!
Das nächste, was Elli wusste, war dass sie sich überstürzt einen Weg aus dem Cleopatra suchte, sich an Tischen und Stühlen vorbeizwängte, wobei sie nur ein Ziel vor den Augen hatte: den Ausgang.
Doch weit kam sie nicht.
Sie hörte Eddy, der ihr etwas Undeutliches hinterherrief. Doch es war Kyrill, der sie einholte. Als Kyrills Hand plötzlich ihren Oberarm packte, schrie Elli entsetzt auf. Im nächsten Moment wurde sie herumgewirbelt, so kraftvoll, dass sie direkt gegen Kyrills Brust prallte. Ein Gefühl, das ihr bereits vertraut war. Sekundenlang hielt sie inne, doch dann hämmerte sie wütend auf Kyrills Brust ein, zahlte ihm ihre Demütigung mit harten Fäusten heim.
Kyrill liess sie einfach gewähren, was Ellis Zorn nur noch steigerte. Er murmelte bloss etwas, das wie ein „wow“ klang. Erst seine Worte brachten Elli wieder zur Vernunft.
„Glaubst du, so kriegst du den Job?“
Erhitzt blickte sie zu ihm auf. „Sie elender Lügner. Sie haben mich hinters Licht geführt! Sie haben sich prächtig amüsiert, nicht wahr? Wahrscheinlich haben Sie gedacht, was für ein dumme, einfältige….“
Ihre Stimme brach. Plötzlich standen ihr Tränen in den Augen. Elli senkte den Kopf, blinzelte heftig.
Kyrill legte ihr eine Hand unters Kinn, zwang sie, zu ihm aufzusehen. „Süsse, alles, was ich getan habe, war nur zu deinem Besten.“
Elli schüttelte nur den Kopf. Sie wagte nicht zu sprechen, aus Angst, ihre Stimme würde brechen. Sie hatte sich solche Mühe gegeben, hatte sich so eifrig um den Job bemüht, den sie so dringend brauchte und so heftig verabscheute. Sie hatte alles gegeben, was sie hatte. Und wozu? Um zu erfahren, dass man sie zum Narren gehalten hatte!
„Hör mir zu, Süsse. Ich mache dir ein Angebot.“
Diese Worte Kyrills wischten Ellis Gefühlsregungen schlagartig beiseite.
„Was?“
„Warum arbeitest du statt für Eddy nicht einfach für mich?“
Elli erzitterte vor Zorn.
„Und was soll ich dabei tun? Nackt servieren?
Kyrill schmunzelte. „So ungefähr.“
Er beugte sich zu ihr hinunter. Seine Lippen an ihrem Ohr flüsterte er: „Eine Nacht nackt in meinem Bett.“
Elli schnappte nach Luft. Sie wich vor ihm zurück, als hätte sie sich an ihm verbrannt. Ihre Hand ballte sich zur Faust.
„Sie sind verrückt!“
„Nach einer Frau, vielleicht, ja.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Machen Sie Ihrem Kollegen immer solche Konkurrenz?“, rief Elli erbost aus.
Kyrill lachte. „Du bist eine Ausnahme. Du reizt mich besonders.“
„Ich werde mich nie auf so was einlassen!“
„Oh, nein? Du nutzt dein Talent lieber um barbusig zu kellnern? Wie du willst. Falls du es dir doch noch anders überlegst- meine Adresse ist Tannenweg sechs.“
Elli verpasste Kyrill eine kräftige Ohrfeige. Daraufhin gab er sie abrupt frei und Elli stürmte zum Ausgang des Cleopatra. Noch bevor sie die Tür öffnen konnte, holte Kyrills Stimme sie erneut ein.
„Oh, Eleonor?“
Elli wusste nicht, weshalb sie innehielt, was sie dazu veranlasste, einen Blick über die Schulter zurück zu werfen.
„Da du ja offensichtlich Geldsorgen hast- ich bezahle gut, Süsse. Sehr gut.“
Elli erbebte vor Zorn. Da nannte Kyrill ihr eine Summe, die sie schwindeln liess.
Sie erzitterte erneut, diesmal jedoch nicht vor Wut, sondern vor Unglauben.
„Ich kehre nicht nach Hause zurück, Elli.“
Elli versuchte vergeblich, ihre Schwester zu beruhigen. „Mach dir keine Sorgen, Janka, ich habe das Geld schon fast zusammen.“
„Das sagst du nur so.“
„Nein, wirklich, ich…“
„Warum hast du die Schulgebühren dann noch nicht bezahlt?“
Elli schloss die Augen. Sie massierte ihre Schläfe. „Ich hatte gerade viel zu…“
„Du hast das Geld nicht. Ich werde nicht nach Hause kommen, um auf die öffentliche Schule zu gehen. Eher bringe ich mich um.“
Elli wusste, dass Janka es ernst meinte. Ihr Zustand war sehr labil, auch noch ein Jahr nach der Tat. Und wenn sie in ihre Heimatstadt zurückkehren müsste, würde sie früher oder später mit ihren Peinigern konfrontiert werden ….
„Liebes, es besteht kein Grund zur Aufregung. Ich werde das Schulgeld morgen bezahlen.“
Janka schwieg lange. „Du versprichst es?“, fragte sie schliesslich.
„Ich verspreche es.“
Elli legte auf und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie hatte den Job im Cleopatra nicht erhalten, da sie nach Kyrills Angebot nicht den Nerv gehabt hatte, sich auch noch mit Eddy zu unterhalten. Auch wenn Eddy einen viel sympathischeren Eindruck gemacht hatte, als der arrogante Mistkerl, der sie in sein Bett hatte locken wollen. Tannenweg 6, pah! Von ihr aus konnte er auch auf dem Mond hausen! Sie würde ihm nie einen Besuch abstatten, nur über ihre Leiche!
Die Summe, die Kyrill ihr genannt hatte… Elli schloss die Augen. Sie wäre die Lösung all ihrer Probleme. Doch auch wenn Kyrill Kostic ihr mehrere Millionen für ihre… Dienste anbieten würde, nie würde sie sich auf das Niveau dieses anmassenden Mistkerls herunterlassen. Auf keinen Fall würde sie das Angebot eines Mannes annehmen, der sie derart in die Irre geführt hatte! Dieser elende Mistkerl! Er war eingebildet und arrogant, mit einem Ego, das den Saal des Cleopatras um ein dreifaches übertraf.
Nein, sie würde ganz bestimmt keine Nacht in seinem Bett verbringen, nicht einmal eine einzige Minute!
Wie sollte sie dann aber Jankas Schulgeld bezahlen? Den Job im Cleopatra konnte sie an den Nagel hängen. Sie war aus dem Cleopatra gestürmt, als hätte sie Feuer unter dem Hintern. Eddy würde sie jetzt bestimmt nicht mehr einstellen und selbst wenn, sie würde gar nicht erst den Mut aufbringen, in dieses Lokal zurückzukehren.
Hatte sie Janka tatsächlich versprochen, sie würde das Geld morgen einzahlen? Wo hatte sie ihren Verstand gelassen? Wie wollte sie mit ihrem halbleeren Konto ein Semester an einer Privatschule finanzieren?
Bis jetzt war sie mit dem Schreiben immer knapp über die Runden gekommen. Für sie selbst hatte das Geld stets gereicht. Aber für die horrenden Gebühren einer Privatschule?
Elli wusste, wie wichtig es für Janka war, das Internat in den Bergen weiterhin besuchen zu können. Janka war auf die umfassende Betreuung und Unterstützung angewiesen, die sie dort erhielt.
Elli seufzte schwer. Wenn nur ihre Eltern die Schule weiterhin hätten finanzieren können! Was sollte sie jetzt bloss tun?
Sie hatte Janka ein Versprechen gegeben, das sie nicht halten konnte. Denn nie, nie in ihrem Leben würde sie eine Nacht mit Kyrill Kostic verbringen. Sie würde nicht einmal für ihre Schwester unter Kyrill Kostics Decke kriechen.
Nur wenige Stunden später fuhr Elli durch den Wald. Angestrengt hielt sie nach der Abzweigung Ausschau, die sie auf den Tannenweg führen würde. Tannenweg sechs. Sie hatte die Adresse zuvor auf Googlemap gesucht. Beim Tannenweg handelte es sich um eine einsame Waldstrasse. Die Nummer sechs war wider Erwarten das einzige Haus am Tannenweg.
Endlich entdeckte Elli einen kleinen, holprigen Kiesweg, der rechts von der Hauptstrasse abbog und zwischen den Bäumen verschwand.
Elli schlug den Tannenweg ein. Das Lenkrad mit beiden Händen fest umklammert, fuhr sie so verkrampft über den Tannenweg, als wäre dies ihre erste Fahrstunde. Sie schwitzte. Ihr Herz klopfte laut und schmerzhaft in ihrer Brust. Als inmitten der Bäume endlich ein grosses, weisses Herrenhaus auftauchte, brachte Elli ihren Wagen mit einem Ruck zum Stehen. Sie stiess die Wagentür auf und sprang beinahe ins Freie. Sie wusste, wenn sie sich jetzt nicht selbst überlisten und sofort an der Haustür klingeln würde, würde sie auf der Stelle den Rückwärtsgang einlegen und verschwinden.
Elli war so auf ihr Unternehmen konzentriert, dass sie den Wagenschlüssel im Zündschloss stecken liess. Doch das spielte hier draussen, in dieser Einsamkeit, keine Rolle.
Elli drückte einen zitternden Finger auf die Klingel. Ein voller Glockenton erklang im Hausinnern, doch nichts rührte sich. Elli wartete. Zögernd blickte sie sich um. Alles schien so ruhig und verlassen. Ob Kyrill überhaupt zu Hause war? Paradoxerweise hoffte sie es. Es war wie mit dem Cleopatra: Für einen zweiten Versuch würde sie unmöglich den Mut aufbringen.
Elli drückte die Klingel erneut.
Sie wusste nicht wann, doch irgendwann im Verlaufe des Nachmittags hatte sie ihre Meinung geändert. Für Janka. Für Janka würde sie alles tun. Und wenn sie Kyrill schon nicht ausstehen konnte, war das nur ein Grund mehr, ihm die versprochene Summe abzuknöpfen.
Als die Haustür endlich geöffnet wurde, zuckte Elli vor Schreck zusammen. Sie hatte schon damit gerechnet, dass Kyrill ausser Haus war.
Kyrill war genauso erstaunt, sie zu sehen wie sie ihn.
Elli wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie starrte Kyrill nur stumm an.
Er trug eine Jeans und ein offen stehendes Hemd. Er musste gerade aus der Dusche gekommen sein, denn sein Haar war nass und um seinen Nacken hatte er ein Handtuch geschlungen. Unergründliche grau-grüne Augen fixierten sie.
Für Janka, sagte sich Elli stumm. Für Janka. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen.
„Ich…äh… komme wegen Ihrem Angebot.“
„Sieh mal einer an. Ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich darauf eingehen würdest.“
„Wenn Sie jetzt…. Wenn Sie nicht mehr wollen…“ Elli errötete.
Kyrill grinste verschmitzt. „Doch, natürlich. Komm rein.“
Zögernd trat Elli an Kyrill vorbei. Im Entree blieb sie unsicher stehen. Kyrill schloss die Tür hinter ihr, bedeutete ihr dann mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen. Er führte sie in die Küche, wies ihr dort einen Stuhl zu. Elli setzte sich steif. Sie knetete nervös ihre Hände. Wie sollte sie das bloss hinter sich bringen? Nur beim Gedanken daran, was noch kommen würde, wurde sie vor Nervosität beinahe ohnmächtig.
„Möchtest du was trinken?“
Elli schüttelte den Kopf.
Kyrill goss sich ein Glas Brandy ein, setzte sich dann ihr gegenüber. „So, Eleonor.“
Im Gegensatz zu ihr wirkte er völlig entspannt, genauso wie vor sieben Tagen, als sie ihn im Cleopatra getroffen hatte. Seine lockere Haltung verärgerte Elli und liess sie nur noch verspannter werden. Nervös knetete sie den Saum ihrer Bluse zwischen den Händen.
„Erzähl mir etwas von dir.“
„Was?“, rief sie heiser aus.
„Erzähl mir etwas über dich.“
„Ich bin doch nicht zum Plaudern hergekommen!“
Elli funkelte Kyrill empört an. Sie wollte diese schreckliche Nacht so schnell wie möglich hinter sich bringen. Je schneller sie… damit anfingen, desto schneller wäre es vorbei.
„Ich wollte nur, dass du dich entspannst, das ist alles.“
„Ich bin entspannt!“
„Mhm, das sehe ich“, sagte Kyrill. Sein sarkastischer Tonfall liess auf das Gegenteil schliessen. Er goss sich ein zweites Glas Brandy ein, trank es in einem Zug.
„Deine Lieblingsfarbe? Liebstes Kuscheltier? Lieblingswetter?“
„Lassen Sie den Unsinn!“
„Jetzt da wir miteinander ins Geschäft kommen, kannst du mich ruhig duzen.“
Elli sprang von ihrem Stuhl auf.
„Wo ist das Bad?“, keuchte sie.
„Hm, nicht ganz das, was ich hören wollte.“ Kyrill deutete aus der Küche. „Gleich um die Ecke.“
Elli hastete auf die Toilette und verriegelte die Tür hinter sich. Hastig erleichterte sie sich. Was sie da tat war doch Wahnsinn! Sie konnte doch nicht einem wildfremden Mann, für den sie nichts als Verachtung übrig hatte, ins Bett folgen.
Elli drückte die Spülung, dann wusch sie sich die Hände. Sie wusste nicht, wie sie den Weg zurück in die Küche schaffte. Wie sie es schaffte, sich wieder Kyrill gegenüber zu setzen.
„Besser?“, erkundigte er sich, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen.
Elli gab nur ein undefinierbares Knurren von sich.
Kyrill grinste. „Was ist? Erzählst du mir nun etwas über dich oder schweigst du dich aus?“
Elli holte tief Luft. „Ich kann jetzt nicht. Ich kann unmöglich sprechen.“
Kyrill zuckte die Schultern. „Wie du willst. Wenn du gleich loslegen willst, beginnen wir eben sofort.“
Er blickte sie eindringlich an. „Mit einer Nacht meine ich zwölf Stunden.“
Elli nickte nur. Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen.
Kyrill warf einen Blick auf seine Uhr. „Das heisst für dich, bis morgen um sieben.“
Elli krächzte ihr Einverständnis mit einem knappen „gut“, wobei sie angestrengt den Kühlschrank hinter Kyrills Kopf fixierte.
Kyrills Mundwinkel zuckten. „Na, dann komm, Süsse.“
Er erhob sich. Langsam tat es Elli ihm gleich. Zögernd folgte sie ihm. Ihre Handflächen waren nass vor Schweiss, ihr Bauch schmerzte vor Aufregung. Für Janka, sagte sie sich stumm auf dem Weg in den ersten Stock, für Janka.
Kyrill führte sie in ein grosses, aufgeräumtes Schlafzimmer, steuerte geradewegs auf ein ordentlich gemachtes Bett zu.
„Soll ich die Läden offen lassen oder schliessen?“
Elli zuckte zusammen, als sie realisierte, dass Kyrill mit ihr gesprochen hatte.
„Was?“
„Ob ich die Läden schliessen soll oder nicht.“
„Schliessen!“, sagte sie wie aus der Pistole geschossen. Je dunkler es im Zimmer war, je weniger sie sehen konnte, desto besser.
Kyrill hob eine Augenbraue, sagte jedoch nichts. Er trat ans Fenster und schloss die Läden.
Elli beobachtete ihn. Das Blut rauschte ihr in den Ohren, als sie verfolgte, wie Kyrill im Halbdunkel ans Bett trat und die Decke zurückschlug. Ohne sich um Elli zu kümmern, streifte er sich Jeans und Hemd ab.
Elli wandte schnell den Blick ab, als sie erkannte, dass Kyrill keine Unterwäsche trug.
Die Laken raschelten, als sich Kyrill zu Bett legte.
„Die Abmachung war in meinem Bett. Nicht in meinem Zimmer.“
Elli holte tief Luft. Langsam, Schritt für Schritt, näherte sie sich dem Bett. Schliesslich setzte sie sich auf den äussersten Kantenrand und schlüpfte von dort aus hastig unter die Decke.
„Und nackt. Aber das kriegen wir schon noch hin“, drang Kyrills selbstbewusste
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: © by Desiree Cavegn
Bildmaterialien: © by Sven Lovis
Lektorat: Anna Kirschbaum (Korrektorat gemäss Schweizer Rechtschreibung)
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2012
ISBN: 978-3-95500-345-6
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Ale