Verdammt nochmal! Konnte er nicht endlich aufhören damit? Das war ja zum aus der Haut fahren! Wie sollte ich mich dabei konzentrieren können?
Ich hob den Blick von meinen Lehrbüchern und starrte auf meinen Bruder, der durchs Wohnzimmer tigerte wie ein Verrückter. Dabei drehte er einen Kreis nach dem anderen, umrundete den kleinen Holztisch, an dem ich versuchte zu lernen und meine kleine Schwester Bintou, die am Boden lag und überdimensionierte Häuser zeichnete. So überdimensioniert, dass der Boden einiges an Farbe abbekam. Auch meine Mutter wurde von Ronny umkreist, doch sie nahm es nicht wahr. Sie sass schlafend in einem Sessel, den Mund weit aufgesperrt, ein Bein über die abgewetzte Armlehne gelegt. Neben ihr stand eine Flasche Wodka.
„Verdammt nochmal, was soll ich bloss tun? Er wird mich umbringen! Ich weiss, dass er mich umbringen wird! Scheisse!“
Ich weiss, dass meine Familie nicht die klassische Bildvorlage für ein Ferienmagazin liefert: Mama und Papa umarmen sich und strahlen glücklich in die Kamera, während ihre Kinder, ein Mädchen und ein Junge, sich noch viel glücklicher am Strand vergnügen.
Ich stellte mir unwillkürlich vor, wie das Foto meiner Familie auf einem Ferienprospekt aussehen würde: Da wäre meine Mutter, die schnarchend auf einem Badetuch liegen würde, einige leere Flaschen Martini oder ähnliches neben sich. Dann mein Bruder Ronny, der gedankenverloren aufs Meer starren würde, weil er wieder mal irgendeinen Scheiss gebaut hatte und nicht wusste, wie er sich seinem selbstverschuldeten Elend entziehen konnte. Und dann die kleine Bintou, der einzige Lichtblick in unserer Familie, die eine Sandburg bauen würde. Sie würde auf dem Foto jedoch nicht wegen ihrer Unbeschwertheit auffallen, sondern wegen ihrer dunklen Hautfarbe, womit sie sich deutlich von Mutter, Ronny und mir unterschied. Natürlich würden alle annehmen, sie sei adoptiert. Aber die Kinder auf Ferienprospektcovers waren bestimmte nie adoptiert. Und auch Bintou nicht. Wer würde schon einer chronischen Alkoholikerin ein Kind zur Adoption freigeben?
Ach, ja und nicht zu vergessen, ich würde natürlich auch noch meinen Platz am Strand einnehmen, tief hinter meinen Büchern vergraben. Einen Vater würde es, wie man sich unschwer vorstellen konnte, auf unserem Foto nicht geben. Ein weiterer Grund dafür, dass unsere Familie nie glücklich von einem Ferienprospekt aus die Welt anstrahlen würde. Väter waren für Ferienwerbung nun mal obligatorisch.
Ich seufzte schwer. „Ronny! Ronny hör auf damit, hörst du?“
Aber mein Bruder hörte mich nicht. Stattdessen tigerte er weiter durchs Wohnzimmer und murmelte vor sich hin: „Scheisse. Diese Scheisse dampft zu heiss. Wie komm ich da wieder raus? Sie können jeden Moment hier sein. Dann bin ich so was von tot.“
„Ronny! Ronny, hast du schon mal was von „lautlosem Denken“ gehört?“, rief ich empört.
„Das ist das, was die meisten Leuten tun!“
Ronnys Gemurmel hatte den Schlaf meiner Mutter nicht gestört, doch meine wütenden Worte weckten sie. „Mein Güte, Viola. Kann man hier denn keine fünf Minuten schlafen?“
Es war jetzt vier Uhr am Nachmittag. Ich verzichtete darauf, Mutter zu informieren, dass sie bereits acht Stunden in ihrem Sessel lag. Das hätte unwillkürlich zu einem Streit geführt, weil Mutter natürlich fest davon überzeugt war, dass sie sich noch keine zehn Minuten „hingelegt“ hatte.
Ich war nicht in der Stimmung für Streit. Das war ich eigentlich nie. Ich schätzte Harmonie viel mehr als Gezänk, doch mit dieser Vorliebe hatte ich in meiner Familie einen schweren Stand.
Nur damit niemand denkt, ich würde freiwillig im Wohnzimmer mitten unter Verrückten lernen: Das Wohnzimmer war der einzige Raum, in dem man es temperaturmässig einigermassen aushalten konnte. Es war schlicht unmöglich, an einem Sommertag wie diesem, an dem man schon vom Nichtstun schwitzte, in einem Zimmer zu lernen, das der Sonne als liebstes Bestrahlungsziel diente und zufällig das meine war. Auch Ronnys Zimmer war um diese Zeit glühend heiss. Bintous Zimmer war keine Option, da sie ihres mit mir teilte. Und das Zimmer meiner Mutter- nun, das war eben das Wohnzimmer, wenn man so wollte. Die kleine, schlauchförmige Küche, in der man sich kaum um die eigene Achse drehen konnte, eignete sich zum Lernen ebenso wenig. Darin kriegte ich Platzangst.
Sozialwohnungen zeichneten sich nun mal nicht durch übermässige Fürstlichkeit aus.
„Ich kann so nicht lernen!“, rief ich, mit einem resignierten Blick auf Ronny.
„Wie soll man hier schlafen können? Ist ja mehr Betrieb als am Flughafen. Ich bin gestraft“, brummte meine Mutter. Danach liess sie sich von ihrem Sessel auf den Teppich fallen. Am Boden rollte sie sich zusammen und schlief sofort wieder ein.
Langsam aber sicher wurde ich verzweifelt. Schon letztes Mal hatte ich die Prüfung für ein Stipendium an der Uni nicht bestanden. Ich war auch kaum zum Lernen gekommen: Bintou hatte sich gerade den denkbar schlechtesten Zeitpunkt für eine Blinddarmentzündung ausgesucht. Wer brachte sie ins Spital und wer ging sie dort besuchen? Natürlich nicht Mutter. Und Ronny schon gar nicht.
Das Lernen war schliesslich zu kurz gekommen. Ich hatte die Prüfung nur ganz knapp nicht bestanden, doch ein Stipendium hatte ich nicht erhalten. Mir blieb noch ein Versuch im Januar und dann musste ich die Prüfung einfach bestehen. Ich war fest entschlossen, im Winter an der Uni anzufangen.
„Ronny! Hörst du endlich auf damit? Ich versuche hier zu lernen!“
Plötzlich stürzte sich Ronny zu mir. Er stemmte die Hände auf den Holztisch, senkte den Kopf, bis er sich mit mir auf Augenhöhe befand und funkelte mich gefährlich an. „Halt verdammt noch mal die Klappe, Prinzessin! Du kannst dir deine Bücher sonst wohin stecken! Was glaubst du eigentlich, was du den ganzen Tag lang tust, hm? Nicht einmal dein Scheissstipendiat hast du erhalten!“
Ich erblasste. Ich sah Ronny erschrocken an. So kannte ich ihn gar nicht. Ja, er litt zwar unter Stimmungsschwankungen, aber so ausfällig war er mir gegenüber noch nie geworden. Ich schluckte. Er rührte sich nicht von der Stelle, funkelte mich nur weiterhin böse an. In diesem Moment wurde mir plötzlich bewusst, wie gross er geworden war. Er mass bestimmt eins neunzig. Und dank seinem langjährigen Hobby, Krafttraining, war er ziemlich muskulös. Er wog bestimmt doppelt so viel wie ich. Früher hatten mich weder seine Grösse noch seine Kraft beeindruckt, doch jetzt bekam ich es plötzlich mit der Angst zu tun. Ich erkannte, dass Ronny nicht mehr einfach nur mein kleiner Bruder war. Unwillkürlich stellte ich mir vor, wie leicht Ronny mich verletzen könnte, wenn er nur wollte.
Ich war zwar mit meinen eins achtzig auch nicht gerade klein gewachsen, doch im Gegensatz zu Ronny war ich zierlich gebaut.
Ich starrte auf seine Unterarme, deren Venen nun in einem verärgerten Blau hervortraten. Nur schon seine Arme waren doppelt so breit wie meine. Ich schluckte. Ich versuchte es mit einer anderen Vorgehensweise.
„Ronny… Warum sagst du mir nicht, was los ist?“
Fragend blickte ich ihn an. Vielleicht würde er mir alles erzählen und dann endlich Ruhe geben. Vielleicht brauchte er einfach jemanden, dem er anvertrauen konnte, was er wieder für Mist gebaut hatte. Hatte er vielleicht wieder ein Auto aus der Nachbarschaft kurzgeschlossen? Hatte er wieder den Dackel der alten Frau Früh entführt um Lösegeld zu fordern? Oder hatte er sich ganz einfach mit dem dicken Billi geprügelt?
Ich hoffte, dass es nicht wieder die Sache mit dem Dackel war. Beim letzten Mal war zwar alles wie geplant gelaufen: Die alte Dame hatte die Tasche mit dem Lösegeld auf der Rutsche des nahgelegenen Kinderspielplatzes deponiert. Das Lösegeld war geschnappt worden und der Dackel von Frau Früh hatte den Weg zurück zu seiner Besitzerin gefunden. Doch ein zweites Mal würde Frau Früh dieses Spiel wahrscheinlich nicht mehr mitspielen. Es war schon erstaunlich genug, dass sie beim ersten Mal nicht gleich die Polizei verständigt hatte. Das musste daran liegen, dass Frau Früh sehr an ihrem Dackel hing. Schliesslich hatte sie niemanden mehr ausser Fritzi.
Die Dackelgeschichte hatte nur deshalb nicht in einem Desaster geendet, weil ich mich eingeschaltet hatte.
Es war wirklich anstrengend, Ronny von Schwierigkeiten fernzuhalten. Ich seufzte schwer, als Ronny mir keine Antwort gab. „Ronny, wenn es wieder der Dackel ist…“
In diesem Moment klingelte es an der Wohnungstür. Ich sah, wie alles Blut aus Ronnys Gesicht wich. Während einer seiner „Aktionen“ wurde Ronny manchmal sehr wohl nervös, doch so blass hatte ich ihn noch nie gesehen. Langsam bekam auch ich es mit der Angst zu tun. Ich spürte, dass Ronny diesmal ein wirklich grosses Ding gedreht haben musste.
„Sieh nach, wer es ist“, wies mich Ronny tonlos an. „Ich bin nicht zu Hause, verstanden?“
Ich nickte, nun selbst ein bisschen blass um die Nasenspitze. Da ich inzwischen zu angespannt war um zu lernen, konnte ich gerade so gut den Butler spielen. Doch an der Tür zögerte ich. Wem würde ich wohl gegenübertreten? Der Polizei? Dem dicken Billi? Oder Frau Früh?
Als ich endlich mit zitternden Händen die Wohnungstür aufschloss, wünschte ich, dass meine Familie eine dieser glücklichen Ferienprospektfamilien wäre. Solche Familien brauchten sich gar keine Sorgen zu machen, am wenigsten um die Polizei oder entführte Dackel. Solchen Familien ging es so gut, dass ihre Söhne nie im Leben auf die schiefe Bahn gerieten. Und auch wenn mal ein jugendlicher Fehltritt passieren sollte: Die glücklichen Väter und Mütter, die die Covers der Reiseanbietern zierten, wären sofort zur Stelle, um ihrem Nachwuchs aus der Patsche zu helfen.
Ich dachte an meine am Boden schlafende Mutter und schüttelte nur hilflos den Kopf.
Vorsichtig öffnete ich die Tür einen Spalt weit. Sofort wurde sie energisch aufgestossen, so dass ich mit einem Aufschrei rückwärts taumelte. Im Wohnzimmer hörte ich etwas rumoren: Wahrscheinlich Ronny, im Versuch, irgendwo in Deckung zu gehen. Die einzige Deckung, die es im Wohnzimmer gab, war allerdings hinter dem verschlissenen Kanapee.
„Schätzchen! Lass dich ansehen, meine Süsse! Eine richtige Lady bist du geworden. Aber wieso immer dieser traurige Blick? Männer mögen keine Trauermienen, Liebes.“
Vor Erleichterung bekam ich weiche Knie. Normalerweise war es keine besondere Freude Gina, Mutters einzige Freundin zu sehen, doch unter den gegebenen Umständen verspürte ich tatsächlich einen Anflug von Glückseligkeit. Es war eindeutig besser, die überdrehte Gina vor sich zu haben, als den offensichtlich furchteinflössenden Wer-auch-immer, der hinter Ronny her war. Nochmals mit einem blauen Auge davongekommen!
Wieder rumorte es im Wohnzimmer. Ronny hatte wohl beschlossen, dass die Luft rein war und war aus seiner Deckung hervorgekrochen.
„Da! Ein kleines Lächeln hat noch niemandem geschadet!“
Gina strahlte ihr künstliches Strahlen, als sie an mir vorbei in die Wohnung trat. Alles an Gina war künstlich. Ihr brauner Teint, ihr blondes Haar, der grosse Busen und die schlanke Statur. Nicht zu vergessen ihre Art zu sprechen, sich zu bewegen und Gefühle auszudrücken.
„Ist deine Mama da?“, fragte Gina, die mit mir, obwohl sie mich eine „Lady“ nannte, im selben Ton sprach wie mit der siebenjährigen Bintou.
Ich nickte und deutete mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer. „Im Wohnzimmer.“
Nicht, dass es schwer gewesen wäre, meine Mutter in unserer riesigen Wohnung zu finden.
Schon stöckelte Gina durch den engen Flur. Gina kannte Mutter von ganz früher, als die beiden noch zusammen gearbeitet hatten. Ja, es gab eine Zeit, da hatte Mutter tatsächlich noch gearbeitet. Nicht in einem besonders prestigeträchtigen Job, aber sie hatte gearbeitet und Geld verdient. Einst hatte Mutter noch Pläne und Träume gehabt. Aber spätestens seit meinem achten Lebensjahr hat sie alles aufgegeben. Sie entschied sich stattdessen für Alkohol und Sozialhilfe.
Ich warf die Tür ins Schloss und folgte Gina. Zurück im Wohnzimmer fiel mein Blick auf Ronny, der auf der Armlehne des Sofas sass. Schweissperlen standen ihm auf der Stirn. Seine Lider flatterten.
Etwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Je länger ich ihn anstarrte, desto nervöser wurde ich. Eine innere Stimme warnte mich, dass es diesmal nicht bloss um die alte Frau Früh und ihren Dackel oder um den dicken Billi ging. Ich spürte, wie meine Handflächen feucht wurden.
Gina hob derweil Mutter vom Boden auf und platzierte sie wieder in ihrem Sessel wie eine Stoffpuppe. Dabei quasselte sie ununterbrochen. Ich hörte das Wort „Shoppingtour“.
Als ob Mutter Geld zum Shoppen gehabt hätte! Es musste auch Gina bewusst sein, dass sie für sämtliche Ausgaben einer solchen „Shoppingtour“ selbst würde aufkommen müssen. Doch wenn Gina Mutter auf eine Shoppingtour mitnehmen wollte, umso besser. Dann konnte ich mich ungestört mit Ronny unterhalten. Nicht, dass Mutter unsere Konversation belauscht hätte. Sie befand sich meistens sowieso in einer anderen Welt. Aber Ronny wäre zumindest ein bisschen entspannter, wenn Mutter ausser Haus war.
Ich nahm den Blick von Ronny, der sich gerade das Haar raufte.
„Geht ihr shoppen?“, fragte ich Gina hoffnungsvoll.
Sie beantwortete meine Frage nicht. „Oh, Liebes. Beinahe hätte ich‘s vergessen. Ich hab euch allen etwas mitgebracht.“
Ich starrte Gina nur stumm an.
„Dank einem besonders vermögenden Klienten.“ Gina zwinkerte mir verschwörerisch zu.
„Sieh mal nach, was in der Tragtasche ist? Eines für jeden von euch. Sie sind angeschrieben.“
Heute war eindeutig nicht mein Glückstag. Warum konnte Gina nicht einfach mit Mutter verschwinden? Stattdessen hatte sie uns jetzt auch noch ein Geschenk mitgebracht, für das sie natürlich überschwänglichen Dank erwartete. Gina brachte uns ab und zu Geschenke mit, im Austausch dafür, dass wir sie mit den Worten „Gina, du bist einfach die Beste“ lobten.
Widerwillig öffnete ich die Tragtasche und verteilte die Geschenke, als wäre es Weihnacht. Ronny rührte sein Geschenk nicht mal an. Einzig Bintou freute sich.
Ronny war in Gedanken meilenweit weg. Ich riss sein Geschenk schnell für ihn auf, als Gina Mutters Füsse in ein Paar Absatzschuhe steckte. Ronny erhielt ein buntkariertes Hawaiihemd, Bintou einen Bastrock genau wie ich, nur dass meinem Geschenk noch ein farbiger, mit Blüten besetzter BH, der auch als Bikinioberteil durchgegangen wäre, beigelegt war. Bintou zeigte als einzige ehrliche Freude an ihrem Geschenk. Meine war geheuchelt und Ronny heuchelte nicht einmal. Er starrte schlicht ins Leere.
Eilig umarmte ich Gina. „Gina, du bist einfach die Beste“, hauchte ich, in der Hoffnung, sie würde endlich verschwinden. Ich musste mich dringend um Ronny kümmern, bevor er auf dumme Gedanken kam. Dies war ein Ausnahmefall. Noch nie war eine Situation mit Ronny so brenzlig gewesen. Wenn Gina und Mutter nur endlich verschwinden würden!
Aber meine Hoffnung war vergeblich. Gina bestand darauf, dass wir alle unsere Geschenke „anzogen“. Als mir bewusst wurde, dass dies der einzige Weg war, Gina los zu werden, hastete ich ins Bad, quetschte mich in den Bastrock und zog mir den Blüten-BH an. Glücklicherweise hatte Bintou ihren Rock bereits an, als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte. In einem unbeobachteten Augenblick, als Gina nach Mutters Handtasche suchte, steckte ich schnell Ronnys Arme in sein Hawaiihemd.
Plötzlich bemerkte ich Mutters eindringlichen Blick auf mir. Im nächsten Moment rief sie zu Gina: „Gina, wieso krieg ich keines dieser Dinger? Die sehen scheiss heiss aus!“
Als Gina endlich Mutters Handtasche gefunden hatte, kehrte sie so keuchend ins Wohnzimmer zurück, als hätte unsere Wohnung die Grösse eines Palastes, den sie eben rennend durchquert hatte. Gina beruhigte Mutter, meinte, sie würden nun zusammen shoppen gehen und Mutter könne so viele Baströcke kaufen, wie sie wolle. Doch auch jetzt machte Gina noch keine Anstalten, aufzubrechen. Stattdessen zückte sie einen Fotoapparat, knipste jeden von uns einzeln ab und meinte, wir sähen alle umwerfend aus. Dann endlich, als ich vor Ungeduld beinahe zu hüpfen begann, legte sie stützend einen Arm um Mutter. Zusammen schritten sie in den Korridor. Als die Wohnungstür hinter ihnen ins Schloss fiel, schloss ich vor Erleichterung die Augen. Schnell sprang ich zur Tür und verriegelte sie sicherheitshalber.
Dann kehrte ich ins Wohnzimmer zurück. Mir wurde bewusst, dass ich noch immer den Bastrock und das Blümchenoberteil trug. Ich musste schrecklich aussehen! Ich hätte mich gerne noch umgezogen, bevor ich mit Ronny sprach, doch ich erkannte, dass das eine schlechte Idee gewesen wäre. Ronnys Augen sahen glasig aus, als hätte er Fieber und Schweissperlen rannen ihm die Schläfen hinunter. Also setzte ich mich neben ihn aufs Kanapee. „Ronny? Ronny, bitte sag mir, was los ist!“
Er sah mich an, als würde er durch dichten Nebel blicken und müsste sich äusserst konzentrieren, um etwas zu erkennen. Er blinzelte. „Ronny, bitte“, sagte ich flehentlich.
„Was? Was willst du eigentlich von mir?“
„Sag mir einfach, was los ist!“
„Wieso? Was willst du schon tun, hm? Du hast doch keine Ahnung von nichts ausser deinen Scheissbüchern.“
„Ist es der dicke Billi?“, fragte ich, beinahe hoffnungsvoll. Erst vor kurzem hatte ich den dicken Billi auf die Lippen geküsst. Dies war Billis Bedingung gewesen, damit er auf eine Messerstecherei mit Ronny verzichten würde. Ronny hatte Billis Gefühle nämlich mit Schimpfwörtern, die auf Billis Körperumfang abzielten, schwer verletzt. Als ich meine Lippen auf Billis gedrückt hatte, hatte er meine Schultern gepackt und sie umklammert, als wollte er sie nie wieder loslassen. Es war schrecklich gewesen. In dem Moment war mir klar geworden, dass ich den dicken Billi nie wieder küssen würde, nur um den Hintern meines Bruders zu retten.
„Oder hast du wieder den Dackel entführt? Nun sag endlich etwas“, fuhr ich Ronny wütend an, als er noch immer nichts sagte.
Ronny erhob sich. Wütend schlug er mit den Fäusten auf den Holztisch ein. Ich zuckte zusammen. Bintou sah auf und starrte Ronny verwundert an.
„Was glaubst du eigentlich, hm?“, rief Ronny erhitzt. „Dass ich mich noch immer auf dem beschissenen Niveau von Billi oder diesem bescheuerten Dackel befinde? Mit den beiden habe ich doch längst abgeschlossen!“
Ich zwang mich, ruhig zu bleiben. „Gut“, sagte ich nur. „Gut.“
Dann wartete ich ab, da ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. Schweigend sass ich auf der Couch, während Ronny in seinem Hawaiihemd erneut durchs Wohnzimmer tigerte. Bintou und ich folgten ihm wortlos mit dem Blick. Plötzlich aber blieb er stehen, drehte mir den Kopf zu und fixierte mich so eindringlich, dass mir unwohl wurde. „Der neue Job“, sagte er. „Es hat damit zu tun.“
Der neue Job! Ich wusste, dass Ronny vor ein paar Wochen einen Job als Türsteher angenommen hatte. Einen Job, der unregelmässige Nachtschichten mit sich brachte. Ronny bewachte dabei den Eingang eines Casinos, dessen Namen ich bereits wieder vergessen hatte und hielt unliebsame Gäste fern.
Ronny hatte sich in letzter Zeit verändert. Um genau zu sein hatte seine Veränderung damit begonnen, dass er den Job als Türsteher angenommen hatte, wie ich nun zu erkennen glaubte. Ronny war öfters gereizt, nervös, aber gleichzeitig auch sehr angeberisch. Ich hegte den Verdacht, dass er in letzter Zeit irgendwelches Zeug nahm, etwas, das ihm nicht guttat, aber ich hatte keine Ahnung, was das hätte sein können.
„Ronny“, sagte ich zögernd, „ich glaube es ist wirklich besser, wenn du diesen Türsteherjob nicht länger machst.“
Der Job als Türsteher wirkte sich auch negativ auf Ronnys Lehre als Koch aus. Sein Lehrmeister hatte mehr als einmal angerufen und sich über Ronnys Müdigkeit bei der Arbeit beschwert. Ich hatte stets versprochen, dass ich mit Ronny „darüber reden“ würde. Das habe ich auch getan. Ich habe ihn mehrmals gedrängt, nicht mehr als Türsteher zu arbeiten, aber Ronny hatte nie auf mich gehört. Viola, lass mich gefälligst in Ruhe. Ich bin achtzehn und weiss, was ich tue, verflucht nochmal, war alles, was ich jeweils zu hören bekam.
„Den bin ich sowieso los“, hörte ich Ronny knurren.
Was? Was sollte denn das nun wieder heissen? Davon hatte mir Ronny kein Sterbenswort erzählt. Ich wusste nicht, ob ich nun erfreut oder besorgt darüber sein sollte, dass Ronny nicht mehr für dieses Casino arbeitete.
Ronny trat langsam zu mir. Fragend blickte ich zu ihm auf.
„Ich habe den Jackpot geklaut“, sagte er schliesslich. Plötzlich war er ganz ruhig. Als ob nun, da die Worte laut ausgesprochen waren, eine grosse Last von seinen Schultern genommen worden wäre. Ich starrte ihn nur schweigend an, die Augen weit aufgerissen.
Ronny grinste breit. „So was Schlimmes kannst du dir gar nicht vorstellen, nicht wahr, Prinzessin?“
„Ich bin auch eine Prinzessin“, murmelte Bintou kläglich, doch weder Ronny noch ich schenkten ihr Beachtung. Ronny war zu sehr mit seinem Elend beschäftigt und ich wie gelähmt vor Schock. Was hatte Ronny da gerade gesagt? Ich konnte seine Worte kaum glauben. Ich hoffte, dass es sich um einen schlechten Scherz handelte. Doch ich wusste instinktiv, dass dem nicht so war.
Erzähl mir genau, was geschehen ist“, verlangte ich von Ronny zu erfahren.
Es war ein Samstagabend. Oder besser gesagt, die Nacht auf Sonntag. Im Casino „Hell’s seduction“, die „Verführung der Hölle“, wurde samstags Lotto gespielt. Dazu ging man zum Lottostand, der abseits von den Spieltischen stand und kaufte sich ein Los im Wert von zwanzig Euro.
„Hell’s seduction“ war nun mal kein Ort für arme Schlucker. Alle, die ein Los kauften, mussten ein Formular ausfüllen, mit Angaben zu ihrer Person und ihrer Adresse. Dieses Formular wurde anschliessend in die sogenannte Schatzkiste geworfen, ein goldenen Truhe mit einem kleinen Schlitz.
Um vier Uhr morgens öffnete eine „Zauberfee“ die Schatzkiste und zog zehn Formulare. Dies waren die Sieger des Lottos. Sie durften ihren Gewinn jeweils bar mit nach Hause nehmen.
Das Lottospiel im „Hell’s seduction“ war sehr beliebt. Es wurde pompös inszeniert, die Gewinne waren hoch, obwohl sie durch zehn geteilt wurden. Auch in jener verhängnisvollen Nacht, als Ronny sich zu dem Unglaublichen entschloss, stand viel Geld auf dem Spiel.
Es war kurz vor vier Uhr morgens. Ronnys Schicht als Türsteher war beendet. Er ging in die Casinogarderobe, um seine Arbeitskleidung abzulegen und in Jeans und Hemd zu schlüpfen. Als er aus der Garderobe trat, wurden gerade die Lotto-Einnahmen an ihm vorbeigeführt: Die Lottofee trug eine kleine, gepanzerte Kiste, mit sämtlichen Zwanzig-Euro-Scheinen, die im Verlaufe der Nacht zusammengekommen waren. Die Fee wurde von zwei bewaffneten Bodyguards begleitet. Ronny wusste, wohin das Geld gebracht wurde: Ins Arbeitszimmer des Chefs, der das Geld zählen und in elf gleich grosse Anteile unterteilen würde: Zehn Anteile würden danach in Briefumschläge gesteckt, die den Lottogewinnern übergeben wurden. Den elften Anteil behielt der Chef für sich selbst.
Ronny hatte keinen Plan. Alles, was er tat, geschah zufällig. Er folgte der Lottofee und den Bodyguards unauffällig zum Arbeitszimmer des Chefs. Die Fee drehte auf dem Weg durchs Casino einmal den Kopf über die Schultern, entdeckte Ronny und warf ihm ein Lächeln zu. Ronny erwiderte das Lächeln. Die Lottofee und er kannten sich. Schliesslich fiel die Aufgabe, die Lottofee mit dem Safe ins Arbeitszimmer des Chefs zu begleiten, manchmal auch Ronny zu.
Nun drehten sich auch die Bodyguards zu Ronny um. Auch sie kannten ihn, nickten Ronny nur knapp zu, ohne ihn weiter zu beachten. Er erwiderte das Kopfnicken. Er war bereits in Alltagskleidung. Es machte den Anschein, als würde er nur mit einem Ziel durch das Casino schreiten: Um es zu verlassen.
Stattdessen schlich Ronny weiter hinter der Lottofee und den Bodyguards her. Diese erreichten das Büro des Chefs, schlossen die Tür auf und traten ein. Da handelte Ronny blitzschnell: Noch ehe die Tür ins Schloss fallen konnte, sprintete er lautlos hinter den anderen dreien ins Arbeitszimmer.
Ronny kannte das Büro des Chefs. Er wusste, dass links neben der Tür ein Bücherregal stand. Er wusste, dass es zwischen dem Bücherregal und der Wand einen kleinen Abstand gab, gross genug, um sich hinter dem Regal zu verstecken.
Die Lottofee und die Bodyguards traten geradewegs in die Zimmermitte. Dort stellten sie den Safe auf den Schreibtisch. Ronny spähte zwischen Bücherrücken hindurch und beobachtete alles von seinem Versteck aus.
„Okay, Boss. Die Knete ist hier“, hörte er die Lottofee sagen. Daraufhin kicherte sie. „Okay, Jungs. Jetzt geht’s nach Hause!“, sagte sie beschwingt.
Die drei traten zur Tür zurück. Ronny hielt den Atem an. Doch sie sahen ihn nicht. Und keiner von den dreien kam auf die Idee, hinter dem Bücherregal nach einem möglichen Eindringling zu suchen. Bis anhin war der Safe auch noch nie geklaut worden.
Kurz darauf fiel die Tür ins Schloss. Ronnys Herz raste, seine Handflächen waren schweissnass. Er wusste nicht, was ihn dazu angetrieben hatte, sich im Zimmer des Chefs zu verstecken. Doch nun war er hier: Und was noch viel besser war: Der Chef war nicht hier. Die Lottofee hatte mit sich selbst gesprochen!
Dies war jedoch eine Ausnahme, ein weiterer, angenehmer Zufall für Ronny. Denn meistens wartete Kiran Noack in seinem Arbeitszimmer bereits auf den Safe. Doch wie es das Schicksal wollte, befand er sich an diesem Abend noch nicht in seinem Büro.
Langsam trat Ronny aus seinem Versteck. Sein Herz klopfte laut, sein Hemd war schweissnass. Unbewusst wusste er bereits, was er tun wollte. Er schlich zum Schreibtisch, als würde dieser ihn magisch anziehen. Dann packt er den Safe, eine kleine, unscheinbare Kiste. Er versteckte sie unter seinem weiten Hemd und steuerte zur Tür. Er wusste noch, dass er dachte, es könne nicht so einfach sein, den Lottogewinn zu klauen. Doch einfach war es. Sehr einfach, sogar. Die Bürotür war zwar von aussen abgeschlossen worden, liess sich jedoch von innen problemlos aufschliessen. Schon stand Ronny wieder im Casino, diesmal mit viel Geld beladen. Auf dem Weg zum Ausgang bemühte er sich, festen Schrittes aber zugleich ungezwungen durch das Casino zu schlendern, wie jemand, der sich auf seinen Feierabend freute und nichts zu verbergen hatte.
Es trennten ihn nur noch wenige Meter vom Ausgang, als er hörte, wie jemand seinen Namen rief.
„Ronny!“
Ronny erstarrte, als ihm bewusst wurde, dass die Stimme niemand anderem gehörte, als dem Chef persönlich. Wie in Zeitlupe drehte er sich um.
„Schönen Feierabend!“, rief ihm Kiran nach, obwohl es mittlerweile halb fünf war und demnächst der Morgen anbrechen würde.
Ronny stotterte irgendwas in der Art „danke gleichfalls“, wandte sich wieder ab und verliess das Casino.
Als reicher Mann.
Ich presste eine Hand vor den Mund, als Ronny geendet hatte.
„Ich habe nur eines vergessen“, fügte Ronny tonlos hinzu.
Fragend schaute ich ihn an. „Es gibt Kameras. Das ganze verdammte Casino ist voller Kameras. Kein Winkel, der nicht gefilmt werden würde. Selbst die Klotüren werden gefilmt.“
Ich erbleichte, als mir bewusst wurde, was dies bedeutete. „Dann…. Dann wissen sie also, dass du es warst?“
„Meine schlaue grosse Schwester“, spöttelte Ronny.
Meine Gedanken rasten. Ronny hatte den Safe in der Nacht auf Sonntag entwendet. Heute war Montag. Das hiess wahrscheinlich, dass der Chef des Casinos am Sonntag damit beschäftigt gewesen war, die Bänder der Überwachungskameras zu studieren. Aber spätestens heute musste er das richtige Band gefunden haben, oder? Spätestens heute würde er Ronny wegen Diebstahls anzeigen.
Erst als Ronny den Kopf schüttelte, wurde mir bewusst, dass ich die letzten Worte laut ausgesprochen hatte.
„Nein, das wird er nicht“, sagte Ronny ruhig.
Ich starrte fragend auf sein farbiges Hawaiihemd. „Was meinst du damit?“, fragte ich heiser. Doch eigentlich wollte ich es lieber nicht wissen.
„Kiran Noack ist nicht der Typ, der die Polizei einschaltet. Verstehst du?“
„Oh, mein Gott“, murmelte ich. Ich schlug die Hände vors Gesicht.
„Viola? Was hast du denn?“, fragte Bintou. Einen roten Malstift in der Hand musterte sich mich fragend.
Schnell liess ich die Hände sinken. „Nichts, nichts, Bintou, alles okay.“ Ich zwang mich, zu einem strahlenden Lächeln, so künstlich wie jenes von Gina.
Jetzt wusste ich zumindest, warum Ronny so nervös gewesen war, als es geklingelt hatte. Er erwartete, dass Kiran Noack persönlich vorbeischauen würde. Während Ronny nun plötzlich ruhiger wurde, übertrugen sich seine frühere Nervosität und Angespanntheit auf mich. Es kam mir beinahe so vor, als hätte ich den Lottoerlös geklaut. Mein Herz hämmerte in meiner Brust und meine Handflächen liefen feucht an. Ich stand auf und drehte Kreise im Wohnzimmer wie zuvor Ronny. Ich musste mich einfach bewegen. Musste etwas tun.
„Es ist ganz einfach, Ronny“, hörte ich mich schliesslich mit belegter Stimme sagen. „Sobald dein Chef hier klingelt, gibst du ihm den Safe zurück, entschuldigst dich, beteuerst, wie Leid es dir tut, dass du dir auch nicht erklären kannst, was in dich gefahren ist, und so weiter und so fort. Den Job bist du zwar los, aber wenn du Glück hast, lässt dein Chef nochmals Gnade vor Recht ergehen.“
„Meine Schwester, die Träumerin. Es geht nicht so einfach, wie du dir das vorstellst, Viola.“
Ich runzelte die Stirn. Ich fand meinen Plan gut.
„Ich glaube nicht, dass Kiran den leeren Safe zurück haben möchte“, erklärte Ronny trocken.
Alles Blut wich aus meinem Gesicht. Wie eine Stoffpuppe liess ich mich in den Sessel fallen, in dem zuvor Mutter geschlafen hatte.
„Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“
Ronny zuckte die Schultern. „Ich hab mit dem Geld einen Wagen gekauft. Einen klasse Schlitten, echt. So einen Wagen hast du noch nie…“
Abwehrend hob ich die Hände. „Schon gut, schon. Ich verstehe, was du meinst.“
Das Geld war weg. Das konnte doch nicht sein! War dieser hirnlose Idiot im Hawaiihemd wirklich mein Bruder? Was, wenn sein Chef vor unserer Tür stehen würde? Ein Chef, der die Polizei lieber aus dem Spiel hielt? Wahrscheinlich gehörte der Typ zu irgendeiner Mafia. Und die Mafia war gnadenlos. Ich hatte schon Filme gesehen, da schnitten sie einem die Finger ab, wenn…
Ich stand auf und hastete in die Küche. Ich brauchte etwas zu trinken. Schnell! Ich riss den Kühlschrank auf.
Gähnende Leere.
Schliesslich drehte ich einfach den Wasserhahn auf und trank ab dem Hahn. Das kühle Wasser wirkte seltsam beruhigend.
Als ich Schritte hinter mir hörte, verschluckte ich mich vor Schreck. Ich fuhr herum, ohne den Wasserhahn zuzudrehen. Doch es war nur Ronny.
„Ich wäre ja geflohen“, erklärte er mir, als hätte ich ihn gefragt, warum er es nicht getan hatte. „Aber diese Typen hätten mich auf ewig verfolgt. Ausserdem kann ich meinen neuen Wagen erst Morgen abholen. Und ich habe kein Geld. Ich…“
Plötzlich brach er ab.
Blass und fiebrig starrte er mich an. Nervös knetete er die Hände. „Viola, was machen wir jetzt?“
Ja, genau. Nicht, dass ich je auf die bescheuerte Idee kommen würde, einen Mafiagangster auszurauben. Aber wen kümmerte das schon? Dank Ronny sass ich nun mitten drin in der Kacke. Ich hatte nämlich auch diesen Film gesehen, in dem die Mafia die Schwester eines Betrügers verfolgte, weil der Betrüger selbst plötzlich wie vom Erdboden verschwunden war.
Ich stand reglos in der Küche. Meinen Bastrock und den Blümchen-Bikini hatte ich schon längst vergessen. „Ich…äh… ich bin nicht sicher, Ronny“, stotterte ich.
Nicht sicher? Ich hatte keine verdammte Ahnung!
In diesem Moment klingelte es an der Wohnungstür.
Ronny und ich standen reglos in der Küche. Wir starrten uns an. Stummer Schreck spiegelte sich in unseren Augen wider. Hinter mir hörte ich noch immer das Wasser fliessen. Der Wasserhahn! Ich wollte ihn zudrehen, doch ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Ich war wie erstarrt. Obwohl ich normalerweise froh war, wenn Mutter nicht zu Hause war, da uns dann ihre Nörgeleien erspart blieben, hoffte ich nun, Gina und Mutter wären an der Tür. Aber ich spürte instinktiv, dass dieser Wunsch kaum in Erfüllung gehen würde.
Ich hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde. „Bintou!“, flüsterte ich entsetzt. Dann vernahm ich auch schon ein kehliges Lachen. „Na, wen haben wir denn da?“, fragte eine tiefe, dunkle Stimme. „Eine Hula-Hula-Tänzerin“, antwortete eine knarrende Stimme, die im Gegensatz zur ersten Stimme äusserst unangenehm klang. Sie sandte mir sofort einen Schauer über den Rücken. Sie klang, als ob jemand mit Kreide über eine Wandtafel kratzen würde. „Ich bin Bintou“, stellte sich Bintou höflich vor, während Ronny und ich uns in der Küche noch immer nicht von der Stelle rührten. Meine kleine Schwester stellte sich in aller Höflichkeit den dunkelsten Gestalten des Untergrundes vor! Mein Herz setzte beinahe aus vor Schreck. „Sie ist Bintou!“, rief die kratzige Stimme amüsiert aus. „Ein richtiger Hula-Hula-Name.“
Die kratzige Stimme lachte laut los, begeistert ab sich selbst, als hätte sie den Witz des Jahres gerissen. Ich presste die Lippen zusammen. Ich wusste, dass ich zur Tür hätte eilen sollen, um Bintou zu beschützen, doch es wollte mir beim besten Willen nicht gelingen. Es war, als ob ich am Küchenboden festgewachsen wäre. Ich konnte mich einfach nicht rühren. Ronny schien es genau gleich zu gehen.
„Bei dir ist wohl niemand zu Hause, Bintou?“ Dies war die angenehmere der beiden Stimmen. Dunkel und tief hatte sie zwar etwas Bedrohliches an sich, doch ich war mir sicher, dass sie in einer weniger prekären Situation auch sehr beruhigend hätte wirken können. Ich konnte mir nicht erklären, warum mir in meiner misslichen Lage ausgerechnet dieser Gedanke durch den Kopf schoss.
„In der Küche“, antwortete Bintou unbeschwert.
Die Wohnungstür fiel mit einem Knall ins Schloss. Dann erklangen schwere Schritte. Da unsere Wohnung wie bereits erwähnt nicht gerade durch ihre Grösse auffiel, gelangten die beiden Neuankömmlinge mit zwei grossen Schritten in unsere Miniküche. In der schlauchförmigen Küche war es nun noch beengender als sonst. Ronny und ich standen noch immer zu Salzsäulen erstarrt und rührten uns nicht, selbst dann nicht, als sich die beiden Männer vor uns aufbauten. Ich starrte sie an, als ob sie Aliens wären. Noch nie hatte ich echte Mafiatypen gesehen. Oder vielleicht hatte ich das, jedoch ohne mir darüber im Klaren zu sein. Diese beiden, entschied ich, sobald sie mir gegenüberstanden, waren unzweifelhaft Angehörige der Unterwelt und zwar von der ganz hartgesottenen Sorte. Einer der beiden, der mit der kratzigen Stimme, trug Bintou im Arm. Als ich das sah, wurde mir schwindlig. Als ich die irritierende Stimme hörte, die auf Bintou einsprach und irgendetwas über Hula Hula erzählte, gaben meine Knie beinahe unter mir nach.
„Wenn ich's nicht besser wüsste, würde ich sagen, wir wurden bereits erwartet“, sagte der zweite der beiden, mit der vollen, dunklen Stimme. „Oder etwa nicht, Ronny?“
Ich wusste sofort, dass dies Ronnys Chef war. Er strahlte eine Autorität aus, die sich sofort über die ganze Küche legte. Die Küche schien plötzlich nicht mehr uns, sondern Ronnys Chef zu gehören. Als der Chef zwischen mir und Ronny hindurch trat, zuckte ich zusammen. Meine erste Regung, seit die Männer an unserer Tür geklingelt hatten. Ich hielt den Atem an. Jetzt stand der Chef hinter mir, doch ich wagte nicht, mich umzudrehen, aus Angst davor, was ich sehen würde. Würde er seine Messersammlung auf der Anrichte ausbreiten? Bestimmt würde er die Messer noch polieren, ehe er…
Plötzlich erkannte ich, dass sich etwas verändert hatte im Raum. Was war es? Was war anders? Der Wasserhahn. Der Wasserhahn war zugedreht worden! Der Chef trat wieder zwischen Ronny und mir vorbei zu seinem Kollegen, der Bintou im Arm hielt. Ich stiess gepresst den Atem aus. Das Polieren der Messersammlung war vorerst aufgeschoben worden. Aus den Augenwinkeln musterte ich Bintou besorgt, die sich in den Armen des Kollegen des Chefs nicht unwohl zu fühlen schien. Bintou hatte ja auch keine Ahnung, um wen es sich bei diesem Besuch handelte.
Eindringlich musterte ich den Typen mit der kratzigen Stimme. Ein richtiger Gangstertyp. Er hatte eine Glatze, schiefe Zähne und eine krumme Nase, die ihm wahrscheinlich in irgendeinem Showdown gebrochen worden war. Zudem erstreckte sich eine Narbe über seine linke Wange. Er war riesig, etwa zwei Meter gross, grösser als der Chef selbst, der bestimmt auch eins neunzig mass. Zudem war der Kollege so breit, dass er die ganze Küchentür ausfüllte. Er schnitt uns eindeutig den Fluchtweg ab. Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte. Wir wären sowieso nicht geflüchtet, wo sich der Kollege doch Bintou als Geisel hielt.
Wieder konzentrierte ich mich auf Bintou. Ich wusste, dass ich sie dem Kollegen abnehmen musste, doch noch immer konnte ich mich nicht bewegen.
„Wer ist das, Ronny?“, verlangte der Chef nun zu wissen, wobei er mit einem Kopfnicken auf mich deutete. Wie war doch gleich sein Name? Ich versuchte mich, an Ronnys Worte zu erinnern, doch es war fast unmöglich, unter dem kühlen Blick des Chefs einen klaren Gedanken fassen zu können.
Kiran, erinnerte ich mich schliesslich. Kiran irgendwas. Ich starrte ihn bewegungslos an. Kiran war der Typ mit der melodischen Aussprache. Na ja, grundsätzlich jedenfalls. Wenn seine Stimme nicht gerade so messerscharf klang wie eben, als er sich nach mir erkundigt hatte.
Ich musterte ihn verstohlen. Er trug kurzes schwarzes Haar. Seine Augen waren so kalt und blau wie ein Bergsee. Auch er war kräftig gebaut, doch im Gegensatz zu seinem Schwarzenegger-Kollegen bewegte er sich geschmeidig wie ein Panther. Er sah gut aus, wenn man auf gefährliche Attraktivität stand.
„Ist das dein kleines
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Desiree Cavegn
Bildmaterialien: Sven Lovis
Lektorat: Anna Kirschbaum
Tag der Veröffentlichung: 16.04.2012
ISBN: 978-3-7309-7457-5
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Dodo