Auf seiner Visitenkarte stand: Magnus von Hollerdingen, Photograph. In seinem Rucksack schleppte er die teuerste und modernste Fotoausrüstung mit sich herum, die für Geld zu haben war. Aber das änderte nichts daran, dass er schon seit einer geschlagenen Stunde durch diesen Wald in Nordfinnland stolperte, ohne auch nur ansatzweise ein gutes Foto geschossen zu haben. Das Mückenspray wirkte auch nicht. Wunderbar.
Links von ihm lag ein umgestürzter Baum. Im Schein der Mitternachtssonne sah er verwunschen aus, so als ob sich zwischen seinen Wurzeln das Tor zu einer anderen Welt befinden müsste. Nur an diesem einen Tag im Jahr trafen die Sonnenstrahlen um Mitternacht in diesem bestimmten Winkel auf den Stamm der toten Fichte und ließen aus Schatten in den Ritzen der Rinde ein Muster von geheimnisvollen Zeichen entstehen.
Magnus von Hollerdingen merkte nicht, dass er gerade an einem perfekten Motiv vorbei lief. Er fragte sich, wann er endlich etwas schönes für seinen Bildband finden würde. Diese ganze Finnlandreise schien ein einziger Misserfolg zu werden. Schon die Sprache: All diese Ös und Äs und Üs klangen sinnlos und lächerlich in seinen Ohren. Er hatte versucht, wenigstens ein paar Wörter Finnisch zu lernen, aber schnell wieder aufgegeben. Englisch zu sprechen war auch nicht viel einfacher: Die Finnen versteckten jede Aussage hinter einem Schutzwall aus unverständlichem Akzent.
Während der selbsternannte Profiphotograph noch darüber sinnierte, ob es vielleicht besser sei, umzukehren und sofort abzureisen, wurden die Schatten auf der Rinde der toten Fichte tiefer. Sie tranken das Licht der Mitternachtssonne. War da eine Spur von grün an den längst verdorrten Zweigen? Streckten die Wurzeln sich vielleicht etwas weiter in den Himmel als vorher? Und war wirklich Erde dazwischen, oder etwas anderes?
Hätte Magnus von Hollerdingen nach links geschaut, dann wäre seine Zukunft anders verlaufen. Aber er war zu sehr mit seinen zahllosen Mückenstichen beschäftigt. Deshalb bemerkte er auch nicht das Leuchten, das zwischen den knotigen Wurzelenden hervorzuströmen begann. Er hätte das beste Foto seines Lebens schießen können, wenn er jetzt seine Kamera aus der Tasche geholt hätte. Denn das Leuchten wurde intensiver, und gleichzeitig wärmer, und dann versiegte es plötzlich. Die Wölfin stand zwischen den knotigen Wurzeln des toten Baumes und schüttelte sich. Dann stieß sie ein freudiges Kläffen aus und schnürte los, weg von dem Baum und weg von dem Mann, der von alldem nichts bemerkt hatte.
Ihr Weg führte sie in einem weiten Bogen zuerst nach Westen, dann nach Süden, zum See. Auch Hollerdingen wollte zu diesem See. Weil er den direkten Weg ging, stand er am Nordufer, noch bevor die Wölfin das Südufer erreichte.
Texte: der Text gehört mir
Bildmaterialien: gehört jemandem, der sich auf flickr.com "Näystin" nennt
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2012
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