Als er aus dem Zug trat, war er ein Fremder. Der Beton unter seinen Füßen klang anders als zu Hause. Härter. Und kälter. Falls Beton so klingen kann, dachte er und lächelte dann schief und nur zu sich selbst. Er zerrte seinen Koffer so hastig aus dem Zug, dass er ihm auf dem Bahnsteig vor die Füße fiel. Ungelenk stellte er ihn wieder auf. Er war leicht, zu leicht für ein Leben von dreißig Jahren. Aber er hatte auch nicht viel Zeit zum Packen gehabt. Wenig war ihm in der Eile eingefallen, was es wert gewesen wäre, mitgenommen zu werden. Ein paar Hosen, Hemden, Unterwäsche, einige Notizbücher und die kleine Buddhastatue von einer verflossenen Geliebten, die er tatsächlich geliebt hatte. Sonst nichts.
Man könnte ihm vorwerfen, er wäre pathetisch, wenn er einem bei einem zufälligen Kaffee sagen würde, er wolle ein neues Leben beginnen. Ihm war bewusst, dass dieser Satz schon viel zu häufig in diversen Büchern und Seifenopern gefallen war. Man könnte es aber auch lassen, ihm interessiert ins Gesicht und seine grünen Augen gucken, und ihm und seinem neuen Leben eine Chance geben. Oder man könnte ihn nach seiner Vergangenheit fragen.
Mit achtundzwanzig war ein Rausch über ihn gekommen. Kein Drogen-Rausch, wie der gemeine Kenner aller Achtundzwanzigjährigen meinen könnte. Jemand, der mit gutmütigen und heuchlerischen Lächeln sagen würde, er könne das verstehen, was müsste man nicht alles bewältigen, den Druck im Beruf, aus der Lebenabschnittsgefährtin die Frau fürs Leben machen, sich selbst verwirklichen, man hatte es doch schon immer schwer in diesem Alter, jetzt noch mehr als früher. Früher, da war alles noch einfacher. Doch, doch, doch, auch er selber könne sich erinnern … aber lassen wir das.
Sein Rausch war anders gewesen, hatte aber viel mit einer Sucht gemeinsam. Er war wie eine unstillbare Gier gewesen, die ihn von innen zu zerfressen drohte. Eines nachts war er aufgewacht, hatte erst auf die unbekannt bekannte Frau neben sich, dann in die Sterne über ihn geguckt, hatte an beidem gezweifelt, war dann aufgestanden und hatte auf dem schmiedeeisernen Balkon eine Zigarette geraucht und die Asche in die Geranien fallen lassen.
Die rosa- und weißfarbenen Blumen, die sie gepflanzt hatte, waren ihm wie der blanke Hohn vorgekommen. Mit schrillen Stimmen spotteten sie über sein Leben. Waren es gerade nicht Geranien in Terrakottatöpfen auf dem eigenen Balkon, die unwiederbringlich das Ende eines aufregenden Lebens ankündigten? Er beugte sich hinunter und betrachtete eine blassrosa Blüte von Nahem. Sein Atem ging schneller, dann nahm er den Blütenkopf sanft zwischen seinen Daumen und seinen Zeigefinger und trennte mit einer schnellen ruckartigen Bewegung die Blüte vom Stängel.
Für nächtliche Spaziergänger muss es wie ein Märchen gewirkt haben. Oben im dritten Stock das sanfte Glimmen eines Zigarettenendes und zugleich blassrosa Geranienblütenblätter, die vom auffrischenden Frühlingswind gen Bürgersteig getrieben wurden. Er hoffte inständig, dass unter ihm in diesem Augenblick ein frischverliebtes Mädchen entlangging. Vielleicht hatte es gerade seinen ersten Kuss bekommen und war jetzt zu aufgeregt, um heimzugehen. Für sie würde er gerne mehr und mehr Geranienköpfe opfern. Für das Mädchen würde er alles opfern, was sie für ihn gesät und gepflanzt hatte. Er kam sich undankbar vor. Vergrub den letzten Zigarettenstummel in dem warmen dunklen Torf eines Topfes und legte sich pflichtschuldig in das auf seiner Seite ausgekühlte Bett. Sie grunzte leicht und zuckte mit einem Arm, dann war sie wieder still. Er stützte sich auf seinen Ellenbogen, schaute sie dreieinhalb Minuten mit einem ausdruckslosen Blick an, den in der Dunkelheit keiner sah, dann schlief er ein.
In seinem Traum stand er wieder auf dem Balkon und rauchte. Er wusste, bevor die Kippe zu Asche geworden war, dass er springen musste. Er versuchte nicht zu stark einzuatmen, doch die Lust des Inhalierens war zu groß. Der Drang, von etwas ausgefüllt zu sein, und sei es auch nur von kaltem Rauch, war zu stark. Also gut, beschloss er, was sein muss, muss sein, keine falsche Melancholie, dachte er und kletterte über das Geländer. Es war kalt unter seinen Händen. Das Eisen schnitt in seine Hände, als er es in letzter Panik umschlossen hielt. Als er losließ spürte er die Kälte nicht mehr. Das einzige, was er sah, waren blassrosafarbene Geranienblütenblätter, die um ihn herumschwebten. Ein rosa Regen, der davon kündete, dass alles anders werden würde. Dann verlor sich der Traum in einem unwissenden Dunkel.
Es war ein kalter Morgen, der noch den Geruch von Vorfrühling in sich trug. Er zitterte, als er aus dem Bett stieg und schüttelte dann leicht seinen Kopf. Ein Traum, nur ein Ablassventil seines Unterbewusstsein, sonst nichts. Der Balkon war noch da, die meisten Geranien auch, sie nicht. Hatte sie etwas von seinen nächtlichen Eskapaden mitbekommen? Hatte sie seinen Blick bemerkt, der nicht so viel mit ihr zu tun hatte, sondern eher mit der Leere in ihm. Der etwas brauchte, auf das er sich fixieren konnte, damit er nicht ins Nichts entglitt?
Auf dem Küchentisch fand er einen Zettel. Sie hatte ihm noch nie eine Nachricht geschrieben. Halt, doch, am Anfang ihrer Beziehung, vor drei Jahren, da hatte sie ihm einen Brief zugesteckt, in die Tasche seiner Lederjacke, die er damals so trug, darauf hatte gestanden: Wenn du mir eine Chance gibt, ändere ich mich, in ewiger Liebe, blablabla … Er hatte ihr die Chance gegeben, hatte befürchtet, dass sie sich für ihn aufgeben würde, doch bevor er es sich versah, war es zu spät gewesen, und nicht sie, sondern er hatte sich verloren. In einem Leben, das über ihn gekommen war und das er sich nie so vorgestellt hatte.
Wer wollte schon immer die gleiche Frau, jeden Tag im Voraus wissen, mit wem er im Bett landete, wer wollte schon diese verdammten Pflanzen auf dem verfickten Spießerbalkon. Ohne es ihn merken zu lassen, aber dafür ziemlich schnell, hatte sie sein Leben und ihn gleich mit dazu umgekrempelt. Dass er sich jetzt zurückkrempeln wollte, das hatte sie nicht erwartet. Oder doch?
Was stand in dem Brief? Er war neugierig. Zu neugierig, um noch ins Bad zu gehen, zu pinkeln und sich die Zähne zu putzen. Sogar zwei Mal geknickt hatte sie ihn. Hatte sie etwa Angst, dass er in ihrer gemeinsamen Wohnung jemanden anders in die Hände fallen würde. Lächerlich.
Er faltete das Blatt auseinander und begann zu lesen:
Ich habe deinen Blick gesehen, stand da, gestern Nacht, und ich habe die Geranien gesehen, du brauchst mich nicht mehr. Ich gehe. Suche mich nicht, finde mich nicht, es war eine schöne Zeit. Trotz allem. Pass auf die Geranien auf. Sie verblühen so schnell.
Der Küchenstuhl war kalt unter seinem nackten Hintern. Hatte er sich das nicht gewünscht, wieder frei zu sein? Wieso fühlte es sich dann so an wie Angst?
Am nächsten Tag stieg er in den Zug. One-way-Ticket.
Tag der Veröffentlichung: 28.08.2008
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