Mit langen, raumgreifenden Schritten, die man ihrem gebrechlich wirkenden Körper nicht zutraut, schreitet Agathe die Straße hinunter. Im Spätsommermorgenlicht erreicht sie ihren Lieblingsbäcker in der Rosenstraße. Bei der Vorstellung an das zarte französische Croissant, das sich Agathe nur an besonderen Tagen gönnt, lächelt sie verhalten. Das Klingeln des Glöckchens, das bei ihrem Betreten des Bäckerladens ertönt, klingt in Agathes Ohren wie das sonntägliche Läuten der Kirchenglocken. Feierlich und viel versprechend. Es klingt richtig. Mit leiser, tonloser Stimme bestellt Agathe zwei Brötchen und ein Croissant. Wenn sie eins in den vergangenen Monaten gelernt hat, dann weder laut zu sprechen noch zu lachen. Immer traurig sein, dafür in Sicherheit, ein fairer Deal.
Im Sommer 76 dringt aus den offenen Fenstern der grauen Hochhäuser Cocaine von J.J. Cale und Hey Hey von den Wild Tchoupitoulas, zum ersten Mal gibt es Telefone mit Tastatur, doch Agathe interessiert viel mehr die neue Fernsehserie, in der Biene Maja und ihr Freund Willi Abenteuer zu bestehen haben. Am meisten mag sie den Heuhüpfer Flip, doch die böse Spinne Thekla zieht sie wie magisch an. Agathe hat schnell begriffen, dass das Leben nicht nur aus Guten bestehen kann.
Sie ist gerade mal acht, heißt eigentlich Sabine, aber weil es in ihrer Klasse schon zwei Sabines gibt, die beide keinen anderen Namen haben, muss sie jetzt auf den ihrer Großmutter mütterlicherseits hören, die vor einem Jahr an einem Lungenödem gestorben ist. Ihre Mutter sagt, sie hätte keine Schmerzen gehabt, aber Agathe glaubt ihr nicht. Tod bedeutet immer Schmerz.
In einer Zweizimmerwohnung, mit ihren Eltern eingepfercht, ist sie die meiste Zeit damit beschäftigt, nicht zwischen die Fronten ihres meist betrunkenen Vaters und ihrer geliebten, wenn auch rückgratlosen Mutter zu geraten. Wenn sie es nicht geschickt anstellt und sich manchmal unsichtbar macht, kann es Schläge hageln, auch auf sie. Aber es gibt auch seltene Tage, an denen Agathe denken möchte, dass alles gut wird. So vor ein paar Monaten im Mai, als der Vater ihrer Mutter zum Muttertag einen kleinen Strauß Moosröschen mitbrachte.
Agathe stand hinter der Zimmertür versteckt und beobachtete, wie sich der Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter von vorsichtiger Angst zu überraschter Freude wandelte. Sie hat sich so über das Lächeln gefreut, dass sie am Ende nicht mehr wusste, wer über den Rosenstrauß glücklicher gewesen war, sie oder ihre Mutter.
Seit diesem Tag versucht Agathe, das Lächeln auf dem Gesicht ihrer Mutter durch schnell abgerupfte Wiesengänseblümchen oder heimlich von dem kleinen Wohnanlagenpark gestohlene Rosen wieder hervorzuzaubern. Manchmal sind es auch nur Butterblumen, mit viel zu kurzen Stängeln, die sie ihr bringt, nichts Besonderes, aber ihre Mutter lächelt immer und drückt Agathe kurz an sich. Dann steckt sie die Blumen, ohne eine zu zerquetschen, in eine kleine Vase, die sie rechts neben ihr Bett auf den Nachtschrank stellt. Immer dieselbe Stelle, immer auf den Nachtschrank.
Als Agathe mit sechzehn eine Lehre beginnen muss, entscheidet sie sich für den Gärtnerberuf. Ausbildungsplätze gibt es viele, doch nicht in ihrer Stadt. Als sie in den Zug steigt, der sie nach Hannover bringen soll, steht ihre Mutter am Bahnsteig. Sie sieht älter aus, als sie ist, und als der Zug anrollt, und Agathe ihr zuwinkt, rollt eine Träne den linken Nasenflügel hinunter. Schnell zieht Agathe das runtergezogene Fenster wieder hoch. Dann setzt sie sich in ihr Abteil, schaut bewegungslos der vorbeirasenden Landschaft zu und wartet darauf, dass ein besseres Leben anfängt.
Die Ausbildung zur Gärtnerin jedoch enttäuscht sie. Das meiste hat sich Agathe vorher schon angelesen, die praktischen Arbeiten absolviert sie ohne Anstrengung, dafür mit Bravour. Für Agathe hat Arbeit nichts mit Belastung zu tun. Ganz im Gegenteil hilft sie ihr dabei, ihr sonst so ereignisloses Leben zu ertragen, denn die Stadt ist anders, als Agathe sie sich gewünscht hat. Sie hatte gehofft, Freundschaften zu schließen, tanzen zu gehen, Eis zu essen, vielleicht auch einen Jungen kennen zu lernen, der sie interessiert. Doch nichts dergleichen ist geschehen. In dem Wohnheim, in dem sie ein achtzehn-Quadratmeter-Zimmer mit Kochnische gemietet hat, scheinen nur Leute zu wohnen, die durchschaubar sind. Dasselbe in ihrer Berufschulklasse. An denen ist Agathe nicht interessiert. Den Durchschaubaren. Sie liebt die Rätsel in Menschen, nicht ihre Vorhersehbarkeit. Also bleibt sie allein.
Als sie ihre Abschlussprüfung als Klassenbeste besteht, kommen sogar ihre Eltern zur Zeugnisübergabe. Abends laden sie Agathe zum Essen ein. Als sie ihnen mitteilt, dass sie eine Anstellung im Botanischen Garten angeboten bekommen hat, stoßen sie miteinander an. Ihr Vater scheint froh über den unverhofften Alkohol am frühen Abend zu sein, der mit dem Jobangebot offiziell gerechtfertigt ist, und fährt zusammen mit der Mutter guter Dinge wieder ab, nicht ohne seine Tochter zu ermahnen, doch endlich, mit zwanzig, einen Mann zu finden.
Nichts hat Agathe weniger im Sinn, als sich zu binden, doch als sie sich mit ihrem ersten festen Gehalt ihre neue eigene Wohnung einrichten will, lernt sie beim Kauf ihres roten, weiß geblühmten Sofas Stefan kennen. Stefan ist Möbelverkäufer, Kräuterteetrinker, Typ Schweiger, und hat wässrig graublaue Augen. Stefan ist einer, der schwer zu durchschauen ist. Nach zwei Monaten zieht er in ihre Wohnung, nach zehn heiraten sie.
Auch als verheiratete Frau geht Agathe jeden Tag auf ihren Schuhsolen wippend zur Arbeit. Besonders liebt sie es, sich um die Rosenstöcke zu kümmern. Sie zu beschneiden, sie für den Winter mit Torf zu bedecken und in Säcke einzuhüllen, dann im Frühjahr ihre Triebe wachsen zu sehen, die Härte der Knospen zu fühlen und im Sommer sich vor die Blüten zu hocken, die Augen zu schließen und ihren betörenden Duft einzuatmen. Wenn sie so dasitzt, vergehen die Minuten viel zu schnell. Traviata, Ave Maria, Sommermärchen, sie liebt alle Sorten, doch ihr unbestreitbarer Favorit ist The Dark Lady, für Agathe die schönste aller Rosen. Agathe glaubt fest daran, dass es den Rosen gut tut, wenn sie mit ihnen spricht. Also erzählt sie ihnen alles: zuerst den Alltag, ein paar Jahre später auch von Stefan, von seiner ständigen Antriebslosigkeit und seinen Launen, von ihrer Abtreibung, zu der er sie überredet hat, weil man sich ein Kind ja nicht leisten könne, von den darauffolgenden körperlichen und seelischen Schmerzen und von dem Gedanken, dass ihre Heirat ein großer Fehler war.
Agathe befürchtet jetzt, dass Stefan kein Mensch mit ungeahnten Tiefen ist, sondern einfach nichts zu sagen hat. Nein, sie befürchtet es nicht, sie weiß es. Die Rosen hören Agathes leisen Monologen widerspruchslos zu, scheinen manchmal zustimmend leicht mit ihren Blütenköpfen zu nicken, widersprechen nie. Wenn Agathe sich nach so einer Zwiesprache aufrichtet, um weiter ihrer Arbeit nachzugehen, fühlt es sich an, als wäre ein lang verklemmter Wirbel wieder an die richtige Stelle gerutscht.
Sie hat es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre Samstagvormittage in der Bibliothek zu verbringen. Agathe liest alles über Blumen, was sie finden kann, sie kennt sämtliche Züchtungen und Unterordnungen. An einem Vormittag im August entdeckt sie ein Buch aus dem 19. Jahrhundert: Kuriositäten der Botanischen Welt. In einem kleinen Absatz, den das unaufmerksame Auge schnell übersieht, liest Agathe, dass bei bestimmten afrikanischen Völkern die Toten in Beeten vergraben wurden. Zersetzte sich der Körper, so wurde nach drei bis sechs Monaten das sich abbauende Eiweiß der Weichteile in die tieferen Erdschichten geleitet, wo es die Wurzeln der Pflanzen als natürlichen, höchst effizienten Dünger aufnahmen. Noch nie hat Agathe so etwas Seltsames und Faszinierendes gelesen. Noch eine knappe halbe Stunde sitzt sie auf ihrem Leseplatz der Bibliothek und starrt konzentriert in die Luft, blinzelt kaum, dann verlässt sie den Saal, ohne das Buch zurückgestellt zu haben.
An diesem Abend erhebt Stefan zum ersten Mal die Hand gegen sie. Seine rauen Handflächen klatschen wütend gegen ihre Wange, wieso, weiß sie nicht, aber sie hinterlassen ein schlechtes Gefühl.
Am nächsten Morgen erwacht sie mit einem seltsam zufriedenen Lächeln auf den Lippen, der gerade entschwundene Traum wiegt alles auf, was gestern geschehen ist.
Agathe befand sich in einem Rosengarten, der in voller Blüte stand. Die Farbenpracht schmerzte fast in ihren Augen, so schön war sie: blutrot, giftgelb, zartrosa, unschuldsweiß, alles wild durcheinander. Der Duft nahm ihr fast den Atem, so überwältigend drang er in alle ihre Poren. Er durchflutete sie, nahm sie in sich auf. Nichts war mehr von Agathe übrig, sie wurde zu Duft, zu Blüten, zu Rosen, zu blutroten Rosen. Aus der Ferne vernahm sie Stefans Stimme, die immer schwächer wurde, bis sie nicht mehr zu hören war.
Agathe fühlt sich wundervoll an diesem Morgen – und entschlossen. Sie weiß nun, was zu tun ist.
Am nächsten Samstag wartet Agathe mit den strebsamsten Studenten schon um neun Uhr dreißig an der Tür der Bibliothekstür, mit den ersten von ihnen ist sie in der Botanischen Abteilung, strebt zielsicher durch die bekannten Gänge, zieht drei Bücher aus dem Regal, sucht, findet und steht um zehn Uhr sieben schon wieder an der Straßenbahnhaltestelle. Roter Fingerhut, auch Digitalis Purpurea genannt. In kleinen Mengen als Medikament bei Herzrhythmusschwäche äußerst wirksam, in größeren Mengen äußerst tödlich. Obwohl Agathe an Samstagen nie arbeiten muss, fährt sie in den Botanischen Garten. Es ist August, und die Blütezeit neigt sich ihrem Ende zu. Doch sie hat Glück und trennt vorsichtig fünf Blütenblätter eines roten Fingerhutes ab. Zwei bis drei sollten reichen, um den Tod herbeizuführen, doch sie will auf Nummer sicher gehen.
Zu Hause trocknet Agathe die Blätter und versöhnt sich mit Stefan. Ein paar Tage später bröselt sie die Blätter liebevoll in seinen abendlichen Kräutertee, stellt ihn neben seinen Fernsehsessel und gibt ihm einen Gute-Nacht-Kuss, den ersten seit Langem. Dann geht sie beruhigt schlafen.
Ein paar Nächte später parkt ein grüner Volvo vor dem Eingang des Botanischen Gartens. Eine kleine zierliche Frau öffnet den Kofferraum, holt eine Schubkarre aus den Sträuchern und füllt sie mit kleineren und größeren Päckchen, dann schließt sie das Tor auf und verschwindet.
Die Bäckerin reicht Agathe die Brötchen und in einer Extratüte das Croissant. Meinen Respekt, sagt sie, wie Sie das alles ertragen. Wie lange ist er jetzt schon weg? Einfach abgehauen, so was müsste bestraft werden, sag ich Ihnen. Aber Ihre Rosen in diesem Jahr, die sind die schönsten, die ich gesehen hab, seit ich denken kann. Wie machen Sie das bloß?
Doch Agathe zahlt nur schweigend, lächelt schüchtern wie immer und geht wieder hinaus ins Sonnenlicht. Ein Jahr, denkt sie, ein ganzes Jahr, und ihr Lächeln wird endlich breiter.
Texte: Umschlagfoto: boscolo/aboupixel.de
Tag der Veröffentlichung: 28.08.2008
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