Los 33 – die Dreiunddreißig
Eintrag 1:
Meine Mutter hat immer gesagt, ich soll zur Post gehen. Schon klar! Sicherer Arbeitsplatz und so weiter. Und ganz kurz bin ich auch in Versuchung gewesen. Aber dann musste ich ja unbedingt meinem Vater nacheifern. Und nun haben wir den Salat und ich sitze hier. Kein Sonnenlicht. Wenig Sauerstoff. Und das schon seit Tagen.Wir alle tragen es mit Fassung, schließlich hat man uns beigebracht, was zu tun ist, aber von Zeit zu Zeit frage ich mich, wann das ein Ende hat. Sicher hat es das, aber.....wird es ein gutes sein?
Eintrag 2:
Wir haben alles immer und immer wieder besprochen. Selbst wenn sie uns finden sollten,
was an ein Wunder grenzt, bleibt die Frage, ob sie jemals einen Weg zu uns finden können. Wir sind 630 Meter unter der Erde und unsere Vorräte sind begrenzt. Realistisch betrachtet haben wir so gut wie keine Chance. Hoffentlich hat man uns nicht schon abgeschrieben.
Eintrag 3:
Viele Tage sind vergangen und es ist wohl die Untertreibung des Jahres, wenn ich sage, dass die Nerven blank liegen. Wir alle lieben unsere Arbeit. Es ist eine harte, aber ehrliche Arbeit in der Gold- und Kupfermine, aber es ist ein großer Unterschied, täglich hier einzufahren und am Ende des Tages nach Hause zu gehen oder mehr als einen halben Kilometer unter der Erde verschüttet zu sein. Nachts höre ich die Kumpel für ein Wunder beten. Und weinen.
Eintrag 4:
Das Wunder ist geschehen! Oh Herr, ich danke Dir! Heute haben sie uns gefunden, nach so vielen Tagen. Endlich gab es Kontakt nach draußen. Wir sind alle aus ganz dem Häuschen vor Glück! Unsere Familien warten auf uns. Mein Herz wird ganz schwer, wenn ich an meine Frau und die Kinder denke. Das Schlimmste ist, dass wir selbst nichts tun können, um nach oben zu gelangen. Das Warten ist die Hölle.
PS: Die Verpflegung wird besser.
Eintrag 5:
Es ist schon erstaunlich, dass man jahrelang zusammen arbeiten kann, und doch nichts vom anderen weiß. Ich glaubte, einige von uns gut zu kennen, aber das stimmt überhaupt nicht. Das Leben verläuft oft sehr oberflächlich. Erst wenn es um Leben und Tod geht, weiß man, auf wen man zählen kann. Jeder von uns litt schon unter dem Lagerkoller, und er bringt die dunkelsten Seiten eines Menschen hervor. Fast hätte ich die Formulierung „ans Tageslicht“ benutzt. In der Dunkelheit wird sogar das Unterbewusstsein zynisch. Im Berg eingeschlossen, blickt man dem Kumpel direkt in die Seele. Auch ganz ohne Licht.
Eintrag 6:
Bis Weihnachten???? Möge der Herr uns beistehen!
Eintrag 7:
Als wir noch Kinder waren, wollte meine kleine Schwester immer ein Fernsehstar werden. Sie sang und tanzte, was das Zeug hielt. Mich hat das immer völlig kalt gelassen.
Heute hat man Kameras zu uns runter gelassen. Man sagte uns, dass die ganze Welt über uns berichtet wie über Helden. Ist das nicht verrückt? Kein Mensch würde es glauben, wenn es nicht wahr wäre.
Eintrag 8:
Im Schlaf habe ich von meiner Familien geträumt. Alle waren da. Ich konnte fühlen, wie sich die kleinen Ärmchen meiner Tochter um meinen Hals legten, als sich sich an mich kuschelte. Kann es etwas Schöneres geben auf dieser Welt? Ich war durchströmt von Glück und Frieden. Diese Gefühl zog sich wie ein dichtes Wurzelgeflecht durch mein Herz. Dann bin ich mit Tränen in den Augen erwacht.
Eintrag 9:
Ich stelle mir das Ding vor, wie so eine Einfädelhilfe für Nadel und Garn. Es nimmt uns einzeln auf und führt uns durch ein Öhr ans Licht. Fénix, aber nicht aus der Asche, sondern aus der Tiefe. Der Schacht ist einen halben Meter breit oder sollt ich schmal sagen? Er führt mit leichten Windungen durch den Berg nach oben. Zwanzig Minuten in so einem Gitterkorb, der sich um die eigene Achse dreht. Unser einzige Chance.
Eintrag 10:
Geschafft! Manchmal überkommt es mich und ich kann die Tränen des Glücks nicht verbergen. Das ist mir dann peinlich. Dabei ist es doch wirklich albern, nach all dem, was hinter uns liegt! Obwohl ich voller Hoffnung und Zuversicht war, gab es doch auch immer noch den leise bohrenden Schmerz der Angst, dass irgendwas nicht klappt. Und neunundsechzig Tage sind eine Ewigkeit. Meine Erleichterung ist so groß wie ganz Chile.
Alle meine Lieben waren da. Ich war überglücklich, sie in die Arme schließen zu können. Ich danke Gott auf Knien dafür!
PS: Sebastián hat uns alle persönlich in Empfang genommen und ganz herzlich umarmt. Er ist ein sehr netter Mann.
Zehn Monate später auf dem Standesamt.
„Also zuerst einmal meinen herzlichsten Glückwunsch zur Geburt Ihres Sohnes, mein Herr! Und natürlich auch an Ihre Gattin.“
„Vielen Dank!“
„Ich hätte noch eine kurze Frage und ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll.
Es steht mir eigentlich auch gar nicht zu, aber....Bitte verstehen Sie mich nicht falsch,
aber sind Sie sicher, dass das Kind Fénix heißen soll?“
„ Nun, meine Frau hat es vorgeschlagen und wir fanden es beide sehr passend, aber vielleicht haben Sie recht. Und wenn ich es mir richtig überlege, ist Sebastián auch ein sehr schöner Name.“
Texte: Susannah Knopp
Bildmaterialien: Susannah Knopp
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2015
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