Liebe Mama, lieber Papa,
wenn ihr das lest, ist das der Beginn der letzten Tage. Meiner letzten Tage in der Sekte, die vom Paradies spricht, das den anderen Menschen versagt bleiben soll. Ich kann es einfach nicht länger ertragen. Diese Verlogenheit, diese Scheinwelt, diese Doppelmoral. Ihr sprecht von Gott und schlagt mich. Seit ich auf dem Welt bin, muss ich mit Euch zu diesen Treffen gehen. Anfangs habe ich geglaubt, was sie dort sagen: Die ganze Welt ist schlecht, nur unsere Gemeinschaft wird den Weltuntergang überleben. Aber das ist jetzt vorbei. Alle sollen es wissen, wie schlecht es mir hier geht. Und wie meine Brüder und Schwestern mit mir umgehen, seit ich mich nicht mehr an die Regeln halte.
Vor mehr als zwei Jahren und zwei Monaten bin ich 14 Jahre alt geworden. Ich kann kaum beschreiben, wie sehr ich den Tag herbei gesehnt habe. Endlich durfte ich meine Religion frei wählen. Sehr lange hatte ich darüber nachgedacht und es hat mich viele schlaflose Nächte gekostet, diese Entscheidung zu treffen. Ihr könnt es Euch vielleicht nicht vorstellen, wie viel Angst ich hatte, Euch zu sagen, dass ich nicht länger Euren Glauben teile. Mama, Du bist vor Kummer zusammengebrochen und hast Papa unter Tränen gefragt, was Ihr falsch gemacht habt. Ich kann es nur schlecht beantworten, denn ich bin sicher, dass Ihr alles mit guter Absicht getan habt. Und ich glaube Euch auch, dass Ihr mich liebt, auf eine verzweifelte und brutale Art. Schläge aus Liebe... das habe ich nie verstanden und jetzt werde ich es auch nicht mehr verstehen.
Vater, Du bist damals vor Schreck erstarrt. Die Farbe fiel aus Deinem Gesicht. Aber nicht lange. Als Du Mamas Reaktion gesehen hast, stieg eine Röte in Deinen Kopf, die ich nur zu gut kannte. Jetzt war es wieder so weit. Statt einer Geburtstagsparty, die ich ja noch nie in meinem Leben hatte, gab es Schläge. Vater, Du hast mich mit einem Stock verdroschen, wie so oft schon. Ich sehe noch die Enttäuschung in Deinen Augen. Hattest Du doch immer noch gehofft, ich würde zu einem aufrechten Mitglied der Gemeinde heranwachsen. Beim Missionieren habe ich mich ja recht geschickt angestellt und besonders ältere, einsame Damen bezirzt. Tim würde sagen, das liegt an meinen grünen Augen. Auf ihn komme ich noch zu sprechen. Ich bin sogar noch von Tür zu Tür gegangen, nachdem dieser große Hund mich gebissen hatte, erinnerst Du Dich noch, Mama? Die Narbe an meiner linken Hand ist bis heute kaum verblasst. Ab dann hatte ich richtige Angst, bei fremden Leuten zu klingen. Dennoch war ich ziemlich erfolgreich. Ja, eine Karriere in der Gemeinschaft, das wäre das Einfachste und das Schönste für Euch gewesen. Aber leider bin ich dafür nicht dumm genug. Oh, verzeiht mir, denn das war ja nicht demütig. Nee, tut mir echt leid, aber diese Scheinheiligkeit kann ich einfach nicht mehr ertragen. Ich versuche mal, es zu erklären, obwohl ich weiß, dass Ihr es entweder nicht verstehen könnt oder nicht verstehen wollt.
Nach diesem bunten Geburtstagsgeschenk, mein Arsch war grün und blau, war mein Widerstand gebrochen. Vorerst. Ich folgte Euch brav zu den Zusammenkünften und ich schätze mal, Ihr habt gedacht, dass diese Lektion mit der Rute, die ja nur aus Liebe geschah, ihren Dienst getan hatte. Falsch gedacht. Mein Interesse an Menschen, die ich nicht „Brüder“ oder „Schwestern“ nennen musste, wuchs von Tag zu Tag.
Als ich in der Schule Anschluss gefunden hatte, habe ich es vor Euch verborgen, so gut es ging. Ich habe Krankheit vorgetäuscht oder Schulveranstaltungen erfunden, um mich aus dem Haus zu schleichen, während Ihr im Saal mit den Anderen gesessen und Euren Glauben beweihräuchert habt. Die andere Welt ist eine bunte, offene und vielschichtige Welt. Ich habe dort Toleranz und Zuneigung erfahren. Mir ist klar, dass Ihr das nicht hören wollt, aber ich habe einen Freund gefunden. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht. Wie das möglich ist? Ich habe die Schule hin und wieder nicht besucht und mich stattdessen mit Tim getroffen. Erst haben wir unsere Entschuldigungsbriefe gefälscht und dann die restliche Zeit genossen. Freundschaft, echte Freundschaft ohne Hintergedanken und ohne die bei uns so normale Kontrolle, ist etwas sehr Schönes. Ich bin nicht sicher, ob Ihr, Mama und Papa, das je erfahren habt. Aus der Freundschaft wurde mehr. Ich war mir nicht bewusst, dass ich mich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühle. Aber so ist es. Und Tim und ich entdeckten erst die Welt und dann die Liebe und das war die schönste Zeit in meinem kurzen Leben.
Jeden Tag versuchte ich das Hochgefühl zu verstecken, damit niemand misstrauisch wird. Und eine lange Zeit hat es auch gut funktioniert. Tims Eltern sind echt cool. Sie waren nicht schockiert, sondern nur ein wenig überrascht über sein Geständnis und haben gelassen reagiert. In ihrem Haus bin ich immer willkommen, sagten sie mir und sie meinten es auch. Was bitteschön kann an solchen Menschen falsch sein? Sie achten und lieben einander. Tim wurde noch nie von seinen Eltern geschlagen. Die Familie geht respektvoll miteinander um. Niemand denunziert seine Freunde oder Bekannten. Warum auch? Und bei wem denn auch? Als Tim mit seinem Pastor über seine Neigung sprach, sagte dieser, dass es nichts änderte. Weder im Konfirmandenunterricht noch an der Beziehung zwischen Tim und Gott. Mich interessiert wirklich, was Ihr dazu sagen würdet.
Irgendwann ist es dann passiert. Bruder Bertram hat mich mit Tim gesehen. Und er hat mich beim Ältesten angeschwärzt. Ich musste zum Rapport antreten. Er und die anderen Kerle der „heiligen Inquisition“ haben mich in die Mangel genommen. Ihre Methoden der Befragung blieben nicht folgenlos. Ab da nahm das Unglück seinen Lauf. Tim hat mich immer gefragt, was los sei, aber ich konnte es nicht in Worte fassen. Die Leichtigkeit war weg. Ich fühlte mich verfolgt. Nicht zu unrecht, wie sich raus stellte. Von mehreren Brüdern und Schwestern wurde ich mit Tim gesehen und verpfiffen. Immer wieder hat man Druck auf mich ausgeübt. Ihr wisst ja, dass ich wegen Fehlverhaltens ausgeschlossen wurde. Ich bin isoliert. Sogar Ihr, meine Eltern, lasst mich spüren, dass Eure Liebe an den Gehorsam gekettet ist. Alle Mitglieder der Gemeinde schneiden mich seitdem und Ihr stellt Euch auf ihre Seite? Das trifft mich mehr als ihr vermutet .
Tim hat mit mir Schluss gemacht. Ich glaube, dass ihm das alles zu viel war. Immer Ausschau halten, ob uns jemand sieht. Davon bekommt man Verfolgungswahn. Er hat sich für ein Leben ohne Ängste entschieden und warum sollte er sich auch mit meinem Doppelleben belasten? Vor zwei Tagen habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich habe bei ihm geklingelt. Seine Mutter hat mir aufgemacht. Sie war sehr lieb zu mir und hat mich rein gebeten. Ich wollte mich mit Tim aussprechen. Und das habe ich dann auch. Der eigentliche Grund, warum er sich getrennt hat, ist ein anderer. Er hat mich gesehen und mir vorgeworfen, dass ich ihn betrogen hätte. Ich versuche mal, das Gespräch wiederzugeben:
„Jon, ich hab Dich mit so einem alten Knacker gesehen. Der hatte seine dreckigen Hände an Dir. Du hast gesagt, dass Du mich liebst. Das hätte ich Dir echt nicht zugetraut.“.
„Bitte Tim, hör mir zu. Das war einer aus dem Rechtskomitee. Er setzt mich unter Druck und betatscht mich immer wieder. Er verspricht, ein gutes Wort für mich einzulegen, damit die Gemeinschaft mich wieder aufnimmt.“
„Und Du machst dabei mit? Was ist das für eine kranke Einstellung? Das ist widerlich und armselig.“
„Bitte versteh mich doch. Meine Eltern leiden so sehr unter meinem Fehltritt. Sie werden von allen schief angesehen und ausgegrenzt. Sie ertragen es einfach nicht.“
„Sag mal, geht’s noch? Hörst Du Dir eigentlich mal selber zu? Das ist total bescheuert. Du lässt Dich missbrauchen, damit Deine Eltern in ihrer Scheinwelt glücklich weiterleben können? Tut mir echt leid, aber damit kann ich nichts anfangen. Du bist für mich gestorben, Jon.“ Und dann hat er mich weggeschickt.
Tut mir leid, wenn Ihr auf diese Art und Weise erfahrt, dass der hochgeschätzte Bruder Jürgen selbst ein völlig fehlgeleitetes Subjekt ist. So, wie es aussieht, habe ich jetzt alles verloren: meine Eltern, denn ihr entzieht mir Eure Liebe, meinen geliebten Freund, meine Unschuld und den Respekt vor mir selbst – vielen Dank, Bruder Jürgen – und jetzt bleibt mir nicht mehr viel zu tun.
Es ist alles vorbereitet. Während Ihr bei der Zusammenkunft seid, werde ich in unserem Auto den neuen Grill vom Baumarkt ausprobieren. Ich habe gelesen, dass es ein schöner Tod ist. Ich finde, ich habe in meinem Leben genug gelitten. Verkauft den Wagen hinterher einfach. Er ist sowieso Mist.
Lebt wohl,
Euer Sohn
Jonathan
PS: Ich habe eine Kopie dieses Briefes an Tims Mutter geschickt und sie gebeten, dafür zu sorgen, dass er veröffentlicht wird. Alle sollen es wissen......
Tag der Veröffentlichung: 09.03.2014
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