„Hartmut! Hartmut! Was ist mit dir?“
„Weiß nicht. Kann.... so schlecht.... atmen.“ Er sprach sehr abgehackt und keuchend.
„Du bist ja weiß wie die Wand und du hast Schweiß auf der Stirn.“
Leere. Weiß und weich wie Watte.
Von ganz weit weg drang die Stimme zu ihm durch. Sie klang, als käme sie von Grund eines Brunnens und hatte etwas sehr Aufgeregtes. Beinahe panisch. Sehr schrill. Und trotzdem ganz weit entfernt.
„Bleib hier, hörst du? Halte durch. Gleich kommt Hilfe.“
Passanten kamen und beugten sich über Hartmut. Angsterfüllte Augen blickten in sein Gesicht. Er fühlte einen großen Abstand zwischen diesen Menschen und sich selbst. Es machte ihm nichts aus, dass er auf dem Fußweg lag. Er spürte es nicht. Aber er wunderte sich auch nicht darüber. Irgendwie war das okay. Gerade hatte er noch das Gefühl, dass ein Elefant auf seinem Brustkorb einen Kopfstand machte, doch jetzt war alles ganz leicht. Und weit entfernt.
„Ich bin hier und bleibe bei dir. Sei ganz ruhig. Ich öffne jetzt deinen Kragen, damit du besser Luft bekommst.“
Plötzlich sah Hartmut sich selbst von oben. Er schwebte über der dramatischen Szene, die sich auf dem Gehsteig in der Wohnsiedlung abspielte. Sein Freund öffnete ihm den Hemdkragen. Er setzte sich auf die Pflastersteine und nahm Hartmuts Kopf auf den Schoß. Dieses Bild hatte etwas Rührendes, fand Hartmut und hätte er sich noch in seinem Körper befunden, so hätte er jetzt wohl gelächelt. Aber sein Gesicht wirkte von hier oben betrachtet teilnahmslos. Und jetzt, da er ganz genau hinsah, konnte er erkennen, dass seine Pupillen starr waren.
Nebel trennte ihn von seinem Körper und dem Geschehen auf dem Fußweg. Sein Bewusstsein war leicht wie ein glücklicher Gedanke und bewegte sich mühelos.
Ohne sein Zutun wurde Hartmut zu einem Tunnel getragen. Er fühlte einen Sog. Bereitwillig durchquerte er diesen Engpass, ganz frei von Angst und Zweifeln. Der Weg auf die andere Seite erinnerte ihn an eine symbolische Geburt. Alles um ihn herum wurde heller und strahlte einen unglaublichen Frieden aus.
„Halli-Hallo, herzlich willkommen auf der anderen Seite. Ich hoffe, du fühlst dich hier wohl und ….“ Die überschwängliche Begrüßung geriet kurz ins Stocken.
„Moment mal.....Was machst du denn schon hier? Ich glaube, du bist zu früh“, sagte jemand zu ihm. Ein Wesen, das Hartmut nicht zuzuordnen vermochte. Weder Engel, oder was man sich auf der Erde darunter vorstellten, noch Mensch sprach da mit ihm. Es war..... eine Seele. Ja, so würde er es benennen, wenn er es jemandem beschreiben müsste. 'Sei nicht albern', dachte Hartmut bei sich, 'Wem soll ich das erzählen? Es würde mir sowieso kein Mensch glauben. Und schließlich bin ich tot. Oder so ähnlich.'
„Mensch Hartmut, kennst du mich nicht mehr? Kannst du dich nicht erinnern? Wir waren die besten Freunde, als wir noch ganz jung waren. Du hast immer mit mir gespielt.“
„Äh, weiß nicht. Wo bin ich hier? Bin ich tot?“
„Ja, Kumpel. Das bist du wohl. Aber das ist bestimmt ein Fehler. Du stehst noch gar nicht auf dem Plan, Mann.“
„Was denn für ein Plan? Hatte ich einen Herzstillstand? In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie Probleme mit dem Herzen. Bin ich wirklich tot?“
„ Keine Ahnung. So einen Fall hatte ich noch nie. Warte einfach hier, ich frag mal kurz nach.“ Und weg war sie, die Seele.
Hartmut bemerkte andere Wesen um sich herum. Sie kamen näher, nahmen jedoch keinen Kontakt auf. Das kam ihm seltsam vor, aber er fühlte sich trotzdem geborgen und sicher. Ohne Körper war das Leben, oder wie auch immer man diese Art von Existenz beschreiben sollten, sehr angenehm. Wärme und Licht, glückliche Gedanken und Gefühle, soweit seine Seele blicken konnte. Er konnte etwas wahrnehmen, was man mit „Düften in 3D“ vergleichen konnte. Maiglöckchen, Vanille und ein Hauch von Nougat. Warm und schmelzend war alles, was ihn umgab oder besser gesagt durchflutete.
Die Seele, die für die Begrüßung zuständig war, tauchte wieder auf.
„Ich wusste es. Du kannst nicht bleiben. Ist doch ein Versehen.“ Leicht außer Atem, mit einem Ton des Bedauerns in der Stimme. Oder tauschten sie nur Gedanken aus?
„Du bist quasi auf Besuch hier. Betrachte es als kurze Stippvisite, okay?“
„Häh? Nein, eigentlich ist gar nichts okay. Ich bin ziemlich verwirrt. Was ist denn los? Was für ein Versehen soll das sein? Ich bin auf dem Gehweg gestorben und mein Freund Bernd war dabei. Wenn ich das richtig gesehen habe, war ich tot, bevor irgendwelche Rettungskräfte eingetroffen waren. Daran ist doch nichts unklar, oder? Wieso schickst du mich wieder weg? Ich fühle mich hier sehr wohl und will nirgendwo hin gehen.“ Irgendetwas lief hier richtig schief, fand Hartmut.
Das Wesen war einen Moment abgelenkt. Dann bestätigte es kurz und kommunizierte anschließend wieder mit Hartmut. So ähnlich wie ein Bodyguard, der eine Anweisung durch einen Knopf im Ohr entgegennahm.
„Hör mal, Kumpel, wir habe noch ein bisschen Zeit. Ich kann dich herumführen oder wir reden über alte Zeiten. Was meinst du? Sag mal, isst du eigentlich immer noch so gern Nudeln?“
Mit so einer irdischen Frage hatte Hartmut nicht gerechnet.
„Was? Wieso? Ja, tue ich.“
„Und Nougatschokolade?“
„Ja, auch.“
„Und Käsekuchen?“
„Ja, aber..“
„Und trinkst du etwa auch viel Alkohol?“
„Hey, was soll das. Bist du mein Hausarzt?“
Nein, eher nicht, dachte Hartmut, den hatte er kürzlich noch gesehen.
„Sag mir doch bitte einfach mal, woher wir uns kennen. Ich habe nämlich nicht die leiseste Ahnung.“
„Okay, pass auf. Ich gebe dir einen Tipp, Kumpel. Also, wir waren noch sehr jung, als wir uns kennenlernten. Es war im Garten deiner Großeltern. Im Frühling. Na, klingelt's?“
„Ehrlich gesagt, nein.“
„Ich gebe dir noch einen Hinweis. Wir haben zusammen Fleischwurst gegessen.... Und?“
„Ähm, das hilft mir nicht weiter...“
„Wie konntest du das vergessen? Du hast die Wurst extra für mich aus der Küche deiner Oma stibitzt und wir haben sie brüderlich geteilt.“
„Komm, sag schon. Ich weiß es echt nicht.“
„Nee, Kumpel. Denk nach. Du kommst noch drauf.“
„Okay. Wie alt waren wir ungefähr?“
„Ich war wohl 9 Monate alt, Du warst bestimmt schon 5 Jahre.“
„Also, ich kann mich nur an den einen Tag erinnern, als ich Wurst aus der Küche gemopst habe. Die Sonne schien, ich saß im Gras und habe versucht, mich mit Bobby anzufreunden...“ Hätte Hartmut eine Stirn gehabt, hätte in diesem Moment ein riesiges Fragezeichen darauf aufgeblinkt.
„Mensch, das hat aber gedauert!“
„Willst du sagen, du bist....??“
„Ja, Mann, das will ich. Hast du etwa gedacht, für uns gibt es eine Extrazone im Jenseits?“
„Ähm, nein, ich habe mir nur nie Gedanken darüber gemacht.“
„Ja, so seid ihr Zweibeiner. Typisch irgendwie, oder?“
„Vielleicht.“ Hartmut antwortete etwas schuldbewusst und zögerlich. Noch immer kam ihm die Situation mehr als skurril vor.
„Also ich fasse mal zusammen: Ich bin gestorben an einem Herzstillstand, richtig?“
„Yep.“
„Und ich bin jetzt im Himmel. Ist das der richtige Begriff?“
„Jau. Das ist wohl das umgangssprachliche Wort dafür.“
Hartmut tastete sich vorsichtig weiter.
„Und Du bist.....?!?!“
„Komm jetzt bloß nicht auf die Idee, ein Stöckchen zu werfen“, blaffte ihn die Seele an.
„Tut mir leid. Das muss ich erst mal verdauen.“
„Mensch, das glaubt mir keiner!“
„Wer auch? Wenn du zurückkehrst, hast du alles vergessen.“
„Schade. Es ist so beruhigend, dass sterben letzten Endes nur leben bedeutet. Das sollten alle wissen.“
„Komm mit, Hartmut, ich will dir noch was zeigen.“
Im nächsten Moment sahen Hartmut und Bobby eine Szene, in der eine Frau verzweifelt nach etwas suchte.
„Was macht sie da?“
„Sie sucht den Schlüssel.“
„Und wieso zeigst du mir das?“
Ein Schlüsselring erschien neben Bobbys Seele. Wie aus dem Nichts.
„Glaub mir“, sagte der ehemalige Hund, „irgendwie macht das richtig Spaß. Und mir ganz besonders. Früher haben die Menschen meine Spielsachen und Kauknochen versteckt und nun..., aber sieh selbst.“
Die junge blonde Frau in Lederkluft durchwühlte eine Schublade nach der anderen.
Hätten Hartmut und Bobby Körper besessen, so stünden sie jetzt direkt neben ihr. Aber sie nahm keine Notiz von ihnen.
„Aber dann stimmt es also.“
„Was denn?“ wollte die Bobby-Seele wissen.
„Dass manche Dinge ins Paralleluniversum verschwinden. Man sucht mehrmals an derselben Stelle und findet sie schließlich doch genau dort. Hat das einen Zweck oder ist das nur ein Hobby von dir ?“
„Manchmal müssen wir dafür sorgen, dass die Dinge im richtigen zeitlichen Ablauf passieren. Aber ich gebe ja zu, dass es hin und wieder ein wenig mit mir durchgeht...“
Ein göttliches Räuspern erfüllte das Jenseits und schuldbewusst legte Bobby den Motorradschlüssel zurück in die Schublade.
„Äh, ich muss dann mal weiter, Hartmut. Mach's gut, Kumpel. Bis später, Boss.“
Hartmut war tief bewegt und erfüllt von Dank und Demut nach einem Dialog mit dem Schöpfer. Eine göttliche Schwingung war in sein Bewusstsein gedrungen und hatte sich dort festgesetzt wir eine Sandkorn in einer Muschel. Für ihn hätte es sprichwörtlich ewig so bleiben können. Doch eine überdimensionalen Kraft erfasste ihn ohne jede Vorwarnung und schoss ihn schmerzhaft zurück in seinen Körper. Bilder von Ereignissen seines Lebens flimmerten vor seinen Augen. Das nächste, was Hartmut erkannte, war Bernd, der bleich vor Schreck und Sorge ganz tapfer seine Hand hielt zwischen den Sanitätern und den vielen Geräten und im Rettungswagen. Und bevor er etwas sagen konnte, verlor Hartmut das Bewusstsein....
Texte: susannahknopp
Bildmaterialien: susannahknopp
Tag der Veröffentlichung: 24.05.2013
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