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Die missverstandene Hotline

So viel war sicher: Man musste die Menschheit lieben, ansonsten konnte man dieser Aufgabe nicht nachgehen. Ich wurde nicht müde, mir das ins Gedächtnis zu rufen.
Und es half.

Als ich den Anruf entgegen nahm, hatte ich so eine Ahnung, dass er es wieder war:
Herr Meier aus H. Mit schöner Regelmäßigkeit wählte er unsere Rufnummer, hinter der sich der technische Support für Internet-Verbindungen verbarg. Er war nur einer von vielen Verbalerotikern, die sich durch intensives Atmen auszeichneten. Zuerst dachte man an Asthma oder eine andere akute Atemnot. Aber diese Sorge war unnötig.
„Guten Tag, hier spricht Herr Meier.“
„Guten Tag Herr Meier, was darf ich für Sie tun?“
Der nächste Satz würde es ans Licht bringen. Hatte ich recht oder war es ein ganz anderer Kunde mit diesem häufigen Nachnamen? Es blieb spannend. Er ließ sich Zeit und atmete bedeutungsschwanger ein, um dann Folgendes zu sagen:
„Meine Freundin Yoko steht breitbeinig über mir und trägt keinen Slip.“

Na also. Mein Gespür hatte mich nicht getäuscht. Heute war also die „Sie-trägt-keine-Wäsche-Nummer“ dran. Nun wartete er auf meine Reaktion. Er hoffte auf ein Zeichen des Entsetzens, des Erschreckens oder womöglich der Empörung. Fehlanzeige.

„Oh! Hallo Herr Meier! Wie geht es Ihnen? Wir haben uns ja schon eine ganze Weile nicht gehört. Hat Yoko ihren Slip verlegt? Sagen Sie, haben Sie keine Angst, dass ihre Freundin sich verkühlt? Es ist ja schon recht frisch zu dieser Jahreszeit.“ Aufgelegt.

Das war nur ein kleiner Teil unseres Tagesgeschäfts. Es gab ja schließlich auch ausreichend ernstgemeinte Anrufe. Mir machte der Job Spaß. Ich sprach gern am Telefon mit vielen Leuten. Ich empfand es oft als belebend, manchmal fast herausfordernd, mich immer wieder auf ganz verschiedene Menschen einzustellen. Und ich genoss es, wenn nach meiner Beratung die Internet-Verbindung des Kunden wieder funktionierte. Das war der Idealfall. Der Kunde war glücklich, ich war zufrieden. Fall gelöst. Allerdings gab es auch andere Gespräche. Wenn man nach einer fünfzehn minütigen Beratung, in der man alle technischen Details und Fehlerquellen erst mittels Leitungs-Check und mit einer Engelsgeduld geklärt bzw. ausgeschlossen hat, vom entnervten Gesprächspartner spontan als „Drecksau“ beschimpft wurde. In diesen Momenten bedauerte ich meine Berufswahl regelmäßig.

Viele Kunden waren ärgerlich und aufgebracht, wenn sie in die Leitung kamen. Oft wurde einem schon der Tagesgruß mit Abscheu und Verachtung entgegen geschleudert, bevor sie sich mit steigender Intensität darüber ausließen, warum unserer Service so sehr zu wünschen überließ. Und wer sich schon mal in der Lage wiedergefunden hatte, dass ihm der passende Kraftausdruck fehlt, hätte hier reichlich Anregungen erhalten. Aber wenn man diesen Launen mit Gleichmut begegnete und konsequent freundlich blieb, wendete sich das Blatt sehr häufig. Bei der Verabschiedung nach der Lösung des Problems, bei optimalem Gesprächsverlauf, bedankten und entschuldigten sich viele Anrufer und einige schämten sich sogar ein wenig.

Allen Grund dazu hätten Männer wie Herr Meier, der sogar tapfer seinen eigenen oder vielleicht oder einen erfundenen Namen nannte. Die meisten blieben allerdings inkognito. Sie begannen das Gespräche mit den Worten „Trägst Du einen Tanga?“
Oder sie bezichtigten einen aus heiterem Himmel sehr fantasievoll, das älteste Gewerbe der Welt auszuüben. Auch sehr häufig im Angebot, forderten diese Herren zu Sexualpraktiken auf, die ganz offensichtlich mittels Fernsprecher nicht durchführbar waren. Zartes Pusten in das Mikrofon des Headsets führte jedenfalls nie zum gewünschten Ergebnis. Die Druck geplagten Anrufer legten frustriert auf, um dann aller Wahrscheinlichkeit nach manuell tätig zu werden.

Die meisten Opfer dieses offensichtlichen hormonellen Überschusses, waren, der Stimme nach zu urteilen, sehr junge Erwachsene. Ganz anders Herr Meier. Er war mit Sicherheit zwischen Mitte vierzig und fünfzig. Zu gerne hätte ich gewusst, ob es Yoko wirklich gibt. In den vielen Anrufen wurde jedenfalls überdeutlich, dass Yoko und Herr Meier Unterwäsche für überbewertet hielten. Als ich ihn in einem unserer zahlreichen Kontakte einmal auf den praktischen Aspekt, nämlich Ersparnis von Wäsche und somit den großen Nutzen für die Ressourcen der Umwelt, hinwies, fühlte er sich einmal mehr unverstanden und brach die Verbindung unvermittelt ab.

Das Beste wäre es wohl gewesen, überhaupt nicht auf solche Provokationen zu reagieren. Aber ein bisschen Spaß musste ja wohl sein. Und als dann eines Tages ein vom Stimmbruch gebeutelter Junge durch die Leitung raunte: „Rate mal, was ich gerade in der Hand halte“, sprach ich das Offensichtliche aus. „Den Telefonhörer, nehme ich an“.
Als er nicht locker ließ und mir sagte, wo er das, was sich in seiner Hand befand, gern platzieren wollte, musste ich streng werden.
„So, jetzt pack Dein kleines Schwänzchen mal wieder ein und leg brav auf. Weiß Deine Mutter eigentlich, was Du treibst?“
Die tote Leitung machte deutlich, dass er wenigstens dem letzten Teil meiner Anweisung folge geleistet hatte.

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Texte: alle Rechte liegen bei mir
Bildmaterialien: bookrix
Tag der Veröffentlichung: 20.01.2013

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