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Der Bademantel

Herr Ziemann geht jeden Tag ins Büro. Er erledigt seine Arbeit als Finanzbuchhalter immer zur vollsten Zufriedenheit aller. Er ist ein stiller Mensch. Keiner kennt ihn wirklich gut, aber alle schätzen ihn. Doch das weiß Herr Ziemann nicht.

An diesem Tag geht er nach der Arbeit in den Supermarkt, um für das Abendessen einzukaufen. Er erwartet seinen Freund Martin, den er seit der Schulzeit kennt und immer noch regelmäßig sieht. Heute Abend kocht Herr Ziemann Lasagne.  Martin hat sich gerade von seiner Frau getrennt. Nein, eigentlich ist es anders: Seine Frau hat ihn genötigt, auszuziehen, damit sie mit ihrem neuen Lebensgefährten in dem Haus leben kann, das Martin gebaut hat. Dass Martin sehr darunter leidet, es aber natürlich niemandem zeigt, kann Herr Ziemann nur ahnen. Außer Martin hat Herr Ziemann so gut wie keine Freunde. Natürlich kennt er seine Nachbarn, aber außer dem üblichen Tagesgruß und ein paar freundlichen Worten gibt es wenig Kontakt.

Als die Lasagne fertig ist, klingelt es an der Tür. Herr Ziemann lässt Martin ins Haus. Nach einem kleinen Begrüßungsschluck nehmen sie im Esszimmer Platz, in dem er sorgfältig und korrekt den Tisch gedeckt hat. Sie essen und unterhalten sich über Alltägliches und Belangloses, dann über Vergangenes und Erinnerungen aus der Schulzeit. Der Buchhalter denkt nicht gern daran zurück. Er fühlte sich nie richtig dazugehörig. Das ist bei Martin ganz anders. Er hatte in der Schulzeit viele Freunde und war der Schwarm aller Mädchen. Und noch heute wird er nicht müde, es immer wieder zu erwähnen. Genutzt hat es Martin nichts, denkt Herr Ziemann, denn schließlich hat ihn seine Frau jetzt verlassen. Es wird still am Tisch. Herr Ziemann will das Thema wechseln, das nun zu sehr auf Martins neue Lebenssituation zusteuert, aus Rücksicht auf Martins Gefühle, als dieser unvermittelt das Messer fallen lässt. Ein kleines Missgeschick, so denkt Herr Ziemann, und versucht es zu überspielen, doch plötzlich sackt Martin bewusstlos zusammen.

Der Rettungswagen nimmt ihn mit, Verdacht auf Schlaganfall, so teilte es der Notarzt Herrn Ziemann mit. Erschüttert steuert dieser seinen Wagen zur Martins neuer Adresse, um das Nötigste fürs Krankenhaus zu holen. Mit Tränen in den Augen bringt er die Tasche zur Intensivstation.

Fräulein Mönkmann ist die gute Seele der Firma, eine alleinstehende Dame, von der man mit viel gutem Willen noch behaupten kann, dass sie mittleren Alters sei. Sie begrüßt Herrn Ziemann am nächsten Morgen schwungvoll. Nur flüchtig und in Gedanken versunken erwidert er den Gruß. So kennt ihn Fräulein Mönkmann gar nicht. Er ist immer korrekt und höflich, wenn auch etwas reserviert. Irgendwas scheint nicht zu stimmen und sie beginnt, sich um Herrn Ziemann Sorgen zu machen.

Nach der Arbeit erledigt Herr Ziemann die Wäsche, die in der vergangen Woche angefallen ist. Martin geht ihm nicht aus dem Sinn. Martin, der so sportlich ist, Martin, der so fit und dynamisch wirkt, hatte einen Schlaganfall. Das Leben kann so ungerecht sein. Herr Ziemann geht noch mal in die Wohnung zurück und holt seinen Bademantel. Er stopft ihn in die Waschmaschine. Man weiß ja nie, wann man ihn mal fürs Krankenhaus braucht, denkt er und wählt traurig das passende Waschprogramm aus.

Im Büro denkt Fräulein Mönkmann über Herrn Ziemann nach. Er ist ein durchschnittlicher Typ, leider sehr schüchtern und in sich gekehrt. Und noch immer weiß Fräulein Mönkmann nicht, wie sie ihn aus der Reserve locken kann. Sie spielt schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken, ihn ins Kino einzuladen. Eigentlich ist er ein paar Jahre zu jung für sie. Wahrscheinlich würde er sie auslachen, wenn sie ihn fragte. Oder vielleicht doch nicht? Er hat so ein freundliches Lächeln und in wenigen Momenten hatte sie schon mal das Gefühl, dass seine helle Seele durchschimmerte. Aber vielleicht  war es nur Wunschdenken.

Seit Tagen erledigt Herr Ziemann seine Arbeit völlig mechanisch. Jetzt geht er geistesabwesend zur Pause. Dort trifft er Fräulein Mönkmann auf dem Flur. Sie lächelt ihn an, aber er nimmt sie nicht wahr. Seine Gedanken sind bei Martin. Von Carola, Martins Noch-Ehefrau, weiß er, dass Martin immer noch nicht aus dem Koma erwacht ist. Er wird wohl ein Pflegefall bleiben. Herr Ziemann kämpft heute mit den Tränen.

Nach der Arbeit bestellt Herr Ziemann sich eine Pizza. Dann geht er in den Wäschekeller und nimmt die trockene Wäsche ab. Der Bademantel ist noch nass. Er hängt leblos auf einem Bügel und wirkt wie ein Körper nach einem geglückten Suizid. Der Bilanzbuchhalter schaut ihn lange an.

Fräulein Mönkmann stellt einen Anruf zu Herrn Ziemann durch. Eine Dame, die sehr knapp und mit verschnupfter Stimme nach ihm fragt. Vielleicht ist sie der Grund, warum Herr Ziemann immer so in Gedanken ist? Aber nein, denkt Fräulein Mönkmann, er wirkt ja kein bisschen glücklich.

Heute fehlt Herr Ziemann zum ersten Mal im Büro. Das ist sehr untypisch für ihn. Fräulein Mönkmann ruft bei ihm an. Vielleicht ist seine Telefonnummer nicht mehr aktuell? Niemand hat seine Handynummer.

Man findet ihn von der Decke hängend im Wäschekeller, direkt neben seinem Bademantel. Unter ihm liegt ein umgestoßener Stuhl. Sein Körper wirft einen Schatten auf den Boden, den seine Füße nicht erreichen.

Fräulein Mönkmann weint.

 

Impressum

Texte: susannahknopp
Bildmaterialien: bookrix
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2012

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