Ehrlich gesagt, bekommt man mich ziemlich selten aus dem Haus. Ich war schon immer eine Stubenhockerin. Meine Eltern haben immer gewitzelt, dass sie mich als Jugendliche vor die Tür stellen und abholen lassen mussten, damit ich mal unter Leute kam.
Vor einiger Zeit schien die Sonne so verlockend, dass ich nicht anders konnte, als meine Jacke und den Schlüssel zu greifen für einen Spaziergang. Seit gut vier Jahren lebte ich nun schon ziemlich isoliert in der Schweiz. Es war schwierig für mich, die Leute zu verstehen. Darum hatte ich auch wenig Kontakt zu den Einheimischen und mein Leben lief in sehr überschaubaren Bahnen ab.
Dieser Spaziergang war untypisch für mich, aber ich konnte ihn genießen. Die frische Luft, die kühl in meine Lunge strömte, tat mir gut und machte den Kopf klar. Ich fühlte mich befreit und beflügelt durch die Natur. Die Sonne wärmte mich und gab mir Energie. Energie, die mir im Alltag so häufig fehlte.
Allzu weit war noch nicht gekommen, als ich eine Katze am Wegesrand sitze sah. Ich lockte sie an. Sie lief direkt auf mich zu und sprach mich an.
„Na“, sagte sie. Mein erster Gedanke war, dass hier sogar die Tiere anders klingen, als sie mit hoher Stimme fortfuhr:
„es wurde aber auch mal Zeit, dass du dich hier blicken lässt.“ Suchend blickte ich um mich. Wo war die Kamera?
„Ja, das kann ich mir vorstellen, dass du dich jetzt wunderst. Aber wir sind allein, es ist kein Trick und ich bin es wirklich, die zu dir spricht.“ In jedem Wort klang das „R“ wie ein kurzer Schnurrbart.
„Ich habe noch nie ein Tier gesehen, dass sprechen kann. Von ein paar Papageien und Beos mal abgesehen. Jetzt muss ich mir wohl doch endlich einen Psychiater suchen.“
„So schlimm ist es noch nicht, glaub mir.“
„Das sagst du so. Immerhin gilt man als geisteskrank, wenn man Stimmen hört.“
„Dann verrate es halt keinem.“
„Du bist gut. Das einzig aufregende, was ich bisher in diesem Land erlebt habe und ich darf es nicht mal jemanden erzählen?“
„Nun ja, das ist schade, aber ich habe ein ganz anderes Anliegen.“
„Ach so?“, fragte ich mit leicht hysterischem Unterton. Was konnte diese eidgenössische Katze wohl von mir wollen?
„Ja, und zwar geht es mir einzig und allein um die Rettung deiner Seele.“ Dabei nickte das Tier nachdrücklich mit dem Kopf und schloss bekräftigend die schmalen Augen.
Kurze Zeit später saßen die Katze und ich auf einem Baumstamm, als sie mich fragte, ob ich zufrieden mit meinem Leben sei.
„Na ja, was heißt schon zufrieden. Vieles könnte besser sein“, und wunderte mich, wieso ich mein Seelenleben vor einer fremden Katze offenlegte.
„Was ist nicht gut genug oder was sollte anders sein?“ fragte die rote Kätzin mit Tigerstreifen. Einen Moment musste ich darüber nachdenken. Bevor ich antworten konnte, sprach sie weiter: „Hast du alles im Leben erreicht, was du dir vorgenommen hast?“
„Wer kann das schon von sich behaupten?! Ich wollte als Kind zum Ballett, aber meine Eltern haben mir den Unterricht nicht bezahlt. Damit fing es schon an.“
„Und weiter?“ wollte die Pelzträgerin wissen.
„Ja, weiter..... Ich wollte immer weg aus dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Das war zu ländlich und spießig.“
„Das hast du dann auch getan, wenn ich richtig informiert bin. Und nun wohnst Du tausend Kilometer weit weg. Oder zumindest fast.“
„Ja, aber man kann den Ort wohl kaum eine Metropole nennen, oder? Wie heißt du eigentlich?“
„Du hast recht, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Charlotte Mauser, ich residiere auf dem ersten Bauernhof, wenn man in den Ort aus südlicher Richtung hineinfährt. Die Menschen nennen mich Charlie, was ich ziemlich gewöhnlich finde, aber ich will ja nicht kleinlich sein. Deinen Namen kenne ich. Genau wie deine Lebensgeschichte. Und momentan ist alles ins Stocken geraten, Stimmt das?“
Nachdenklich betrachtete ich sie, kraulte ihre Katzenöhrchen und nickte schließlich.
„Ich bin jetzt schon über fünfzig Jahre alt und habe auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen mehr. Meine Zukunftsaussichten sind nicht übermäßig gut.“
„Was willst du daran ändern?“ fragte Charlotte.
„Was kann ich denn ändern? Meine Altersvorsorge ging bei der Scheidung drauf. Ich fühle mich mittel- und hilflos. Vom Leben in den Arsch, oh entschuldige bitte, in den Arm gekniffen.“
„Das geht schon eine Weile so, oder?“
„Ja. Wenn die Kinder groß sind, dachte ich immer, mache ich eine Weltreise und genieße mein Leben.“
„Du meinst Luxus. Viel Geld, schönes Haus, viele Reisen, Highsociety spielen in der Light-Variante, habe ich recht?“ Charlotte schlug nervös mit dem Schwanz, beruhigte sich aber gleich wieder.
„Du weißt doch aber genau, dass es nicht die materiellen Dinge sind, die zählen. Auch wenn du im Rentenalter nicht in Saus und Braus leben kannst, ist dein Leben doch immer noch lebenswert. Oder vielleicht gerade darum?“ Sie blinzelte mich an.
„Wenn du eines Tages diese Erde verlässt, kannst du nur deine Seele mitnehmen. Nichts anderes. Hoffen wir, dass sie reichlich mit Güte, Weisheit und schönen Erinnerung angefüllt ist. Denn nur damit erreichst du Zufriedenheit und innere Freiheit.“
Ich schaute in ihre klaren grünen Augen, die mich zu einer Antwort aufforderten. Ich dachte einen Moment nach, um dann zögerlich zu erwidern:
„Wenn ich dich richtig verstehe, sagst du so was wie 'übe dich in Bescheidenheit' und 'carpe diem'. Nutze den Tag, richtig?“
Sie erwiderte „genau“ und es hörte sich plötzlich wie wie ein Maunzen an.
Ich musste die Worte kurz wirken lassen.
„O.K., aber wie soll ich es angehen? Was schlägst du vor?“
Rückblickend betrachtet würde ich sagen, es war eine wegweisende Begegnung. Das Leben ist ein Strauß bunter Überraschungen. Diese weise Katze hat etwas in mir angestoßen, dass sich seinen Weg gesucht hat. Seit Kurzem bin ich aktiv im Sportverein und arbeite halbtags in der Schule im Sekretariat als 'Mädchen für alles'. Demnächst soll ich dort einen künstlerischen Workshop in den Nachmittagsstunden für die Schüler anbieten. Und ich freue mich schon darauf.
Sehr häufig treffe ich Charlotte bei meinen regelmäßigen Spaziergängen – auch eine neue Gewohnheit von mir - und wir unterhalten uns über Gott und die Welt und die schweizerische Politik in unserem Kanton. Sicherlich fragt ihr euch nun, was die freundliche Katzendame zu mir gesagt hat.
Nun, das ist kein Geheimnis. Sie sagte schlicht und ergreifend:
„Mach doch mal einen Töpferkurs!“,
was ich dann auch umgehend in Angriff nahm. Und beim Kneten und Formen des Tons begriff ich im wahrsten Sinne des Wortes, was Charlotte meinte. Den Dingen oder dem Leben eine Form beziehungsweise eine Richtung zu geben, ist oft viel leichter, als man denkt.
Texte: alle Recht liegen bei mir
Bildmaterialien: alle Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 10.11.2012
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