Sie hörte ein Kichern hinter sich. Ganz leise, aber ganz klar ein Kichern. Zögerlich drehte sich Linda auf dem Sofa um und konnte aus dem Augenwinkel eine Bewegung erhaschen.
„Ich habe dich gesehen. Du kannst raus kommen.“ Sie war ärgerlich, dass ihr Zögling, auf den sie in ihrer Funktion als Au Pair aufpassen sollten, immer noch nicht schlief. Aber es war nicht der kleine Giles, den sie jetzt sah. Und um ehrlich zu sein, hatte sie so eine Gestalt überhaupt noch nicht gesehen.
„Wer bist du denn?“ fragte Linda irritiert.
„Ich?“ fragte das Geschöpf erstaunt. „Du hast doch gesagt, ich soll raus kommen.“
Es klang fast ein wenig trotzig. „Das ist echt gemein. Ich wäre nicht raus gekommen, wenn du nicht gesagt hättest, dass du mich gesehen hast! Wir dürfen uns euch nicht zeigen!“
Nun schmollte das kleine Geschöpf. Linda, über die Sofalehne gebeugt, schaute sich das winzige Persönchen genau an. Es war knappe zwanzig Zentimeter groß und sah aus wie eine übergewichtige Version von Tinkerbell aus 'Peter Pan'. Wenn man mal von den extrem dünnen Beinen und dem Haarschopf, der ein wenig wie eine Tina-Turner-Perücke wirkte, absah.
„Was meinst du damit? Ihr dürft euch nicht zeigen? Wie viele gibt es denn noch von deiner Sorte hier? Ich sehe dich zum ersten mal. Eigentlich hatte ich Giles erwartet.“
„Er schläft schon fest. Ich habe gerade nach ihm gesehen.“
„Aha“. Linda war verblüfft. „Giles kennt dich? Hat er keine Angst vor dir?“
„Wieso sollte er? Wir spielen oft zusammen. Ich fahre so gern in seinem Feuerwehrauto mit.“ Die kleine Pummelfee lachte vergnügt.
„Wie heißt du?“
„Ich bin Maya.“
„Wie die Biene?“ Linda konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Nein, nicht wie diese alberne Biene. Maya mit Ypsilon. Außerdem würde ich nie im Leben etwas quergestreiftes tragen.“
Linda nickte „Ja, man muss Prinzipien haben. Verstehe. Entschuldige bitte die doofe Frage, aber was bist du? Ich habe noch nie ein Wesen wie dich gesehen.“
„Ich bin eine Elfe. Ich und die anderen kommen aus Island. David und Sue haben wir auf einer Rundreise getroffen. Vielleicht sollte ich besser sagen, wir haben sie aufgegabelt. Und weil sie so nett sind, haben wir uns im Gepäck versteckt und sind mit ihnen hierher gekommen. Das ist jetzt schon einige Jahre her. Lange, bevor Giles auf die Welt gekommen ist.“
Jetzt flog Maya auf den Couchtisch und setzte sich Linda direkt gegenüber. Ihre Flügel wirkten viel zu klein, um sie tragen zu können.
Mit einer beiläufigen Bewegung strich sich die kleine Elfe das honigblonde Haar hinter ihr viel zu groß geratenes Ohr. Der Anblick irritierte Linda für einen Moment.
„Aber du sagtest doch, dass ihr euch uns Menschen nicht zeigen dürft. Wie passt das mit Sue und David zusammen?“
„Nun ja,“... sie zögerte,“... sie wissen nichts von uns. Und wenn Giles von mir erzählt, denken sie, er habe eine lebhafte Fantasie.“ Mit einem Kopfnicken verlieh Maya ihrer Schilderung den nötigen Nachdruck.
„Er ist aber auch ein süßer Fratz! Er hat Davids Grübchen am Kinn und Sues Augen. Ein wirklich hübscher Junge, oder?“
Linda stimmte ihr zu. Mit seinen knapp vier Jahren besaß er schon genug Charme, um das neunzehnjährige Au-Pair-Mädchen um den Finger zu wickeln.
„Wieso seit ihr weggegangen aus Island?“
„Ich wollte schon immer raus in die weite Welt. Meine Familie hat ein Café hinter einem Wasserfall im Westen der Insel. Aber die Gastronomie hat mich noch nie begeistert. Ich wollte gern die Menschen kennenlernen.“
„Und wo sind die anderen, von denn du immer sprichst?“
„Oh, sie sind sehr schüchtern und trauen sich auch nicht, mit Giles zu spielen. Es sind meine beiden jüngeren Cousins, Olaf und Marc. Weißt du, wir sind hier zu Studienzwecken. Die beiden sind Wissenschaftler und ich studiere sozusagen das Leben. Ich manage sie.“ Maya schlug keck die Beinchen übereinander. „Wir werden ein Buch für das verborgene Volk herausgeben, in dem wir über die Menschen berichten. Einige von unseren Leuten glauben gar nicht, dass es euch gibt!“
Linda fühlte sich wie in einem Traum. Sie saß im Wohnzimmer in Schottland, fernab der niederländischen Heimat, und plauderte mit einem Geschöpf aus der Fabelwelt. Abgefahren! Surreal!
Maya geriet ins Schwärmen. „David und Sue sind so ein glückliches Paar und so romantisch! Und sie singen ganz viel. Hast du schon mal gehört, wenn sie ein Duett singen? Einfach zauberhaft!“
„Oh ja, sie singen 'Something stupid' und es klingt fast genau wie Robbie Williams und Nicole Kidman.“ Linda war ganz beeindruckt als sie es hörte. Es war in einem Moment, in dem die beiden dachten, sie wären allein und Linda fühlte sich plötzlich ein bisschen wie ein akustischer Voyeur.
„David spielt ganz oft Klavier. Einfach zum Dahinschmelzen!“ Die Elfendame schloss genüsslich die Augenlider und wiegte sich verträumt zu dem Takt der Musik, die in ihrem Kopf spielte. Plötzlich öffnete sie ihre Augen und sah Linda forschend an. Nach einem kurzen Moment fragte sie: „Darf ich dich zeichnen? Weißt du, ich illustriere die Forschungsergebnisse von Marc und Olaf, um das Buch für unser Volk noch ein wenig anschaulicher zu machen - und du bist so ein hübsches Exemplar!“
„Äh ja, natürlich. Gern, wenn du meinst, dass ich für euch interessant sein könnte?“ Linda war überrascht und auch ein wenig geschmeichelt. Aber eigentlich wusste sie gar nicht mehr so recht, was sie denken sollte. Unter diesen surrealen Umständen.
„Achtung“ rief die Elfe und flog mit beeindruckender Geschwindigkeit aus dem Raum. Schon hörte Linda das Türschloss. Gesprächsfetzen drangen in den Raum und im nächsten Moment stand schon das Ehepaar im Wohnzimmer.
„Hallo Linda, wir sind zurück. Ist alles in Ordnung?“ Sue drehte sich zum Fernseher um.
„Oh nein, du bist noch gar nicht dazu gekommen, fern zu sehen? Hat Giles nicht geschlafen?“
„Oh, doch, alles ist bestens. Er schläft tief und fest. Ich habe ...“ sie schaute sich hilfesuchend um, „... nur gerade noch etwas Musik gehört“, sie deutete auf ihr Walkman-Handy, „ .. und muss wohl für einen Moment eingeschlafen sein.“ Und leise fügte sie an: „ und ich hatte einen ganz seltsamen Traum. Echt surreal!“
Texte: alles Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2012
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