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Lackschaden


Meine Mutter war gerade in ein Gespräch mit dem Hufschmied vertieft, als es das erste Mal passierte. Ich stand neben ihr, aber wie die Erwachsenen oft sind, beachten sie uns Kinder einfach gar nicht.
Dabei sagte ich noch zu ihr: »Mama, Sultan hat bestimmt Hunger.«
Sie steckte wohl gedanklich tief im Abwägen, ob eher
Kalt- oder Heißbeschlag für den Neuzugang des Reiterhofs in Frage kam. Also keine Chance, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen.
Der Neuzugang, eine junge Stute mit dem Namen
Sunshine, war eine noch sehr schüchterne Araberdame.
Mama ist Reitlehrerin. Jedenfalls erzähle ich das immer
in der Schule, wenn mich jemand von diesen hohlen Tussis fragt. Aber eigentlich ist sie eine Therapeutin. Nein, nicht was ihr jetzt denkt! Sie ist keine Pferdeflüsterin. Eher eine Kinderflüsterin.

Unser Reiterhof wird von vielen Kindern besucht. Die
besorgten Eltern bringen ihre Söhne und Töchter hierher.
Die Kinder streicheln die Tiere, freunden sich mit ihnen an und reiten auf ihnen. Dabei verlieren sie ihre Angst vor Pferden und Menschen und gewinnen immer mehr Vertrauen in sich selbst und ihre Umwelt. Sehr viele der Jungen und Mädchen sind autistisch.
Ich kann verstehen, dass die Pferde ihnen guttun. Pferde
sind halt die besseren Menschen. Na gut, Hunde und
Katzen auch. Eigentlich fast alle Tiere.
Wenn meine oberflächlichen Klassenkameradinnen das
wüssten, müsste ich mir bestimmt pausenlos Witze über
Behinderte anhören. Wie gesagt, sie sind halt ziemlich unterbelichtet und nur an Popstars und Statussymbolen interessiert. Mal ehrlich, welches dreizehnjährige Mädchen braucht schon ein iPhone?

Während des Gesprächs meiner Mutter kam Sultan, ein
alter Wallach, über die Wiese zu uns getrabt. Irgendwer
hatte vermutlich vergessen, das Tor zu schließen. Er hoffte wohl auf eine Karotte. Ich gab ihm stattdessen einen Apfel, den ich vorher am Nachmittag auf der Wiese aufgelesen und dann in meine Jackentasche gesteckt hatte. Mit seinen weichen Lippen berührte er meine Handflächen, als ich ihm die Frucht entgegenhielt. Das kitzelte zwar sehr, aber ich zog natürlich die Hand nicht weg. So was machen nur Anfänger!
Er fraß genüsslich den Apfel, und dann geschah es. Zuerst wollte ich Mama fragen, ob sie mich mal zwicken
könnte, aber sie wird immer sauer, wenn ich sie unterbreche. Und bestimmt hatte ich es mir nur eingebildet … oder doch nicht?

»Mehr!«, sagte er schon wieder.
Nun dachte ich, dass der Hufschmied in seiner Freizeit
als Bauchredner aufträte und sich mit mir einen blöden
Scherz erlaubte. Ich schaute also von dem Mann zu meiner Mutter und wieder zurück. Meine Mama kann nicht mal ernst bleiben, wenn sie einen Witz erzählt, ich hätte ihr garantiert angesehen, wenn der Mann oder sie mich veräppelt hätten. Nein, die beiden schienen gar nichts bemerkt zu haben. So langsam dämmerte es mir nun. Ich nahm also meinen ganzen Mut zusammen und sah in Sultans große, braune Augen.
»Hast du noch einen Apfel für mich, Sarah?« Seine
Stimme war tief, und man musste genau hinhören, um die Worte zu verstehen. Wie im Traum schüttelte ich den Kopf.
»Schade.«
Er wollte gerade zurück auf die Wiese traben, da rief
ich ihn zurück. »Sultan, komm, ich bring dich in den
Stall.« Ich griff sein Halfter, um ihn zu führen, aber er
blieb einfach stehen.
»Noch einen Apfel, bitte«, sagte er.
Ich konnte nicht glauben, dass Mama und der Schmied
es nicht hörten. »Ich ... ich bringe Sultan schon mal zurück, Mama.«
»Ist gut, Schatz. Ich komme auch gleich nach.«
Sie hatte also tatsächlich nichts mitbekommen.
Oh nein, das war bestimmt kein gutes Zeichen. Mit Tieren zu sprechen, ist ja nichts Schlimmes, ganz im Gegenteil. Aber erwartet man eine Antwort? Und wenn ja, ist das noch normal?
Sultan trabte gemächlich neben mir her. »Sie hört mich
nicht, keine Sorge. Ich mag deine Mama sehr, ich habe sie sogar richtig lieb, wenn du weißt, was ich meine, aber sie wäre wohl ziemlich verstört, wenn sie mich sprechen hören würde.«
»Wahrscheinlich ungefähr so wie ich jetzt. Seit wann
kannst du sprechen? Hast du uns schon immer verstanden? Mit wem sprichst du noch?«, fragte ich, nicht ohne mich umzusehen, ob jemand in der Nähe war. Glücklicherweise waren wir weit genug weg vom Schmied und Mama.
Sultan wieherte kurz. »Schau doch mal, wie schön die
Sonne untergeht. Ich mag es, wenn es auf dem Hof ruhig wird.«
Ich setzte erneut an. »Los, Sultan! Sag schon!«
»Nun mal langsam mit den jungen Pferden.« Er wieherte
vergnügt, aber es klang wie ein Lachen über seinen eigenen Scherz. »Ich konnte euch schon immer verstehen. Alle Tiere tun das. Sprechen kann ich aber erst seit zwei oder drei Jahren. Ich habe es vorher allerdings auch nie probiert. Und wie war die letzte Frage nochmal?«
»Mit wem du sprichst, will ich wissen.«
»Ach so, ja. Natürlich spreche ich mit Sunshine, mit
Mikesch, mit Pedro ...«
Ich war genervt, als er anfing, alle unsere Tiere aufzuzählen.
Dass ein Pferd einen so auf die Folter spannen
konnte ... Jetzt wurde ich ungeduldig. »Komm schon! Du
weißt genau, dass ich das nicht meine. Es ist bestimmt üblich, dass Pferde, Katzen und Hunde miteinander sprechen. Aber mit welchen Menschen sprichst du noch?«
»Nun ja ... eigentlich spreche ich …« – die Pause wurde
immer länger – »... nur mit dir.«
Ich dachte schon, ich könnte aufatmen.
»Und ganz selten mit anderen Kindern. Am meisten mit
Tim. So, jetzt ist es raus.«
»Das erklärt so einiges«, sagte ich.
Tim war ein siebenjähriger Junge mit einer stark ausgeprägten Form von Autismus. Kaum jemand konnte zu ihm durchdringen. Wenn man ihn beim Reiten beobachtete, konnte man sehen, wie er aufblühte und sehr oft lachte, meistens wenn Sultan wieherte. Und nun wusste ich endlich warum.
»Wahrscheinlich freut er sich immer, wenn du ihm was
Witziges erzählst, stimmtʼs?«
»Genau. Ich kenne ein paar tolle Pferdewitze. Hör mal:
Kommt ein Cowboy aus dem Friseursalon …«
»Still! Mama kommt.«
»Wieso? Sie kann mich nicht hören«, nörgelte das
Pferd.
»Klar, das weiß ich. Aber sie kann mich hören. Und sie
soll ja nicht denken, dass ihre Tochter übergeschnappt ist,oder?«
Einen Augenblick später hatte Mama uns eingeholt.
Wir brachten gemeinsam alle Pferde in den Stall und
versorgten sie, und es fiel mir ziemlich schwer, so zu tun,
als ob nichts geschehen sei. Aber wie hätte ich Mama davon erzählen können?

Seitdem sprachen Sultan und ich immer miteinander,
wenn wir unbeobachtet und außer Hörweite waren. Man
kann von so einem lebenserfahrenen Pferd viel lernen.
Wenn ich Stress mit den Zicken aus meiner Klasse hatte,
holte ich mir bei ihm Rat. Außerdem habe ich erfahren,
dass er unsere neue Stute gut leiden kann. Bei uns gefiel es ihr viel besser als beim Vorbesitzer, hatte sie Sultan anvertraut.
»Die wollten ein Rennpferd aus ihr machen.«
»Warum nicht? Sie ist ja auch sehr schnell. Bestimmt
wäre sie eine der Besten«, antwortete ich.
»Ja, aber dieser Leistungsdruck. Und dann hatte sie
auch Angst, dass man ihr Spritzen gibt, damit sie noch
schneller ist. Das wollte sie nicht, also hat sie so getan, als ob sie lahmt, damit sie ihre Ruhe hat.«
»Na, so ein Früchtchen!« Ich lachte und gab Sultan einen freundschaftlichen Klaps aufs Hinterteil.
Er wieherte übermütig.

»Sarah, mein Schatz, hast du Besuch?«
Mama war unerwartet in den Stall gekommen, als ich
mit Sultan über die Klimaerwärmung diskutierte.
»Nein, wieso?«
»Mit wem sprichst du denn? Telefonierst du mit dem
Handy?«
»Nein«, sagte ich. Oh je, dachte ich, wie komme ich
aus der Nummer wieder raus?
»Ich übe für eine Diskussion in der Schule. Es geht um
die Umweltverschmutzung und ihre Folgen. Wir führen da übermorgen ein Streitgespräch. So ähnlich wie das Duell der Kandidaten vor einer Wahl«, log ich.
»Ach so. Ich dachte schon, da hätte sich jemand im
Stall versteckt.« Puh, das war ja noch mal gut gegangen.

Ein anderes Mal führte ich Sultan gerade über den Hof.
Wir unterhielten uns, als Mama plötzlich hinter mir stand.
Sie wollte gerade mit ihrem roten Kombi in die Stadt fahren und Einkäufe erledigen.
»Sarah, worüber lachst du so?«
»Ich habe nur gerade an einen Witz gedacht.«
»Erzählst du ihn mir? Von wem kennst du ihn?«
»Ach, ich habe vergessen, von wem ich ihn habe.«
»Das kann nicht sein. Du vergisst so was nie. Los, sag
schon: Wer war es?«
»Kennst du nicht.«
»Lügnerin!« Das war Sultan.
»Misch dich nicht ein!«, zischte ich ihn an.
»Was meinst du damit? Ich soll mich nicht einmischen.
Ich habe dich doch nur was gefragt.« Mama wurde misstrauisch.
»Was ist denn? Hast du eine neue Freundin?
Oder einen Freund, den ich nicht kenne?«
»Bin gespannt, was du ihr jetzt sagst.« In Sultans Augen
blitzte es schelmisch.
»Hör auf jetzt!«
»Warum reagierst du so abweisend? Mein Gott, die Pubertät ist schon ein schwieriges Alter.« Ihre Geduld neigte sich dem Ende zu. Meine auch.
»So. Erstens: Ich habe keine neue Freundin.
Die in der Schule sind alle doof. Zweitens: Ich habe
auch keinen Freund. Drittens: Immer wenn Eltern nicht
weiter wissen, ist die Pubertät schuld. Ihr Erwachsenen
macht es euch ziemlich leicht, findest du nicht?« Genau in diesem Moment tat es mir schon wieder leid, dass ich so explodiert war.
Meine Mutter schaute mich entgeistert an. Aber noch
viel schlimmer war Sultan. Er schnaubte und wieherte. Jedenfalls war es das, was meine Mutter sah.
Ich hörte seinen Kommentar. »Das war das beste Beispiel für ein zickiges Mädchen in der Pubertät.« Er amüsierte sich königlich.
»Sei endlich still!«
»Ich sage doch gar nichts. Du bist ganz schön unverschämt, mein liebes Kind! Wir werden das heute Abend mal in Ruhe besprechen.«
Erst war sie kurz gekränkt. Dann schlug es in Wut um.
Und das bedeutete nichts Gutes. So ein doofes Missverständnis.
Es tat mir so leid, dass sie dachte, ich meinte sie.
Aber wie konnte ich es ihr erklären?
»Sag es ihr! Sie wird es verstehen.«
Sultan hatte mal wieder gut reden.
»Mach schon!« Er schubste mich in ihre Richtung.
»Was ist mit Sultan los? Hast du ihn geärgert, um deine
Launen abzureagieren?«
»Nein. Mama, hör mal, es ist anders, als du denkst.«
»Du bist schon seit einiger Zeit so verändert. Immer
diese Geheimniskrämerei.«
»Sagʼs ihr!« Das Pferd wieherte und scharrte mit dem
Huf.
»Mama, hast du mal einen Moment Zeit? Ich will dir
was sagen.«
Und so kam es, dass ich ihr alles erzählte. Es hat mich
sehr viel Mut gekostet, aber ihr skeptischer Blick sprach
schon Bände.
»Und das soll ich dir glauben? Sultan spricht mit dir,
dass ich nicht lache! Du musst mich für ziemlich verkalkt
halten, stimmtʼs?«
»Aber es ist so. Glaub es mir doch!«
Sie ging weg und wollte gerade in ihr Auto steigen, als
sie sich noch mal umdrehte und Sultan ansprach.
»Wenn du sprechen kannst, dann beweise es!«, sagte
sie zynisch.
»Er kann ja nicht mit dir sprechen, weil du schon erwachsen bist. Aber mit mir.« Ich bettelte fast darum, dass sie mir glaubte.
»Sultan, auch wenn ich dich nicht hören kann, beweise
mir irgendwie, dass du mich verstehst.«
Sultan schnaubte und hob den Kopf.
»Das war Zufall. Ich habe keine Lust, mich von dir verschaukeln zu lassen.«
»Nein, fahr noch nicht weg!«
Mama stieg unbeirrt in den Wagen, als Sultan sich direkt
vor die Motorhaube stellte. Er senkte den Kopf, öffnete
den Mund und zeigte seine großen, gelben Zähne. Dann
biss er zu. Den Blick meiner Mutter werde ich wohl nie
vergessen. Besonders als sie nach dem Aussteigen die beiden mehrere Zentimeter langen Kratzer im Lack erblickte.
Sie wirkte ein wenig blass um die Nase, als sie mich
ansah. »Ich ... ich glaube, er hat mich verstanden ...«
Sultan und ich nickten synchron.
Meine Mutter und ich gingen ins Haus, nachdem wir
Sultan zu Sunshine auf die Weide gebracht hatten. Er sagte noch was von einem Gespräch zwischen Mutter und Tochter und dass er nicht stören wollte. Ich konnte ihn mir beim besten Willen auch nicht mit uns zusammen am Küchentisch vorstellen.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Mama sprach zuerst. »Deinem Vater sagen wir besser
nichts davon. Ich glaube nicht, dass er es verstehen würde.«
Ich stimmte ihr zu. Papa war ein richtig bodenständiger
Mensch. Sprechende Pferde gingen mit Sicherheit über
seine Vorstellungskraft hinaus.
»Und den Wagen muss ich wohl in die Werkstatt bringen«, fuhr sie fort.
»Ja, sonst denkt Papa noch, jemand hätte den Lack mit
einem Schlüssel zerkratzt«, befürchtete ich. »Und dann
wird er wissen wollen, wo es passiert ist und wer das getan haben könnte.«
»Oh Gott, was sag ich in der Werkstatt, wenn sie fragen?« Mama sah mich unsicher an.
»Sag doch einfach, dass wir im Serengeti Park waren.«
Sie lachte. So langsam gewöhnte sie sich an die Situation.
»Okay«, sagte sie. »Jetzt will ich aber endlich den Witz hören.«
»Na gut. Also: Kommt ein Cowboy aus dem Friseursalon
– Pony weg.«

Impressum

Texte: Susannahknopp alias Emma Nentwig
Bildmaterialien: F. W. Oehlers
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2012

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