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streitkultur ist Kultur!


die streitkultur erfordert eine absolut gemeinsame basis von intellekt, vertrauen und innerer selbstsicherheit, die den tödlichen stoß immer ausschließt.
sie erfordert die gleichheit an stärke, mentaler und verbaler, eine gleichartige erziehung, übung und lust an ihr. sie weiß auch von der kunst, im richtigen moment still zu halten. auszuhalten.

wo eines davon nicht gegeben ist, muss sie scheitern.

dann ist die kritisierte seele, statt des kritisierten verstandes zutiefst verletzt, hält die gegenseitigkeit an augenmaß und gewichtung nicht mehr ein, verwechselt argument und person, schießt über das ziel: wort hinaus: auf die person, verletzt ihrerseits tiefer und so beginnt die spirale nach unten, die außenstehende an kindergarten, die betroffenen an existenzielle vernichtung erinnert.
da stehen sich dann nicht mehr zwei betroffene en garde gegenüber, sondern es werden seilschaften gesucht und gefunden, die an zwei armeen im krieg erinnern. es geht dann auch längst nicht mehr um die sache, den anlass, sondern um sieg oder tod.

das kann es nicht sein. Kultur ist Leben, nicht um der harmonie willen, sondern um der blühenden vielfalt, des aneinander emporrankens, des miteinander wachsens, des lustvollen wortspiels und -gefechts willen, wo manche vorgaben einfach zu gut sind, um sie unwidersprochen hinzunehmen, manche fehler so dumm, dass sie einfach einen zu guten joke abgeben, um ihn liegenzulassen.

im vertrauen auf die intellektuelle übereinstimmung mit dem anderen, wäre einem dritten diese vorgabe, dieser fehler passiert, er hätte herzlich dazu gelacht und im noch größeren vertrauen darauf, er würde auch jetzt dazu herzlich lachen, wo er selbst betroffen ist.

und nicht nur ein herzliches lachen kann dem konflikt entgegnen. Nein! die überraschende Wende, die volte, das angreifende argument auf die schippe zu nehmen und damit seinerseits dem angreifer lust zu bereiten, einfach auf die seite zu treten und das argument vorbeilaufen zu lassen, es aufzunehmen und die spitze um 180 grad zu drehen und sie dem angreifer zurückzugeben, den vermeintlichen angriff in ein kompliment zu münzen, in eigenwerbung, am besten dabei den angreifer noch mitzuerhöhen.

und sehr sehr oft die überraschende erkenntnis und einsicht, der angreifer hatte schlicht recht.
und daraus einen strauß zu binden.

und die noch öftere und lustvollste variante: er hatte ein bisschen recht, aber nicht ganz: gegenangriff, attacke!

das alles sind die wirklichen kunststückchen, der kultivierte streit, echte streitkultur, aus der in einer spirale nach oben letztendlich alle weiterkommen, alle profitieren von der gemeinsam gefundenen synthese. oder dem gemeinsam gefundenen agreement to disagree.

die streitkultur lebt davon, bei allem wirbel, den sie gerne und lustvoll macht, also nicht nur vom vertrauen auf die nicht-tötung, sondern auch zu einem sehr großen teil von ihrer ganz stillen seite: dem langsamen nachdenken darüber, wieviel körnchen wahrheit in jedem argument stecken (und das tun sie fast immer, diese körnchen), dem sich gerne blamieren, wenn es zugunsten der sache richtig ist, dem verzicht auf sinnloses nachtarocken nur um die eigene, vielleicht falsche, meinung auf jeden fall zu retten, koste es, was es wolle.

sie lebt zu einem außerordentlich großen grade davon, sich in den kopf des vermeintlichen gegners hineinzuversetzen wie bei einem schachspiel.

vor allem aber lebt sie von der gemeinsamen lust am wort, am argument. der lust auch an der reziprozität: auge um auge, zahn um zahn: das waren vorschriften zur Begrenzung beleidigter rachegelüste, die für einen splitter gleich ein ganzes leben auslöschen wollten.
man muss durch übung ein gespür für die gewichtung der argumente bekommen, für das nicht zu wenig und das nicht zu viel des entgegnens.

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Tag der Veröffentlichung: 08.03.2009

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