Cover


Ich schaute ihn an . Ihn, und niemand anderen. Wer auch ist um diese Zeit unterwegs? Ich fühlte mich zu ihm hingezogen, als wäre ich ein Teil von ihm. Seine weißen, wunderschönen Strahlen, die sachte und leise Licht in die Dunkelheit brachten, fielen auf mich und erkundeten jeden einzelnen Schatten meiner schlanken und etwas zierlichen Figur. Sie blendeten mich. Vor Schönheit, vor Wissen über Dinge, von denen wir vielleicht nie etwas erfahren werden - nur ER - und vor Macht. Diese Stärke, die niemanden besiegen könnte, er würde nie untergehen, da war ich mir sicher . Trotz der blendenden Strahlen starrte ich auf ihn, durch die durchsichtigen Strahlen hindurch. Als wäre ich hypnotisiert. Noch immer schaute ich ihn an, ich weiß nicht wie lange , es schien eine kleine Ewigkeit vergangen zu sein, aber ob es stimmte, wusste ich nicht, und es war mir auch egal . Ich wollte nur noch hier sein, hier bei ihm, wo ich all´ meine Probleme und den ganzen Schulstress vergaß , wo ich träumen konnte, ohne dass mich jemand stören könnte, und wo ich hoffen konnte, auf Glück und vieles mehr. Ich konnte ihm alles erzählen er hört mir zu, zwar antwortet er mir nie, aber er verstand mich, das spürte ich. Wenn man genauer hinsah, sieht man graue, fast schon schwarze Flächen auf ihm, wie große Flecken. Diese weißen Punkte, die auf diesen grau-schwarzen Flächen verteilt sind, sehen aus wie Glitzer, den man auf ihm verteilt hat. Wie eine Art durchsichtiges, glitzerndes Kleid.

Leichter Wind hauchte mir in den Nacken und ich fragte mich still, ob es bald anfängt zu stürmen, doch auch das war mir im Moment egal . Während ich da stand und ihn immer noch anschaute, merkte ich nicht, wie die Zeit verging und sich Wolken sachte dem Mond näherten.

Es dauerte nicht lange, vielleicht ein paar Minuten, und er verschwand hinter ihnen .

Eisige Dunkelheit umgab mich. Er ist fort. Noch immer starrte ich auf den Fleck, wo er zuletzt am Himmel stand. ER. Mein Mond.




Blutiger Halbmond


In Gedanken versunken lief ich langsam und ruhig den langen und etwas schmalen Feldweg entlang und schaute verträumt der kleinen Amsel zu, die geräuschlos in der Abenddämmerung am Himmel flog. Es ist Sonntag Abends. Links neben mir blickte ich auf ein riesengroßes Weizenfeld, das endlos zu sein schien und rechts neben mir auf eine wunderschöne Wiese voller Gänseblümchen.

Als kleines Kind habe ich mir aus den Gänseblümchen immer Ketten gebastelt. In der Ferne kann man eine einsame alten Schaukel sehen, die an einer betagten Trauerweide hing und leicht vom Wind hin und her geschaukelt wurde. Die Trauerweide sah so aus, als ob sie jeden Moment zusammenbrechen könnte, aber in Wahrheit ist sie noch stark und kräftig. Eine Trauerweide kann bis zu zweihundert Jahre alt werden. Wie alt sie wohl sein mag, und was sie schon erlebt hat, wüsste ich sehr gerne. So weit ich wusste, kommt hier nie jemand her außer mir. In meiner rechten Hand hielt ich meinen Block zusammengerollt fest umklammert. In der anderen Hand hielt ich meinen Füller, der sich in meiner Hand etwas groß anfühlte, ich habe nämlich kleine Hände. Eigentlich bin ich für meine gute vierzehn Jahre etwas kleiner als normale vierzehnjährige, aber das ist mir egal. Zielstrebig lief ich vom Feldweg ab auf die Gänseblümchen-Wiese, gerade aus auf die Schaukel zu und machte mir schon mal Gedanken, was in meinem Aufsatz, in meiner kleinen Geschichte, vorkommen soll. Bis morgen sollte ich meine kleine Geschichte haben, doch Ideen hatte ich immer noch keine. Tagelang hab ich den Aufsatz vor mich her geschoben, in der Hoffnung, mir würde etwas tolles einfallen, doch ohne Glück. Frau Fuchs, meine total verrückte Deutschlehrerin meinte, man dürfte keine Ähnlichkeit mit der Hauptrolle in der Geschichte haben oder mit irgendeiner Rolle, was ich ziemlich sinnlos fand. Woher soll sie eigentlich wissen, wie wir sind? Sie kennt uns schließlich nicht, vielleicht unsere Telefonnummer, unsere Adresse und solche Sachen, aber daraus kann man nicht erkennen, wie ein Mensch selbst ist. Oder ist sie eine Außerirdische, die die Seelen anderer lesen kann und somit weiß, wie man ist? Der Gedanke daran ließ mich kurz auflachen, denn man könnte es glauben, so wie sie aussieht und manchmal spricht... Frau Fuchs ist sehr knochig, was überhaupt nicht schön ist, nichts ist an dieser Frau schön. An ihrem Kopf kräuseln sich schwarze, verfilzte Locken, die sogar leicht von ihrem Kopf abstehen. Sie hat viel zu kleine Augen und eine Hexen-Nase (weshalb sie die meisten auch ´Hexe´ nennen) und immer ausgetrocknete Lippen.

Frau Fuchs ist ziemlich klein, und sie spricht immer total altmodisch, wie zum Beispiel ihr Lieblingszitat: „Gib deinen Stand nicht höher aus, als er ist. Du kannst sonst leicht entdeckt und anderen zum Gelächter werden.“

Ich weiß bist heute nicht, was das heißt, aber sie hat es so oft wiederholt, dass es mir schließlich im Kopf blieb.


Endlich kam ich an der Trauerweide an und ließ mich auf die Schaukel fallen, die aus altem Holzbrett und zwei langen Seilen bestand. Mein Blick wanderte wieder, wie jedes mal wenn ich hier bin, an einen bestimmten Fleck an der Trauerweide. Dieser bestimmte Fleck befindet sich am Stamm der Trauerweide, oberhalb ihrer großen, alten Wurzel, also ganz nah am Boden, so als ob jemand versucht hätte, ihn zu verstecken und zu beschützen . Ich schaute das perfekt eingeritzte Herz an, dieser Jemand, der das eingeritzt hat, hat sich echt total viel Mühe gegeben, das sieht man . „ J + L FIV “ stand innerhalb des geritzten Herzens, die Buchstaben in altmodischer Schrift, weshalb ich auch vermutete, dass es in früherer Zeit entstanden sein muss. Jedes mal wenn ich hier bin, an meinem Lieblingsort, an dem ich echt sehr oft bin, bewundere ich dieses kleine Gemälde, das so sorgfältig eingeritzt wurde und auch so gepflegt aussieht. Jedes mal frag ich mich, welches Liebespaar damit verbunden sein mag. Sehr gerne wüsste ich, welche Namen sich hinter den Buchstaben J und L verbergen und für was FIV steht. Aber ich werde es höchstwahrscheinlich nie erfahren. Wenn ich einmal meine große Liebe gefunden habe … dann würde ich auch so ein Herz einritzen. Vielleicht auch an dieser Trauerweide.

„ J + L … FIV ...“ , flüsterte ich leise vor mich hin und betonte dabei jeden einzelnen Buchstaben.

Mein Block lag jetzt aufgerollt auf meinem Schoß und den Füller hielt ich geöffnet in meiner rechten Hand. Früher hab ich mir ab und zu Geschichten zu dem Herz ausgedacht … eine besondere ging mir grade eben wieder durch den Kopf. Dem geheimnisvollem J gab ich den Namen Janosch und dem L den Namen Luise. Für FIV dachte ich mir, dass es ihre Geheimsprache wäre oder eine Abkürzung . Die Geschichte, die Liebesgeschichte, spielte sich im zweiten Weltkrieg ab. Janosch wäre ein Jude und Luise hätte keine Religion. Da Juden verfolgt wurden, musste sich der sechzehnjährige Janosch verstecken und konnte seine fünfzehnjährige große Liebe Luise kaum noch sehen. Sie vereinbarten ein Ort, und dieser ist hier mein Lieblingsort, wo sie sich immer heimlich trafen . Janosch ritzte eines Tages dieses Herz in den Stamm und sagte zu seiner Liebsten: „ Was auch immer geschieht oder kommen mag, ich liebe dich, vergiss das nie! Dieses Herz soll für uns stehen ...“ Für das Herz hatte er sich sehr viel Mühe gegeben, was man ja auch sehen kann. Am nächsten Morgen sollten sie sich wieder treffen, da sie sich jeden Morgen trafen, doch als Luise dort war und ein kleine Ewigkeit wartete, wurde ihr bewusst, dass ihrem Freund etwas Schlimmes passiert sein musste, da er nicht kam . Als sie dann noch durch Zufall hörte, dass ihr Liebster von einem Soldaten vergiftet worden sein sollte, beging sie Selbstmord. Sie nahm ebenfalls Gift, da sie genau so sterben wollte wir ihr Liebster. Genau an dieser Trauerweide. Ich war so von der Geschichte fasziniert, dass ich beschloss, sie als meine kleine Geschichte zu nehmen und fing ich an zu schreiben. Mit sehr viel Gefühl und voller Stolz schrieb ich sie auf, meine Geschichte. Frau Fuchs würde zwar nicht begeistert sein, dass ich ihr so eine Geschichte bringen würde, aber das war mir echt egal.

Am Ende las ich meinen zweiseitigen Aufsatz nochmal einmal durch und korrigierte meine Rechtschreibfehler. ´Meine kleine Geschichte ist echt gut geworden´, dachte ich stolz. Die Buchstaben FIV erwähnte ich jedoch nicht. Möglich, dass sich solch eine ähnliche Geschichte früher auch abgespielt hat, hier an meinem Ort. Mein langes schwarzes, glattes Haar flog mir plötzlich ins Gesicht. „Es zieht ein Gewitter auf“, flüsterte ich kaum hörbar und hörte schon leises Donnern über mir. Mein Blick wanderte zum Himmel, wo sich schon sehr dunkle Wolken gebildet hatten. Dann spürte ich einen kleinen Tropfen auf meiner Nase. Schnell rollte ich meinen Block zusammen, nahm ihn wieder in die rechte Hand und den Füller in die linke. Es fing an zu nieseln, und ich rannte quer über die Wiese auf den Feldweg zu. Ich fluchte leise innerlich, dass ich mir eine Röhrenjeans angezogen hatte, da sie jetzt beim Rennen sehr störte. Röhrenjeans sehen zwar gut aus, aber sie sind echt bescheuert zum rennen. Es fing stärker und kräftiger an zu regnen und ich bemerkte, wie meine Klamotten nass wurden. Am Feldweg angekommen blieb ich kurz stehen und holte tief Luft. Ich gönnte mir eine klitzekleine Pause. Nach dieser startete ich wieder und rannte den langen Feldweg entlang. Erst jetzt bemerkte ich, dass es auch schon sehr dunkel geworden war. Man konnte nur noch meine schnellen Schritte hören, ansonsten herrschte unheimliche Stille. Ehrlich gesagt habe ich in der Dunkelheit echt Angst, besonders draußen, wo es dann so still ist und Felder um dich herum sind und du nie weißt, was dich erwartet. Ich beschleunigte noch etwas meinen Lauf. Es dauerte nicht lange, und ich kam total durchnässt in meinem kleinen Dorf an. „Ickel“, las ich auf dem gelben großen Schild, das an dem allerersten Haus stand und jeden Besucher begrüßte. Jedes mal, wenn ich es sah oder den Namen meines Dorfes hörte, fragte ich mich, wie jemand auf den Namen „Ickel“ kam . Anscheinend hatte der Erfinder nicht viel Fantasie und einen sehr schlechten und seltsamen Geschmack. Mein quer liegender nasser Pony hing über meiner ganzen linken Gesichtshälfte. Er klebte förmlich an mir. Apropos ´kleben´, meine ganzen Klamotten klebten an mir und saugten sich an mir fest, als ob ich ihnen Schutz geben würde. Eigentlich sollte es ja umgekehrt sein, sie sollten mir Schutz geben und nicht ich ihnen. Seufzend stand ich endlich vor meinem Haus, wo meine Mam schon mit einem grün leuchtenden Handtuch in der Hand an der Haustür stand und mich erwartete. Anscheinend hatte sie mich kommen sehen. „Schuhe ausziehen, Mia, und bemühe dich mal nicht so spät zu kommen, es ist schon acht Uhr!“, sagte sie streng zu mir und legt mir das Handtuch über die Schultern . Meine Mam hasst es, wenn man mit nassen Schuhen in der Wohnung herum tappst. Und dann kam ich noch zu spät, was sie auch nicht sehr mag, da sie sehr viel Wert auf Pünktlichkeit legt. Schnell schlüpfte ich aus meinen Schuhen und ließ sie vor der Haustür liegen, wo sie von unserem Dach ein wenig Schutz bekamen. “Wo um Himmels Willen warst du die ganze Zeit, und was hast du gemacht?“, meine Mutter stand jetzt vor mir und guckte mich etwas wütend und neugierig an. „Ich war an der Trauerweide und hab meinen Aufsatz geschrieben.“ Als Beweis hielt ich meinen Block und meinen Füller kurz hoch. „Und dabei hab ich die Zeit total aus den Augen verloren.“ Das stimmte, jetzt, wo ich drüber nachdachte, habe ich für meinen Aufsatz länger gebraucht als ich vermutet habe. Gerade als ich gedacht habe, dass meine Mam mich gehen ließe, wurde sie plötzlich wieder wütend und schimpfte: „Du warst an der Trauerweide? Um diese Uhrzeit? Weißt du eigentlich, was einem Mädchen an so einem Ort alles passieren kann … !?“ Gerade als sie kurz vor einem weiteren Wutausbruch war, murmelte ich: “Ich muss auf´s Klo“ und sprang schnell die weiße Wendeltreppe hinauf, die ich so sehr liebe. Es war zwar keine besonders gute Ausrede, aber es war wenigstens eine. Ich lief durch den kleinen Flur, geradeaus und durch die offene Tür meines Schlafzimmers. Dort angekommen schloss ich erstmals die Tür und ließ ich mich auf mein Bett fallen . Atmete tief ein und aus. Meine kräftig lila gestrichenen Wände empfangen jeden, der hier reinkommt, sehr freundlich. Sie geben dem Raum etwas … sehr Gemütliches. Gähnend streckte ich meinen Arm, an dem mein nasser Pullover klebte, zum Nachttisch, auf dem mein Radio steht und nur so drauf wartete, angeknipst zu werden . ´Gerne doch´, lachte ich bei dem Gedanken und schaltete ihn ein. Es lief grade ein Lied von Lady Gaga, welches es genau war, war ich mir nicht sicher, aber das ist ja auch egal. Während ich meine Haare mit dem grünen Handtuch trocken rubbelte, tanzte ich leicht zur Musik im Zimmer hin und her. “So … jetzt nur noch ein trockener , warmer, kuscheliger...“, ich schaute verträumt zu meinem Kleiderschrank und lief langsam auf ihn zu „ ...Pyjama !“ Sehnsüchtig nach etwas Trockenem öffnete ich die Tür meines Kleiderschrankes. Ich habe genau zwei Pyjamas, einen mit dem Bild der Simpsons und einen alten, aber süßen Elfen-Pyjama. Ich entschied mich für den gelben Simpsons-Pyjama. Als ich ihn angezogen hatte, ging ich leise summend zu meinem Schreibtisch, schnappte mir meine Haarbürste und lief zu meinem großen Spiegel, an den ich ein paar Fotos geklebt habe. Dann fing ich an meine Haare zu kämmen. Jetzt läuft ein Lied von Rihanna, ich tippe, es ist „Love the way you lie“. Als ich meinen quer liegenden, leicht getrockneten Pony nach hinten kämme, durchzuckt mich an der linken Schläfe ein furchtbarer Schmerz. Am liebsten hätte ich geschrien, doch ich hielt mich noch zurück. Innerlich habe ich geschrien, und wie! Ich fasste mir an die Stelle, wo der Schmerz herkam und fühlte etwas warmes Flüssiges. „Blut...?“, fragte ich mich im Stillen und sah den Beweis dann schließlich an meinem Finger. Erschrocken starrte ich in den Spiegel und sah es. Nur ein Kratzer...?! Nein, Kratzer kann man es nicht nennen, aber ein anderes Wort dafür fällt mir nicht ein, also sagen wir ´Kratzer´. Der an meiner linken Schläfe beginnt und ein Stück neben dem Ohr aufhört. Es ist nicht gerade ein gewöhnlicher Kratzer, sondern... ein Halbkreis, ja genau. Er sah aus wie ein Halbmond. Aber das erschreckende an ihm ist, dass er so … so sorgfältig gestaltet ist und so gepflegt aussieht. Als ob ihn jemand mit einem Messer in mein Gesicht eingeritzt und die Wunde anschließend mit einem Kuss verwöhnt hat. Dieser Jemand hat sich sehr viel Mühe gegeben, dass er so schön rund wurde. Sehr viel Mühe... Ich stieß einen schrillen Schrei aus, der durch mein Zimmer hallte und dann erstickte. „Mia …? Alles in Ordnung !?“ , hörte ich die panische Stimme meiner Mutter plötzlich, die sich durch die vielen Wände hindurch gedämpft anhörte. Meiner Mam wollte ich von dem Allem nichts erzählen, sie hatte sowieso schon genug Probleme. Und das... das ist auch nur ein Kratzer, um ehrlich zu sein. Wenn gleich auch ein Angst einflößender. Als ich zitternd meine Zimmertür öffnete, rief ich: „Alles in Ordnung Mam, hab nur... eine Spinne gesehen !“

Meine geheimnisvolle Wunde ist mit so viel Mühe gemacht worden, wie das kleine Gemälde an der Trauerweide. Genau so gepflegt... Mich schüttelte der Gedanke, dass diese Wunde etwas mit dem geheimnisvollen Herz zu tun haben könnte. Zögernd ging ich näher an den Spiegel ran. Erst jetzt bemerkte ich das getrocknete Blut an meiner Schläfe. Ich habe mir den Kratzer aus Versehen mit der Haarbürste aufgerissen, und dass es blutete, hatte ich wegen dem Schock total vergessen. Langsam und ruhig verließ ich das Zimmer und ging ins Bad, um die Wunde zu säubern. Dort stand ich dann wieder vor einem Spiegel, aber diesmal schien der Kratzer viel kleiner zu sein. „Woher kommst duuu...?!“, flüsterte ich, während ich die Wunde im Spiegel anstarre, „und von wem ??“ Von mir etwa ? Bin ich vielleicht irgendwo gestürzt...? Aber ich kann mich nicht daran erinnern. „Beruhig´ dich Mia, das ist nur ein Kratzer, kein Grund sich aufzuregen. Das heilt ab...“ Ich versuchte mich zu beruhigen, was ich dann schließlich auch schaffte. Im nach hinein fand ich mich auch ziemlich dämlich, weshalb ich so eine Szene wegen eines Kratzers gemacht hab. Ich nahm ein Stück Klopapier, machte es nass und tupfte das getrocknete Blut ab. Es tat überhaupt nicht weh, wie ich befürchtet hatte, es tat sogar gut. Plötzlich hörte ich es klingeln. „Mia geh du mal an die Tür, ich kann gerade nicht“, hörte ich es unten rufen. Ich rannte aus dem Bad, die Wendeltreppe runter und dann zu unserer Haustür, dabei stolperte ich beinahe, weil der Boden an einer bestimmten Stelle nass war. Weshalb wusste ich nicht. Als ich die Tür öffnete, kam mir meine kleine Schwester entgegen gerannt und wir fielen beide zu Boden. „ Pass doch mal auf Chrissy!“, stöhnte ich und rieb mir mit meiner Hand meinen Hinterkopf, mit dem ich auf den Boden geknallt bin. Chrissy, meine kleine zehnjährige Schwester, die schon wieder auf den Füßen steht murmelte ein leises `tschuldigung´ und verschwand in der Küche. Mein Dad, der vor mir stand, reichte mir behilflich die Hand. Ich nahm sie und richtete mich auf. „Weshalb ist Chrissy denn so aus dem Häuschen ?!“, fragte ich ihn. Es ist ja nicht so, dass Chrissy mich jeden Tag umrennt. Bevor mein Dad etwas sagen konnte, kam Chrissy wieder zu uns gestürmt und kreischte: „ Ich hab die Hauptrolle in Rotkäppchen bekommen, ist das nicht toll ?!!“ Oh mein Gott … das wird was werden. Sie wird uns jetzt jeden Abend ein Stück vorspielen und tausendmal fragen, ob es so richtig ist. Das hat sie nämlich auch gemacht, als sie für das Vorsprechen geübt hat. „Gnade uns Gott!“, betete ich in Gedanken und schaute kurz an die Decke. Aber ganz ehrlich, sie ist für die Rolle wie gemacht, allein schon ihr Aussehen. Sie sieht für ein Rotkäppchen echt gut aus mit ihrem lockigem dunkelbraunen Haar, das ihr bis zu Brust geht, ihren dunkelbraunen Augen und dieses unschuldige Lächeln. Aber ihr Charakter... das ist das glatte Gegenteil von Rotkäppchen. „Toll für dich ...“, sagte ich brummend. Es nervt mich nämlich, dass meine Schwester echt immer alles schafft und bekommt. „Ach komm Mia“, meine Schwester setzte ihr unschuldiges Lächeln auf, „vielleicht kriegst du ja die Rolle für den Wolf; du siehst ihm schließlich auch schon ein wenig ähnli...“ Bevor sie den Satz beenden konnte, stürzte ich mich auf sie, die in diesem Moment einen schrillen Schrei ausstieß. Bevor ich sie aber nur berühren konnte, stellte sich mein Vater zwischen uns und fing mich ab: „Mia nein ! Das kann man auch anders regeln!“ Ich seufzte. Immer kommt er mit dem Spruch: „Das kann man auch anders regeln.“ Und natürlich nahm er das kleine unschuldige Mädchen, das mir gerade hinter seinem Rücken die Zunge raus streckt, in Schutz. Da fiel mir etwas ein. „Christina, hattest du gerade nicht einen Arzttermin... Hast du jetzt Flatulenz ?“ Sie erstarrte. Jetzt hab ich ihre Schwachstelle getroffen, sie hasst es nämlich, Christina genannt zu werden, weil es sich in ihren Ohren zu streberhaft anhört, und sie hasst es, über ihre Probleme zu reden. Besonders über diese stinkenden... denn Flatulenz ist lateinisch und heißt Blähungen. Früher hat sie immer mit ihrem Latein angegeben deswegen ärgere ich sie ab und zu damit.“ Maaaaaaaaaaaaaaami, das ist soo fies von Mia“, Chrissy setzte ihre Schnute auf und ging trotzend in die Küche zu Mam. Mein Dad grinste mich an, was ich etwas erstaunlich fand, aber ich grinste zurück. Plötzlich wurde ich total müde und beschloss, das Abendessen sausen zu lassen, um früher schlafen zu gehen. Das sagte ich kurz meinen Eltern, die damit einverstanden waren, und kurz darauf war ich in meinem Zimmer und fand mich in meinem schönen, warmen Bett wieder.

Draußen war es jetzt schon ganz dunkel und nur das kleine schwache Licht meiner kleinen Nachtlampe, die auf meinem Nachttisch direkt neben dem Radio steht, erhellte den Raum. Seltsamer Tag heute... Wie wäre es mal, eine ganze Nacht ordentlich durchzuschlafen und alles zu vergessen. Morgen dann einen Neustart machen. Wäre echt schön. Wie wohl meine beste Freundin Alex auf diese kleine Geschichte mit meiner Nabe und dem Gemälde reagieren wird? So wie ich sie kenne wird sie ein Drama draus machen, typisch für sie eben.

Alex ist ein echt tolles Mädchen, und sie ist auch echt total hübsch, das muss man ihr lassen. Sie hat ebenfalls langes, glattes Haar, aber ihres ist schön dunkelblond. Jungs stehen ja total auf Blondinen, weshalb sie auch total viele Freunde hatte. Aber die meisten hatten es nie ehrlich gemeint mit ihr, sie wurde so oft enttäuscht und ausgenutzt, sie tut mir total leid. Ihre Augen sind dunkelblau, genau wie meine. Sie meint, das wäre Schicksal, ich meinte, das wäre nur Zufall. Wir können manchmal echt unterschiedliche Meinungen haben. Ihre Nase und ihr Mund sind perfekt geschnitten für ihr Gesicht, als ob man es extra für sie hergestellt hätte. Komischerweise habe ich grade eben das einzigste mal am ganzen Tag über sie nachgedacht . Ich schaltete mein Nachtlicht aus und schaute aus dem Fenster. Mein Blick wanderte zum Vollmond, der prächtig am Himmel stand und der Dunkelheit Licht gab. Genau in dem Moment, als ich den Mond anschaute, kamen mir plötzlich Bilder vor die Augen. Sie zeigten auch den Mond, aber da war er noch nicht ganz ein Vollmond. Es waren anfangs wunderschöne und ruhige Bilder von ihm, doch dann sah ich plötzlich einen Schatten. Meinen eigenen oder war da jemand anderes? Ich konnte es nicht erkennen. Doch dieser Schatten hatte ein kleines Taschenmesser, was man deutlich erkennen konnte, und dann kam nochmal ein Bild von dem eingeritzten Herz und dann eines meiner Narbe. Die Bilder verschwanden so schnell wie sie kamen. „Was war das???“, fragte ich mich still und bemerkte, dass ich eine Gänsehaut hatte. So etwas kam in Filmen vor aber nicht in der Wirklichkeit. Wie nannten sie es... Visionen ? Doch Visionen sind eigentlich Ereignisse... die erst geschehen werden. Die kleine Narbe, könnte sie von dem Taschenmesser sein das ich gesehen hatte ? Ein Taschenmesser... meine Narbe. Diese Bilder sind Teil einer Geschichte, die von mir handelt, aber ich selbst überhaupt keine Ahnung davon hatte. Ich bin nur Zuschauer, wurde mir plötzlich klar. Diese „Vision“ passierte, als ich den Mond angeguckt habe. Ich riskierte noch ganz kurz einen Blick auf ihn. Doch es kam nichts mehr. Plötzlich war ich total müde, und im nächsten Moment wurde alles schwarz.


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Tag der Veröffentlichung: 12.11.2011

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